Chaos-Logik

–aufgrund rechtlicher Grundlagen darf ich leider keine Bilder anzeigen lassen. Bei Interesse freue ich mich über eine Email von Ihnen—

Chaos-Logik

– christlichen Glauben verstehen –

Ursache und Wirkung

von Josef Eisend, Dipl. Theologe und Dipl. Sozialarbeiter

Stand: 1.1.12

Chaos scheint die Herrschaft übernommen zu haben. Das biblische ‚Tohuwabohu’ (Gen 1,2) kehrt als Gegenteil von „wüst und leer“ zurück. Komplexität und Vielheit bestimmen unser Leben. Doch unsere Zukunft braucht ein Bewusstsein und ein Denken, das damit umzugehen vermag in den Widersprüchen des Alltags. Denn Ver-rücktheiten, Widersprüche und bisweilen Chaos kennzeichnen zunehmend persönliches wie gesellschaftliches Leben. Widersprüche verändern Menschen und menschliches Leben durch Trennung bis hin zur Vernichtung, oder durch Ergänzung bis hin zur Verschmelzung. Diesem Anliegen will diese Arbeit nachkommen. Der Autor stellt sich der Frage nach Ursache und Geheimnis von Widerspruch. Christlicher Glaube und Christentum bieten sich ihm dabei als eine Erklärung und Lösung an. Durch die Verschmelzung von biblischer Hochreligion und hellenistischer Hochkultur kam es einst in Jesus Christus zum „existentiellen“ Widerspruch im menschlichen Bewusstsein. Dem nachzugehen und es zu verstehen ist des Autors Anliegen. Auf den Spuren von Pierre Teilhard de Chardin und seiner Annahme einer höheren Entwicklungsstufe „Omega“, zielt er ein Bewusstsein mittels komplementärer Denkweise an, die den „Widerspruch“ als Axiom zugrunde legt und dadurch der dialektischen Entwicklung des Christentums genauso gerecht werden will wie ihrer Auswirkung und Bedeutung heute. Dass dabei auch das Chaosprinzip mit seinen Überlegungen zur Chaosphysik und Chaoslogik eine zeitgemäße Antwort geben kann, wird in vorausgehenden Überlegungen (Kapitel 5) versucht.

Die Arbeit gleicht teilweise einer Erzählung. Essaygemäß wird einem Verstehen entsprochen, bei dem sich „Glauben“ und „Wissen“ gegenseitig ergänzen. Galt bis ins Mittelalter der Glaube als die denkerische Methode, Wirklichkeit zu erfassen und zu verstehen, nahmen in der Neuzeit Wissen und Wissenschaft diesen Platz ein. Künftig wird es ein Bewusstsein sein, das mittels beider Methoden die Wirklichkeit erfasst, versteht und gestaltet. Demgemäß liegt menschlichem Bewusstsein und Weltvernunft eine gespaltene Wirklichkeit zugrunde d.h. ich versuche mich zugleich in zwei Parallelwelten zu bewegen, deren eine sich durch Glauben (mittels Theologie) und die andere durch Wissen (mittels Philosophie) erfassen und verstehen lässt. Solcher Weltvernunft entsprechen christliche Wahrheitssuche und praktischer Lebensalltag, dem Dialektik zu eigen und ein permanentes komplementäres Zuordnen selbstverständlich ist.

Bildfolge und Inhalt

Bild 1 Titel, These, Vorwort

Bild 2 Osterlicht – Hungertuch 2009

Bild 3 Texte aus der Bibel

Bild 4 Regenbogen

Bild 5 Chaosprinzip – Chaos-Physik und Chaos-Logik

Bild 6 Ziel des Beitrags

Bild 7 Inhaltsangabe

Bild 8 Menschenbild ‚hebräisch’

Bild 9 Menschenbild ‚griechisch’

Bild 10 Weltsicht – Wirklichkeit, Wirklichkeitserfassung bei Hebräern und Griechen

Bild 11 Hebräer: Mensch mit Herz im ‚Zwischen’

Bild 12 Herz in biblischen Texten

Bild 13 Volk: Bundes-Verhältnis von Jahwe – Israel

Bild 14 Griechen: Mensch mit Geist im ‚Dasein’

Bild 15 Olymp – Götter-Wohnung

Bild 16 ‚Kinder des Olymp’

Bild 17 Kronos – Chronos – Saturn: Herr der Zeit

Bild 18 Griechen: Schule von Athen

Bild 19 Griechen: Platon und Aristoteles

Bild 20 RAUM-Kultur ‚griechisch’

Bild 21 Akropolis – Athen

Bild 22 Areopag – Athen

Bild 23 Olympia – Antike Kultstätte

Bild 24 Tunnel des Eupalinos

Bild 25 Tunnelblick

Bild 26 ‚Polis’ – griechische Stadt-Staaten

Bild 27 ZEIT-Kultur ‚hebräisch’

Bild 28 Zeit-Kultur als Schöpfung der Erde und Erschaffung des Menschen

Bild 29 Zeit-Kultur im Naturtakt der Schöpfung

Bild 30 in der Zeit-Kultur > Kulturereignis: Exodus

Bild 31 in der Zeit-Kultur > Kulturereignis: Gesetzgebung

Bild 32 in der Zeit-Kultur > Kulturereignis: Wasser aus dem Fels

Bild 33 in der Zeit-Kultur > Kulturereignis: Landnahme

Bild 34 Wirklichkeit ZEIT – RAUM Wirklichkeit

Bild 35 Bei den Hebräern: Gerechtigkeit

Bild 36 Bei den Griechen: Freiheit

Bild 37 Denkweisen der Hebräer und Griechen ergänzen sich komplementär

Bild 38 Vom Dialog zur Dialektik – Verschmelzung beider Denkweisen

Bild 39 Christliche Wirklichkeit: Wirklichkeits-„Kern-Fusion“

Bild 40 Wahrer Gott – Wahrer Mensch

Bild 41 Kern-Fusion in/durch Jesus Christus

Bild 42 Zeit-Beziehung > Raum-Beziehung; Raum-Einheit > Zeit-Einheit

Bild 43 Paulus, Zeuge und Apostel christlicher Identität

Bild 44 Petrus – Christus – Kirche

Bild 45 Irdische und himmlische Wirklichkeit

Bild 46 2000 Jahre Christentum

Bild 47 Ökumene in beiden Kirchen

Bild 48 ‚Konziliarer Prozess’ der Christlichen Kirchen

Bild 49 Menschenwürde

Bild 50 Vaterunser

Bild 51 Hungertuch 2009 aus Nigeria

Bild 52 Regenbogen – mehr als Wassertropfen vom Sonnenlicht durchstrahlt

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1 Titel und These

Diese These ist Kernaussage eines Gedankenentwurfs, der seine eigene Geschichte hat. Vor einem Jahr, als ich bei einem Nachbarn in meiner Strasse weilte, griff er nach einem Gespräch in das große Bücherregal seines Wohnzimmers und gab mir ein Buch mit dem Hinweis, das könnte mich interessieren und wird mir mehr sagen als ihm zur Zeit. Ich schlug „Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen“ von Thorleif Boman aus dem Jahre 1950 auf, und fand in dieser Quelle den Schlüssel zu einer Wirklichkeitssicht, die bisher beim vielfältigen Erlesen bedacht und beim Denken unterschiedlich vernetzt wurde. Durch Zufall oder Fügung eröffnete sich gleichsam jenes jedem Menschen innewohnende Geheimnis von ersehnter Offenheit und Begleitung im Vertrauen, was Augenblicke von Führung und für Deutung sein können. Zu lesen begann ich, und es entwickelte sich ein zunehmendes Verständnis einer Lebenswirklichkeit heute, meines Christ-Sein in dieser oftmals komplexen und paradoxalen Welt. Gott war dabei eine selbstverständliche gegenwärtige Wirklichkeit, die sich menschlicher Beziehung und Begleitung genauso wiederfand wie andrerseits Zahlen und Buchstaben, Errungenschaften menschlicher Entwicklung und Kultur zum Lebensalltag gehören.

Vorangestellte These will heran- und hineinführen in eine Sichtweise, mittels der heutige Lebens-Wirklichkeit erklärbar wird, unter Zuhilfenahme der Denkweise bei den alten Griechen und dem Volk der Bibel (siehe Inhaltsangabe: Bild 6/S.5). Entstammt erstere einer Hochkultur, ist für die Hebräer ein Denken maßgebend, bei dem ihr Gott Jahwe im alltäglichen Leben eine selbstverständliche Gegenwart und Gegebenheit ist. Dass aus beiden eine dialektische Denkweise erwuchs, die das christliche Abendland und europäische Bewusstsein prägte und prägt, soll der Hörer bzw. Leser aus beigefügtem Entwurf erfahren und verstehen können. So kann ihm einsichtig werden, dass Wissen und Glauben zwei sich ergänzende Größen und Weltsichten sind, die sich komplementär ergänzen. So mag selbstverständlich werden, Gott ist seine Ich-Du-Beziehung genauso ein Faktum wie menschliches Handeln in Zeit und Raum.

Die Sensibilität für diese Weltsicht wurde zum steten gedanklichen Begleiter, und das Suchen und Finden entsprechender Merkmale, Beispiele wie Texte und Forschungsergebnisse ergänzten sich stetig. Nach dem Wort kam das Bild, und all das, was geschrieben war, wurde prozessgleich mit entsprechenden bildhaften Zeugen der Vergangenheit versehen. Die technischen Errungenschaften des Internet waren dabei bereichernd wie segensreich. Dieser grobe Hinweis jetzt zu Beginn weist auf die genutzte Möglichkeit technischer und medialer Errungenschaften hin, die im Detail nachstehend wie im Anhang erwähnt werden. Der große Bildschatz von „www“ war so dienlich und hilfreich, sich der Quellen zu bedienen, um im Werte von Wissenschaftlichkeit und Wahrheit vorliegende Wirklichkeits-Sichtweise dem Leser und Betrachter zur Vertiefung und Vergewisserung liefern zu können.

Seit Anfang des Jahres werden mittels einer Power-Point-Präsentation diese Gedanken und Sichtweise weitergeben. Erstmals am 21. Januar 09 bei einer Bildungsveranstaltung im Haus vom Hospiz AGAPE zu Wiesloch und nun dankenswerter Weise auf diesem Weg über die Hompage des Katholischen Dekanats Wiesloch (www.kath-dekanat-wiesloch.de)

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Quelle: www.eine-welt-shop.de/silver.econtent/catalog/mvg/misereor/hungertuch_2009_gottes_sch_pfung_bewahren

2 Hungertuch 2009 – Osterlicht

Grund zur Hoffnung ist für uns Christen das Leben von der Auferstehung her. Passend zeichnet sich diese Perspektive auf dem diesjährigen Hungertuch inmitten des scheinbar irdischen Chaos ab; links ein Kind auf dem dahin treibenden Fass eines Ölstroms und rechts im schmutzigen Wolkenmeer einer industriebedingten lebensbedrohlichen Klimaänderung. Genauso wie wir in der Fastenzeit auf Jesu Tod und Auferstehung hin leben, soll uns das immerwährende ‚Osterlicht’ von Glaubens-Gewissheit und -Sicherheit über die ‚Durst- und Fastenstrecken des Lebens’ hinweg ein christliches Steh- und Gehvermögen vermitteln, das der Bedeutung und Würde des Glaubens an die Auferstehung entspricht. Wie die Osterkerze im Bild mit ihrer Strahlkraft menschliche Gesichter erleuchtet, sollen Menschen aller Kontinente sich versammeln, ungeachtet der Unterschiede, ob Europäerin, Lateinamerikaner, Asiate, Araber, Afrikanerin oder als afrikanischer Junge, einem Vertreter kommender Generationen. Alle in dieser Versammlung halten etwas in ihren Händen, das mit den sieben Schöpfungstagen korrespondiert, sei es eine Schale mit lebendigem Wasser, oder einer, in dem ein Kabeljau schwimmt, sei es der Getreidehalm, ein fast ausgestorbener tropischer Rotschnabeltoko, eine Öllampe als Symbol für Energieressourcen oder die rosa Blüten tragende afrikanische Teufelskralle, eine Pflanze, die zu medizinischen Zwecken gebraucht wird, oder sei es das Coburger Fuchsschaf, eine alte Rasse, die wieder nachgezüchtet wird. Sie alle halten zeichenhaft ihre Wirklichkeit an tierischer und pflanzlicher Schöpfung in der Hand und machen so deutlich, dass wir als Menschen mit unseren organischen Gaben Teil der Schöpfung sind, über deren Schicksal wir in und mit unserem Christ-Sein im Jetzt entscheiden. Denn Tatsache ist, der Mensch ist selbst Teil dieser Schöpfung und seine Verfügungsgewalt ist und bleibt begrenzt und begrenzt sich zusehends mehr durch einen ‚egoistischen’ Schöpfungs-Verbrauch, wie es sich in den jüngsten Krisen vom Weltklimagipfel zu Kopenhagen im Dez 2009 oder seit der Weltwirtschaftskrise ein Jahr zuvor zeigt.

Als Christen sind wir durch die Taufe ‚nicht von dieser Welt’ und zugleich eingebunden in diese irdische Wirklichkeit, wie es zugespitzt das Leiden und Sterben Jesu offenbart. Gleich ihm sind wir Teil von Gottes Schöpfung und wirken im Osterlicht des Auferstandenen der Hoffnung und Zuversicht zu, wo gesellschaftliche Entwicklungen in Gesellschaft und Welt Hoffnungslosigkeit und Vernichtung, Untergang und Tod ‚offenbaren’. Nehmen Christen ihren Auftrag zur Bewahrung und Gestaltung der Schöpfung ernst, kann dies zum Zeugnis für ein globales, verantwortliches Handeln werden im ökologischen und ökonomischen Bereich beim Einsatz für die Probleme dieser Erde, von der Gentechnik über die Atomkraft bis hin zum Klimaschutz. Dem Leben in unserer Gesellschaft sollte der christlicher Glaube dienen unter der Option von Gerechtigkeit und Freiheit, um im dialektischen Prozess dieser Erde den Frieden zu schenken. Es ist ein Frieden, der Armen, Schwachen, Benachteiligten und Nichtbeteiligten ihre Menschenwürde gewährleistet und diesen dazu verhilft. Kirchliche Glaubensgemeinschaft sollte daher solidarisch Partei für Gottes Schöpfung ergreifen, und im Kampf gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit sich mit den menschlichen Opfern solidarisieren, denen Gottes Gerechtigkeit und Frieden widerfahren soll. Das Osterlicht kann so leuchten und motivieren, und eine Haltung beseelen, die getragen ist vom Geist, der das Antlitz der Erde erneuern will.

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3 Texte aus der Bibel

Nach einer heilen Welt strebt unsere Sehnsucht. Uns Christen ist durch die Taufe Jesu Geist zum Auftrag geworden, als Gottes Geschöpfe Mitgestalter einer heileren Schöpfung zu sein. So ist der Botschaft der Heiligen Schrift Gottes Verheißung wie sein Reich zu entnehmen. Der Beziehung zu und Begegnung mit Gott erwächst dieser Auftrag, der tief ins Herz eingeprägt, jeden mit Gottes Geist zu erfassen und zu verstehen versucht. Wie beim ‚Osterlicht der Auferstehung’ mag jeder selbst deutend vor dem Buch der Bücher stehen, und kann sich Gottes Wirklichkeit in der Hoffnung seines praktizierten Auferstehungs-Glauben und mit der Liebe der Reich-Gottes-Botschaft Jesu aussetzen.

Durch Auferweckung und Auferstehung hat Gott uns, wie Paulus schreibt, zusammen mit Christus wieder lebendig gemacht: „Er hat uns mit Christus auferweckt und uns zusammen mit ihm einen Platz im Himmel gegeben“ (Eph 2,6), „Mit Christus wurdet ihr in der Taufe begraben, mit ihm auch auferweckt, durch den Glauben an die Kraft Gottes, der ihn von den Toten auferweckt hat“ (Kol 2,12), oder „Ihr seid mit Christus auferweckt, darum strebt nach dem, was im Himmel ist, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt“ (Kol 3,1).

Diese Leidenschaft des Glaubens soll der Mitarbeit beim Kommen von Gottes Reich dienen, und ist uns Auftrag und Sinngabe: Jesus Christus ist „nahe“, „mitten unter euch“. Jesus „verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe! Kehrt um, und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1, 14.15). „Man kann nicht sagen: Seht hier ist es, oder: Dort ist es! Denn: Das Reich Gottes ist (schon) mitten unter euch“ (Lk 17,21). Christlicher Glaube schließt die Gegenwart Gottes wie die stete Vergegenwärtigung dank der lebensbedingten Beziehung zwischen Gott und Mensch ein.

Im und durch den Glauben ist der Christ zum Leben mit Gott auferweckt. Gottes Willen zum Leben gilt es als Ebenbild Gottes zu entsprechen: „Gott schuf den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch, und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen“ (Gen 1,27f). Als Ebenbild Gottes und dem Menschensohn gleich soll der Christ in der Nachfolge Jesus Christus entsprechen. Christen sind daher in die Verantwortung des Erstgeborenen ‚versetzt’: „Gott, der die Herzen erforscht, weiß, was die Absicht des Geistes ist: Er (Erstgeborene) tritt so, wie Gott es will, für die Heiligen ein. Wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt, bei denen, die nach seinem ewigen Plan berufen sind; denn alle, die er im Voraus erkannt hat, hat er auch im Voraus dazu bestimmt; an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben, damit dieser der Erstgeborene von vielen Brüdern sei.“ (Röm 8,27-29) Dies geht einher mit der Zusage von Auserwählung und Zuordnung zu den Heiligen Gottes. Das Wort Gottes, „jenes Geheimnis, das seit ewigen Zeiten und Generationen verborgen war, jetzt wurde es seinen Heiligen offenbart“ (Kol 2,26). „Er hat euch (Gemeinde) fähig gemacht, Anteil zu haben am Los der Heiligen, die im Licht sind. Er hat uns der Macht der Finsternis entrissen und aufgenommen in das Reich seines geliebten Sohnes.“ (Kol 1,12.13)

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Quelle: Joe Voit, privat

4 Regenbogen

Im Zeichen des Regenbogens kann diese Gegenseitigkeit von Beziehung und Gottes Offenbarung gedeutet werden. Mit den Worten eines modernen religiösen Lieds „Hier berühren sich Himmel und Erde“, wird in diesem uralten Symbol die Verbindung zwischen Himmel und Erde gesehen. Mit seinen sieben Farben gleicht der Regenbogen bisweilen dem Leuchten aus einer anderen Welt. Die Streifen verlieren sich im Himmel und man hat den Eindruck, hier berührten sich Himmel und Erde, und in dieser Verbindung überlässt Gott diese Welt nicht sich selbst. Beispielhaft hat Gott diese Beziehung nach der Sintflut deutlich gemacht und lässt sich für die Geschichte Israels von Abraham über Mose und die Propheten bis hin zu Jesus nachzeichnen. Was einst gesprochen: “Meinen Bogen setze ich in die Wolken; er soll das Bundeszeichen sein zwischen mir und der Erde“ (Gen 9,13), hat den Regenbogen zum Zeichen für Gottes felsenfestes Versprechen, für die Beziehung zwischen Gott und Mensch, für den „Bund“ und die Verbindung zwischen Gott und Mensch, Transzendenz und Immanenz werden lassen.

Jeder Mensch – ein Art Regenbogen: Dieser Berührung des Regenbogens zwischen Himmel und Erde und der Verbindung zwischen Göttlichem und Menschlichem ist jeder Mensch existentiell in seiner Sinnfrage ausgesetzt und eingebunden. Wie der Mensch als Glaubender damit umgehen kann, lässt sich mit den Worten von Klaus Hemmerle „Der Himmel ist zwischen uns“ beantworten. Menschliches Denken und Handeln spiegeln in der Sinnfrage diese Bundes-Wahrheit und -Wirklichkeit als Beziehungsgeschehen zwischen Himmel und Erde wider. Und seit alters beschäftigt sich die Menschheit damit, religiös und kulturell unterschiedlich ritualisiert und gedeutet, doch stets neu.

Als Naturphänomen ist der Regenbogen eine nicht ‚fassbare’ Wirklichkeit, und genauso ergeht es jedem Menschen im ‚irdischen’ Dasein mit seiner Beziehung zu Gott und auf der Suche nach dem Lebenssinn. Dass er letztlich vor seinem ‚inneren’ Regenbogen in der Sinnfrage ‚fassungslos’ stehen bleibt, bedingt zugleich seine Entscheidungsfreiheit, diesem Phänomen zwischen Himmel und Erde eine Bedeutung zuzusprechen, und ob sich für ihn die Beziehung zwischen Gott und Mensch darin versinnbildlicht. Wenn ja, dann kann diese Wirklichkeit: ‚GottInMir’ und/oder ‚IchInGott’, zwar regenbogengemäß schwer fassbar sein, ist dann aber eine Wirklichkeit komplementärer Art.

Dem kultur-geschichtlichen Regenbogen zwischen Hoch-Kultur und Hoch-Religion lässt sich dann entnehmen: die Deutung zwischen ‚Himmel und Erde’ ist zwar nicht deckungsgleich, ermöglichte aber praktisch, im Symbol des ‚Regenbogens’ den menschlichen Lebensalltag mit allem Wenn und Aber als Wirklichkeit zu sehen, was dann konkret auf die Menschheitsentwicklung hin deutbar wird, und sich gleich einem Regenbogen in der Menschheitsgeschichte auch finden lässt. Dabei kann dies die Hochkultur der Griechen am anschaulichsten aus dem Blickwinkel des Menschen vermitteln, und welcher Wirklichkeit es dazu hier auf Erden bedarf. In Verbindung mit der biblischen Hochreligion und ihrem himmlischen Blickwinkel von Jahwe her, lässt sich die Welt in neuem Licht sichten. Denn in der Vermischung beider Sicht- und Denkweisen lässt sich unsere abendländische Kulturgeschichte gedanklich darstellen, und vielleicht können die Ausführungen zur nachfolgenden These beim Leser dazu führen, einen „Regenbogen der Hoffnung“ für menschliches Leben zu sichten.

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5 Chaosprinzip – Chaos-Physik-Logik Die Chaosforschung des 20sten Jahrhunderts kann zur besseren Zuordnung und zum Verständnis dieses „Regenbogens der Hoffnung“ dienlich sein. Sie birgt einen zeitgemäßen Zugang über die Chaostheorie, die insbesondere dank der Naturwissenschaften Physik und Mathematik, eine Theorie komplexer Systeme ist, und sich im Wesentlichen mit Ordnungen in dynamischen Systemen befasst. Unter bestimmten Bedingungen hängt deren Dynamik von den Anfangsbedingungen ab. Ihr Verhalten lässt sich normalerweise nicht langfristig vorhersagen. Da diese Dynamik einerseits den physikalischen Gesetzen unterliegt, andererseits aber irregulär erscheint, bezeichnet man sie als „deterministisches Chaos“. Solch chaotische dynamische Systeme sind aber nicht linear. Was der mathematisch- physikalischen Forschungsrichtung entstammt, hat inzwischen die unterschiedlichsten Wissenschaftsbereiche erfasst und bestimmt sie. Der Begriff „deterministisch“ (lat.: bestimmbar, berechenbar) bedeutet daher, dass das beschriebene System durch lösbare Gleichungen beschreibbar ist. Der Begriff „Chaos“ bedeutet in diesem Kontext, das Zeitverhalten des Systems ist irregulär. Es darf nicht periodisch sein und darf sich nicht wiederholen. „Es scheint paradox, dass Chaos deterministisch ist, erzeugt nach festen Regeln ohne stochastische Elemente. Prinzipiell ist die Zukunft durch die Vergangenheit vollständig bestimmt, aber praktisch werden kleine Fehler verstärkt – das Verhalten ist deshalb zwar kurzfristig vorhersagbar, langfristig aber unvorhersagbar.“ (Crutchfield, Farmer, Packard, Shaw) Daher sind auch die zwei wesentlichen Phänomene von deterministisch bei chaotischen Systemen das exponentielle Anwachsen von Fehlern (bzw. Unschärfen) bei den Messwerten und das irreguläre Verhalten, das sich durch deterministische Gleichungen beschreiben lässt. Die Erfolge der Chaosforschung bestehen daher im Wesentlichen in der Entdeckung bestimmter universeller Strukturen und Prinzipien, die im scheinbar regellosen Verhalten chaotischer Systeme bestehen und die verschiedene „Wege ins Chaos“ sowie die Periodenverdopplung oder die Ausbildung sogenannter seltsamer Attraktoren bedingen.

Neben den naturwissenschaftlichen Beispielen wird die Chaosforschung auch in verschiedenen Geistes- und Sozialwissenschaften genutzt, um chaotisches Verhalten zu beschreiben und zu erklären. Hier einige Beispiele: Börsenkurse und Konjunkturentwicklung – zahlreiche Verlaufskurven von Wirtschaftsdaten haben nichtlineare Eigenschaften und lassen sich mit Hilfe von Fraktalen und Intermittenzen beschreiben. In der Geschichtswissenschaft wird die Chaosforschung vor allem zur Beschreibung und Erklärung von Krisen und Übergangszuständen genutzt. In der Kommunikationswissenschaft wird die Chaosforschung im Bereich der Nachrichtenforschung verwendet, um die Auswahl und Gestaltung von Nachrichten besser zu erklären. In der Psychologie dient die Chaosforschung als Ansatz, um beispielsweise sprachpsychologische Befunde zum Stottern oder die Ursachen für kriminelle Affekttaten (wie Amokläufe) zu erklären.

Die Chaosforschung birgt meiner Meinung nach auch eine geisteswissenschaftliche Ausrichtung, die der geistigen Dynamik der Menschheitsgeschichte gerecht werden könnte. Hier geht es in Anlehnung an das biblische Johanneswort „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“ (Jo 1,1) letztlich um eine erfassbare Logik vom Gottsein und Menschsein im menschlichen Bewusstsein. „Der Mensch ist Chaos und Widerspruch und gebiert sich stetig darin neu zwischen Wahnsinn und Genie, und lebt zugleich dazwischen – ganz normal“. Dieser These entsprechend, setzt die Chaos-Logik beim Widerspruch an und entwickelt ‚rückwärtsgewandt’ ihre logische Struktur im Denken. Jesus Christus verkörpert solch einen „existentiellen Widerspruch“ im menschlichen Bewusstsein, der rückwärtsgewandt „hebräisch“ bzw. „griechisch“ analysiert und erkannt wird, und sich im neuzeitlichen Verständnis als Glauben und bzw. oder Wissen zeigt. Gemäß der Chaostheorie wird dabei das zeitliche Verhalten eines räumlich-geschichtlichen Systems wie Glaubens-, Kultur-, Wissenschafts- oder Herrschafts-System mit seiner Dynamik erfasst, auch wenn diese Dynamik deterministisch ist, komplex und deshalb nicht einfach „durchschaubar“. Anders als der Begriff Chaos in der Umgangssprache befasst sich hier die Chaostheorie nicht mit „Unordnung“ oder stochastischen Systemen, sondern mit dem historisch und geschichtlich prinzipiell gut beschreibbaren Verhalten von dynamischen menschlichen und gesellschaftlichen Systemen in Raum und Zeit.

Zum besseren Verständnis von Raum und Zeit lässt sich aus der Physik der „Welle-Teilchen-Dualismus“* anwenden, demgemäß ,,Licht gleichzeitig Welle und Teilchen ist“. In dieser Analogie ist der Mensch mit seinem Bewusstsein und seiner Wirklichkeitserfassung das Licht. So wird die Welle mit Zeit und das Teilchen mit Raum ersetzt. Diese Übertragungslinie lässt sich dann weiter ausfahren auf die menschliche, zeitlich-räumliche Wirklichkeitserfassung wie dies bei den Hebräern der Fall war und auf die menschliche, räumlich-zeitliche der Griechen. Der Welle, die nicht greifbar ist, entspricht dann der Glauben der Hebräer. Ihn kann man genauso wenig wie eine Welle in die Hand nehmen und mit sich herumtragen. Eine Welle ist kein ,,Ding“, sondern ein ,,(Bewegungs)-Zustand“. Ein Teilchen dagegen ist sehr wohl etwas Greifbares, eine Sache, die vom Menschen im Raum dreidimensional erfasst und gemessen werden kann. Gleich einem Stein oder einer Murmel kann somit ein quantenmechanisches Objekt gleichzeitig (nichtgreifbare) Welle und (greifbares) Teilchen sein, wenn ich als Mensch der Raum-Zeit-Wirklichkeit der Naturwissenschaft die biblische Schöpfungs-Wirklichkeit gleich einer Parallelwelt daneben stelle.

Demgemäß lässt sich die gedankliche Abfolge und Zuspitzung bei der Chaos-Logik als polarer Gegensatz, vom Dialog bis hin zur Dialektik verfolgen, und endet bzw. verharrt im „Widerspruch“ Mensch und seiner raum-zeitlichen Beschaffenheit. Dass dieser Widerspruch in sich stetig Widerspruch gebiert, lässt sich daraus folgern, dass dies ja ein in sich geschlossenes ‚Logik-System’ von Widersprüchen bildet. Mit Jesus Christus bewegt es sich geschichtlich spiralenartig auf Zukunft hin und ist eschatologisch ausrichtet. Diese Denkweise, die bei Jesus Christus ansetzt und bekanntlich dem christlichen Glauben gemäß Gott und Mensch ‚verkörpert’ und ‚vergegenwärtigt’, ist dank der beiden Wirklichkeitssichten und Denkweisen: ‚griechisch’ und ‚hebräisch’ zu erfassen und zu verstehen. Was dabei gedacht, erkannt und geglaubt wird, offenbart sich gleich einem paradoxen ‚Logik-System’, das jeweils in seiner Polarität und Komplementarität besteht (d.h. Zusammengehörigkeit der scheinbar widersprüchlichen, sich aber ergänzenden Eigenschaften zeit-geschichtlicher Entwicklung im hebräischen und griechischen Bewusstsein und Wirklichkeitsverständnis. Die komplementären Eigenschaften: menschlicher Transzendenzbezug (hebräisch) und menschlicher Immanenzbezug (griechisch) gehören zusammen, da sie dasselbe Objekt: Mensch betreffen. Sie schließen einander insofern aus, als sie sich räumlich unterschiedlich entwickelten. In der Regel handelt es sich um zwei verschiedene Eigenschaften von Wirklichkeitserfassung, die sich kausal nicht aufeinander beziehen, aber gemeinsam einen Sinn ergeben.) Dieser Denkvorgang kann zugleich bedacht werden als „eine“ Welt oder in einer „Parallel-Welt“ gemäß der christlichen Sicht: von dieser Welt und nicht von dieser Welt zu sein. Die Schwierigkeit besteht darin, dass jeweils beides zugleich als Einheit, aber und komplementär als Zweiheit/Parallelität denkbar ist, je nachdem wie ich das Axiom setze. Gehe ich von „einer“ Welt-Wirklichkeit aus, ist das Erfassen eine in sich entwickelte Logik dank Philosophie und Theologie, deren ursprüngliche „Welt-Deutung: Glauben“ im Mittelalter durch das neuzeitliche „Wissen“ ersetzt bzw. verdrängt wurde. Gehe ich jedoch vom Axiom: Widerspruch aus, verhilft das Modell „Parallel-Welt“, sich logisch in dieser Denkweise und –struktur vorwärtsbewegen zu können. Dies auseinanderzuhalten und zu verstehen bereitet (bisweilen) Schwierigkeit. Die Annahme und Axiomsetzung: Mensch und Gott sind Widerspruch und zugleich nicht, wenn beide als Beziehungs-Bedingung gesetzt sind. Einzig die kulturgeschichtliche Entwicklung von Völkern beweist diese Bedingung, was sich in den Weltreligionen offenbart. Insbesondere der Monotheismus des Judentums, des Volkes Israel und in seiner Fortführung das Christentum unterstreichen die Logik dieser Denkweise, die dem Glauben zugeordnet wird. Dieser Ansatz bedingt, dass sich Mensch-Sein in einer gespaltenen Wirklichkeit befinden, bedenken und bewegen kann, wenn einzig vom Menschen oder von Gott her gedacht wird, der die eine oder andere Dimension aufgrund des Widerspruchs ausschaltet bzw. abspaltet. Seit Jesus Christus lässt sich diese Logik als Beziehungs-Logik von Gott ausgehend als Theologie nachzeichnen, die bi-polar in Gott-Mensch verankert ist. Im Menschsein ist sie anthropozentrisch bereits in der griechischen Philosophie oder dann durch die Aufklärung bedingt im abendländischen Bewusstsein beheimatet. Darwin hatte einst Gott als Ursache und Wirkprinzip durch Natur ersetzt, hingegen sehen die heutigen ‚Intelligent Designer’ Gott, und nicht die Natur als Ursache der komplizierten Lebenszusammenhänge. Gott oder Natur – jeweils eine durchweg in sich stimmige Logik bei der Beweisführung. Sie endet aber im Widerspruch beider; dies ist bedingt durch die jeweilige Axiomsetzung. Solchen Schlussfolgerungen und Effekten aufgrund von Anfangsbedingungen begegnen wir zusehends und zunehmend in unserer Wirklichkeitssicht, wofür die Chaostheorie eine Erklärung anbietet, die uns im Widerspruch-Verständnis weiterbringen kann.

Denn dem „Schmetterlingseffekt“ in der Chaostheorie und ihrer sensiblen Abhängigkeit von Anfangsbedingungen dürfte in der Chaos-Logik die „Christusbedingung“, die den Widerspruch impliziert, entsprechen. Gleich in den 1970/80er Jahren Mitchell Feigenbaum die Phänomene der logistischen Gleichung und die nach ihm benannte Feigenbaum-Konstante basierte, korrespondiert die Jesus-Christus-Konstante im bzw. mit dem dialektischen Prozess unserer abendländischen Entwicklung. Diese „Christus-Bedingung“, diese menschlich-göttliche Konstante könnte Voraussetzung dafür sein, eine Verbindungslinie zwischen abendländischer Kulturentwicklung und morgenländischer herzustellen, die im asiatischen Bereich durch die Weltreligionen von Hinduismus und Buddismus präsent ist. (Der Islam ist hierbei seiner monotheistischen Ausrichtung wegen dem Judentum zugebunden.) Abendländisch stehen nach dem Zeitalter von Moderne und umstrittener Post-moderne im säkularen und aufgeklärten Bewusstsein einstige ‚absolute Wahrheiten’ und Ideologien des christlichen Glaubens wie aufgeklärten Wissens, der politischen Staatsführung wie der Kirchenführung in ihrer konfessionellen Vielfalt, zusehends im Rechtfertigungsdruck. Heute stehen einstige „Absolutheiten“ oftmals zueinander komplementär in Beziehung und relativieren sich gegenseitig beim Zueinander oder Miteinander, müssen aber andererseits zugleich absolut bleiben um der Ergänzung im „Widerspruch“ wegen.

So unterscheiden sich auch westliches und östliches Denken im Umgang wie der Anwendung bisweilen im „Widerspruch“ fundamental. Der Umgang mit Widersprüchen gehört z.B. in China zur geistigen Tradition. Zen-Schüler grübelten dort schon vor mehr als tausend Jahren über paradoxe Rätsel, den sogenannten Koans. So zeichnen sich auch beim Betrachten von Bildern asiatische und westliche Kulturangehörige systematisch unterschiedlich aus. Die (mutmaßlichen) Ursachen dafür begründen Forscher mit den unterschiedlichen, jahrtausendealten philosophischen Traditionen in Ost und West. Für die westliche reduktionistische Denkweise bietet sich als Erklärung das antike Griechenland an: die Idee der individuellen Freiheit, die Tradition der öffentlichen Debatte und des naturwissenschaftlichen Denkens. Die ganzheitliche, holistische Tradition des Ostens sieht die Menschen in erster Linie als Teil sozialer Netze, eingebunden in Familie, Dorfgemeinschaft und Staat. Hier lassen sich gewiss Analogien herstellen zum abendländischen Denken und zum Selbstverständnis des Volkes Israel und der semitisch-hebräischen Wirklichkeitssicht mit ihrem Transzendenzbezug zum Gott Jahwe. In ihm weiß man um seinen Sinn und seine Verankerung. Auch entspricht eine dingliche Welt wie bei den Griechen nicht der antiken chinesischen Vorstellung und kann nicht durch konstante Merkmale und Eigenschaften beschrieben werden. Ursache für solch objektorientierte westliche Wahrnehmung liegt in der philosophischen Tradition des antiken Griechenland begründet. Der asiatische Gegenentwurf entstand gleichsam als eine ganzheitlich, holistische Tradition des Ostens. Hier befindet sich alles im Fluss und das einzig Konstante ist die Veränderung. Die Welt besteht darum aus Widersprüchen und nur, wenn diese akzeptiert werden, kann Erkenntnis erzielt werden. Östliches und westliches Denken, vermutlich analog der hebräischen und griechischen Wirklichkeitssicht, bedingt und kennzeichnet den „Widerspruch“, der in seiner Komplementär-Eigenschaft unsere Zukunft gestalten und prägen wird. Diesen in seiner logischen und dialektischen Vorgabe und Entwicklung in Europa zu verstehen, ist möglich, wenn wir die Anfänge unserer abendländischen Geistesgeschichte in den Blick nehmen. Durch den Glauben des Volkes Israel und das Wissen der Griechen ist sie grundgelegt. Zwei unterschiedliche Wirklichkeitssichten und Denkweisen waren die Folge. Basiert der Glaube ‚transzendent’ in der „Beziehung“ zwischen Gott Jahwe und seinem Volk, kann einzig der Mensch selbst als denkender Geist für das Wissen verantwortlich sein. In Jesus Christus hat sich dieser kulturgeschichtlich bedingte „Widerspruch“ manifestiert und denkerisch axiomatisiert. Dass wir uns heute säkular und aufgeklärt beim Wissen in Gründen und bisweilen in Abgründen von Wissen und Wissenschaft bewegen, dürfte gemeinhin Zustimmung erhalten. Beim Glauben aber ist Vorsicht bis Einhalt geboten. So ist zwar das Christentum bis heute noch prägende Wurzel Europas, zugleich aber auch ein „Fremdkörper“ in diesem säkularisierten, rational-aufgeklärten Kontinent (Schönborn). Der Komplementarität wegen muss aber Glauben erneut ins menschliche Bewusstsein integriert werden. Dabei mag möglicherweise der „Widerspruch“ das ‚Warum’ des Westens und das ‚Wozu’ des Ostens verbinden, auch wenn das ‚Wie’ dabei offen bleibt. Logik und „Widerspruch“ können sich hier als dialektischer Vorgang zeigen. Wissen und Glauben bedingen ihn differenziert und rationalisiert. Und das vernunft-gemäße Glauben weist zudem im Westen auf einen Transzendenzbezug persönlicher Art hin d.h. auf die persönliche „Beziehung“ des Menschen, der glaubt, zu Jahwe, Christus, Allah, … , was letztlich menschlicher Freiheit und Entscheidung obliegt. Dass sich im Westen der Transzendenzbezug als intellektuelle Größe wie Notwendigkeit herauskristallisierte, lässt sich seinen Ursprüngen entnehmen.

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6 Ziel der Arbeit

Solch einen ‚Regenbogen der Hoffnung’ will dem Hörer bzw. dem Leser einen Zugang zu einer

Wirklichkeits-Sichtweise ermöglichen, die von den beiden Strängen griechischer Hochkultur und bibli-

scher Hochreligion her erstellt und postuliert wird:

1, Bewusstwerden der Gegenwarts-Beziehung: Mensch – Gott und Mensch – Gott

GottInMir (Gottsein) und IchInGott (Menschsein) bedeutet heute christlich leben können im/durch dieses Bewusstsein: GottInMir – IchInGott; geistige und spirituelle Beheimatung in Gott und Jesus Christus. ‚Wurzelgrund’ des christlichen Glaubens ist demnach:

2, In Jesus Christus vermischen sich zwei Welt-Sichten als zwei komplementäre Denkweisen,

die sich am Denken und der ‚Weltsicht’ der Hebräer einerseits und am Denken und der ‚Weltsicht’ der Griechen andererseits orientieren und sich miteinander komplementär in der Person Jesus Christus verbanden. Beide entwickelten sich getrennt voneinander in unterschiedlichen bis widersprüchlichen Kulturlinien und bestimmen seit ihrer ‚Kernfusion’ dialektisch die abendländische Entwicklung des Christentums. Die Kirche hat dabei als „Beziehung“ und „System“ ihrem Selbstverständnis gemäß die Chance, dem Auftrag Christi gemäß dem Menschen das Heil in Wort und Tat zu vermitteln und zu bringen. In der Glaubensgemeinschaft geeint d.h. als System vernetzt, vermag sie Jesu Auftrag mittels entsprechender Strukturen, die Liebe Gottes unter uns Menschen wirken und sichtbar werden.

3, Glauben und Wissen ergänzen sich dabei komplementär

d.h. die ‚griechische’ geprägte Naturwissenschaft unserer technisierten Welt bedarf der ‚hebräischen’ Beziehung und Verantwortung bei Gestaltung von Gegenwart. Dass ‚christlich Glauben‘, ‚kirchlich Lieben‘ und ‚menschlich Hoffen‘ dafür einen geistig-geistlichen inhaltlichen Beitrag wie geistig-systematische formale Strukturen anbieten kann, will darauf in den praktischen Ausführungen zur Wirkung bzw. Auswirkung des christlichen Glaubens eine Antwort geben. Dies impliziert, Glauben und Wissen sind aufeinander angewiesen, ergänzen sich gegenseitig und sollten daher notwendigerweise eine gleichberechtigte Wichtigkeit erfahren.

4, Die abendländische Gesellschaft befindet sich in dieser dialektischen Entwicklung und birgt das geistige Kapital für eine globale Chance der Hoffnung.

In ihren ‚europäischen’ staatlichen und kirchlichen Institutionen hat die abendländische Gesellschaft ein passendes Instrumentarium, menschliche Handlungsebene mitzubestimmen und zu prägen. Des Autors Blickwinkel ist dabei zunächst eurozentristisch angesichts vernetzter Globalität, und christozentrisch mit Blick auf die verschiedenen Weltreligionen. Er nimmt dies in Kauf, um die Grundlinien seines Ansatzes und Anliegens herauszuarbeiten. Beide Selbstbegrenzungen gehen aber einher mit anderen Entwicklungen und Zielgeraden in der Welt-Gesellschaft, wenn bei Planung und Durchführung notwendiger Maßnahmen dies künftig nur gemäß dem Postulat von Menschenwürde umgesetzt werden kann. Der Autor sieht dies als eine Chance für die Menschheit und eine Aufgabe der Christen an. Mit seinem Gesamtentwurf möchte er einen nachhaltigen Dialog bewirken und ist in diesem Prozess dankbar für jeden Hinweis der Ergänzung und Verbesserung.

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7 Inhaltsangabe

Die Hinführung will verdeutlichen, dass sich unser Leben bei seiner geistigen wie geistlichen Deutung an Symbolen orientieren kann. Das ‚Osterlicht’ ist genauso wie der ‚Regenbogen’ dienlich, dem Menschen immer wieder vor Augen zu halten, dass er sich gleichsam mit Herz und Seele, wie auch mit Geist und Verstand zwischen Himmel und Erde erstreckt bzw. sich in diese Dimension hinein spannen kann. Dieser Wechselwirkung zwischen aktivem Streben, wie passivem Wahrnehmen ist der Mensch beim Erfassen seiner Wirklichkeit ausgesetzt bzw. kann/muss sich ihr aussetzen, kann aber beide Wirklichkeiten/Sichtweisen komplementär ergänzt denken.

Auf unterschiedlicher Weise waren Hebräer und Griechen bei der Wirklichkeits – Erfassung mit sich und der Welt beschäftigt, was zu einer je anderen Wirklichkeitssicht führte. Entsprechend bildete sich als geistiges Vermögen beim hebräischen Menschenbild ein Denken durch Deuten heraus, dem es um das Verstehen ging; hingegen führte beim griechischen Menschenbild das Denken durch Erkennen zum Wissen.

Somit wurde ein unterschiedliches Wirklichkeits – Bewusstsein in beiden ‚Volksgruppen’ bzw. Kulturen bestimmend, was sich bei den inhaltlichen Fragen nach dem WER, WO, WOZU zeigt und bei der jeweils eigenständigen Antwort auch andere Mittel bzw. Zwecke offenbart und ausbildet:

WER menschliches Sein 1 a ‚Zwischen’ mit Ohr (Hören) und Herz hebräisch

1 b Da-sein mit Auge (Sehen) + Geist griechisch

WO Lebenswelt prägt sich als 2 a ZEIT-Kultur aus hebräisch

2 b RAUM-Kultur aus griechisch

WOZU Ziel/Zweck im Zusammenleben war 3 a Gerechtigkeit hebräisch

3 b Freiheit griechisch

In und durch Jesus Christus erfolgte eine Wirklichkeits – ‘Kernfusion‘ dieser beiden

Wirklichkeiten -hebräische und griechische- mit ihren je unterschiedlichen bis konträren Kulturen und Denkweisen, was letztlich zum christliches Menschenbild wie auch zur christlichen Gottesvorstellung führte, die fürderhin die Wirklichkeit dialektisch d.h. paradoxal bestimmte und entwickelte. Treffend lässt sich dies an den jesuanischen Lebenspunkten von Geburt – Taufe – Abendmahl – Auferstehung veranschaulichen, die je nachdem, ob von der Auferstehung oder von der Geburt her gelesen, ihr jeweiliges logisches Denksystem entfaltet haben.

Der dritte Abschnitt Wirklichkeit 2010 – Christentum und Vision – christlich bedacht umfasst einen Gang durch die Geschichte von Kirche und Christentum und will einen historischen Überblick über Entwicklung und Stand der Kirche geben, die mit Petrus und Paulus begann, und die heute in der ‚Ökumene’ und im ‚Konziliaren Prozess’ um ihre Nützlichkeit und Glaubwürdigkeit in und vor der Welt ringt. Der Menschheit könnte die Kirche heute dienen als Botin wie Trägerin von Gerechtigkeit und Freiheit, und dabei als ‚Prophetin’ wie Bürgin die Menschenwürde achten und einfordern, die es in Zukunft als eines jeden Menschen Wert und Recht zu bewahren und zu gestalten gilt.

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Erschaffung des Adam, Michelangelo (1502-1512), Sixtinische Kapelle Rom; Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/

8 Menschenbild ‚hebräisch’

Das Menschenbild des Hebräers -sofern es sich als ‚hebräisch’ bezeichnen lässt, was bei diesen Ausführungen vorausgesetzt wird-, ist mit der Identität der -ontologisch verstanden- jüdischen „Seinsgemeinschaft“ verbunden, da jeder Jude Mitglied in der Religionsgemeinschaft und im israelischen Volk ist. Juden wissen sich über viele Zeiten und Länder verbunden und verstehen sich normalerweise als Nachfahren Abrahams. Die Stammväter Abraham, Isaak und Jakob wurden über die zwölf Söhne Jakobs durch die zwölf Stämme Israels in einer „Kette der Generationen“ genealogisch fortgeführt. Deren Wirklichkeitssicht als „Hebräer“ entspricht ein Verständnis von biblischer Schöpfungsgeschichte und eine Deutung jüdischer Geschichte als Jahwes Volk. Grundlegend für die genealogische wie einzigartige Existenzform als Volkes Israel ist das Beziehungs-Verhältnis zwischen Gott und Mensch, zwischen Jahwe und Volk Israel. Man weiß sich Jahwe, dem göttlichen Beziehungs-Du gegenüber als Mensch in der Ebenbildlichkeit -philosophisch gesprochenen: göttliche Transzendenz und menschliche Immanenz. Dies ist dem ‚hebräischen’ Bewusstsein Axiom, und von dort her wird gelebt und gedacht d.h. von Gott her wird auf den Menschen und die Schöpfung hin gedacht. Dieser Wirklichkeitssicht entspricht demgemäß ein Menschenbild, das in der Beziehung verankert, sich insbesondere einer Weltsicht wie Lebensweise von menschlicher Deutung und Symbolik bedient. „Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen“ (Ex 20,4-6; Dtn 5,8-10) hat daher auch zur Folge, dass sich diese Beziehung stetig im „Zwischen-Stand“ gleichsam zwischen ‚Himmel und Erde’ befindet, und dem menschlichen Erkenntnis-Vermögen als ‚Gott-Sein’ wie ‚Mensch-Sein’ das Geheimnis dieser Beziehung innewohnt. Die Hebräer begannen so „mit einem Gott zu kommunizieren, der so abstrakt war, dass sie ihn nicht einmal beim Namen nennen durften“. Dem monotheistischen Wirklichkeitsverständnis lässt sich „das Auftauchen des Individuums aus dem Kollektiv“ genauso entnehmen wie die „Idee eines abstrakten, allwissenden, universellen Gottes und die Entstehung eines verantwortlichen Selbst, das eine umfassende Beziehung zu einem Schöpfer hat“. Die hebräische Kosmologie bezeichnet Jeremy Rifkin demgemäß als „die Geschichte der Geburt des Individuums aus dem ‚Nebel’ der Kollektivs“. (Jeremy Rifkin, S.153)

Des Menschen GOTTESEBENBILDLICHKEIT besteht nicht darin, dass er körperliche (z.B. Aussehen) oder geistige Eigenschaften (z.B. Intelligenz) mit Gott ‚materiell’ gemeinsam hat, sondern er weiß sich Gott und dem Schöpfer ebenbildlich. Sie ist Maßstab für das, was für den Menschen wie dann später nach dem Bundesschluss für Gottes Volk und das Volk Israel gilt. Diesem ‚Seins-Stand’ er-deutet und ent-nimmt der Hebräer den Auftrag:

in GOTTES STELLVERTRETUNG über die Erde und die Tiere zu herrschen (nach Gen 1). Der menschliche Stellvertreter auf Erden ist und soll dabei in Wort und Tat seiner Verantwortlichkeit als Gottes Ebenbild entsprechen. Nach Gen 3 macht nicht die Intelligenz an sich den Menschen Gott ähnlich, sondern Erfahrung und Gewissheit, was für das Menschsein gut und böse ist. In dieser, seiner ‚Handlungs-Möglichkeit’ verfügt und verantwortet der Mensch, Jahwes Willen

in seiner ENTSCHEIDUNGsFREIHEIT zu entsprechen. In dieser und durch sie findet der Mensch sich situationsbedingt und geschichtlich in der Schöpfung wieder, sei es in Gottes-Nähe oder Gottes-Ferne. ‚Adam’, der Mensch, verkörpert somit kollektiv das Volk und zugleich ist jeder Einzelne gemeint, ganz persönlich und ein Teil des Volkes.

Das BEZIEHUNGs-Verhältnis: Gott Jahwe – Volk Israel offenbart sich meist im geschichtlichen Spannungsbogen von Verheißung und Erfüllung; dabei entspricht Jahwes Umgang mit seinem Volk Jahwes Heilswillen. Im Zeichen des ‚Regenbogens’ wird diese Beziehung in Gen 9,8-17 grundsätzlich als bundes- und segenswillige Zuwendung Jahwes zur Menschheit seit alters gedeutet und in der Verheißung an Noach und seine Söhne insbesondere in der Priestertheologie als ‚Bund’ bezeichnet. Aus und in dieser letzten und wichtigen Beziehung von Gott her, die liturgisch gesprochen „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ kündet, ankert in Gottes immerwährender Gegenwart und Vergegenwärtigung.

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Diskuswerfer; Quelle: www.de.wikipedia.org/wiki/Diskos +

Zeusstatue von Phidias in Olympia; Quelle: www.weltwunder-online.de

9 Menschenbild ‚griechisch’

Bei den Griechen ist nicht eine Beziehung, sondern das menschliche Individuum selbst für das Verständnis von Mensch-Sein maßgebend wie bestimmend. Der schöne und vollkommene Mensch (Diskuswerfer, 450 v.Ch. Hohe Klassik), ausgestattet mit perfekter und wissenschaftlicher Leistung, entspricht dem Idealbild vom Menschen. Er bewegt sich in allen Extremen menschlichen Daseins zwischen Höhen und Tiefen. Der griechische Kultur-Kreis vermittelt ein individuell geprägtes Menschenbild, das im Laufe der Zeit immer weniger auf die Götterwelt hin reflektiert wird und von dieser zur Rechenschaft gezogen wird. In dieser Kultur-Wirklichkeit bewegt sich der Mensch zwischen den Extremen von Leistung und Freiheit, zwischen Planung und Vollendung wie auch zwischen Schöpfung und Vernichtung. Die Griechen, „sie kannten nicht nur das Wahre, das Schöne und das Gute, sondern auch das Groteske, das Schrille und das Brutale … Die griechische Kultur bietet ein Kompendium aller menschlichen Eigenschaften, nicht unbedingt in freundlichen, doch ausnahmslos in klaren, leuchtenden Farben … Die Griechen bieten Beispiele für alles, für Habgier und Bescheidenheit, für Mitleid und Härte, für Verschlagenheit und Wahrheitsliebe, für Frömmigkeit und Blasphemie, für Leidenschaft und kühle Berechnung. Diogenes ist als Muster an Anspruchslosigkeit in die Geschichte eingegangen, Alkibiades als Beispiel für das Gegenteil, für Eitelkeit, Ruhmsucht und Verschwendung … Die Griechen gingen überall aufs Ganze. Wie Kinder haben sie sich ihren Leidenschaften überlassen und ihr Leben im Exzess vergeudet, bis hin zum Äußersten, zu Krieg und Vernichtung. Wenn es darauf ankam, haben sie jeden Preis gefordert und bezahlt, denn nichts ging ihnen über ihre Freiheit.“ (Konrad Adam, Die alten Griechen, S.12f) Der Mensch weiß sich bei den Griechen mit seinen Möglichkeiten im Mittelpunkt der Welt und lebt hier auf Erden, die er sich zunächst als eine Parallelwelt zur Götterwelt vorstellt.

Der Grieche holt ortsbezogen das Jenseits der Götterwelt mit seinen Mythen und Kämpfen in seinen kultischen Lebenskreis herein, wenn es um die Verehrung und den Ritus geht, wie beim klassischen Zeusheiligtum in Olympia oder beim Nichtbetreten des Olymp-Berg-Massivs, wo die Götter wohnen. Dass die Götter miteinander wie im menschlichen Alltag von unterschiedlichen Gefühlen beherrscht und bisweilen gegeneinander im Kampf standen, zeichnete den Götterhimmel wie das ‚inner-göttliche’ Beziehungsnetz aus. Aus diesem Nebeneinander im ‚mythologischen Geflecht’ zwischen Himmel und Erde wurden himmlische wie irdische Fakten erzählt und in die Mythologie hinein versetzt. So ergab sich z.B. der Sage nach, dass in Olympia, wo ursprünglich die Erd-Göttin Gaia verehrt worden war, sich Herakles der Aufgabe unterziehen mußte, bei Augias, dem ehemaligen König von Elis, die schmutzigsten Ställe zu reinigen. Als der König sich aber weigerte, den versprochenen Lohn zu zahlen, versammelte Herakles seine Truppen, tötete den König und übernahm dessen Reich. Den heiligen Hain erklärte er zum Heiligtum für seinen Vater Zeus. Dem gegenüberliegenden Hügel gab er zu Ehren des Großvaters Kronos den Namen ‚Kronion’, und baute Altäre für die olympischen Götter. Der Mythos bildet die Wirklichkeit. Herakles verkörperte als Mensch bzw. Übermensch den Anfang, und nicht eine Mensch-Gott-Beziehung nach hebräischer Art bestimmte das griechische Menschenbild.

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10 Wirklichkeit wird, wie aus der nachfolgenden Ausführung ersichtlich, stetig als eine Ganzheit

im und von Widersprüchen verstanden, die zueinander in einem dialektischen Verhältnis stehen. Widerspruch ist der Welt-Situation und der Lebens-Wirklichkeit des Menschen in der Welt zueigen. Hierbei handelt es sich um ein Wirklichkeitsverständnis, dem ein logisches System zugrunde liegt, in denen der „Satz vom Widerspruch“ nicht gilt d.h. auf eine Aussage und deren Satzverneinung bezogen besagt dies, eine Aussage kann nicht gleichzeitig mit ihrem Gegenteil (ihrer Satzverneinung) zutreffen. Vielmehr gilt beim logischen System des Widerspruchs, dass der Widerspruch (in sich) ein logisches System birgt -z.B. beim Selbstwiderspruch Jahwes-, dem komplementäre Denkansätze, die zueinander im Widerspruch stehen, zugrunde liegen. Gibt es für eine Wirklichkeits-Sicht oder –Situation mehrere gegensätzliche Informationen wird von komplementär gesprochen und es geht um ergänzende Bestandteile, Systeme, Denkweisen u.a. Der Arbeit ist die Annahme grundgelegt: Welt-Wirklichkeit ist Widerspruch. Im Sinne von Jakob Böhme (1575 – 1624) gibt es einen sich durch alles Sein und durch alles Denken hindurch ziehenden Widerspruch, ohne den es nichts gäbe. Der Widerspruch ist für Böhme ein notwendiges Moment in allen Erscheinungen der Wirklichkeit und die innerste Triebkraft der Welt.

Ist heute von Dialektik die Rede, wird direkt oder indirekt auf die teils gesetzmäßigen Widersprüche und Gegensätze hingewiesen. Dialektik beinhaltet dabei auch den denkerischen Versuch, Widersprüche zu ordnen und lebensfördernd zu bearbeiten. In der Geschichte der Philosophie hat man unter dem Begriff „Dialektik“ schon Unterschiedliches verstanden. Der Begriff hat oft seinen Sinn gewechselt und auch heute finden sich bei dieser Begrifflichkeit in verschiedenen philosophischen Lexika und Einführungen unterschiedliche Schwerpunktsetzungen. Nennt Hegel Heraklit bereits den ersten Dialektiker, wird üblicherweise Platon dies zugeschrieben. Bei seinem Lehrmeister Sokrates war Dialektik –im damaligen Wortsinne– „Gesprächskunst“. Durch Rede und Gegenrede – also Widerspruch! – wollte man der Wahrheit auf die Spur kommen. Und da die Dialektik Wahrheit sucht, wurde sie für Platon zur Wissenschaft von dem wahrhaft Seienden, von den Ideen. Bei Aristoteles hingegen hat die Dialektik mit all den Fragen zu tun, bei denen es widersprüchliche Positionen gibt. Durch Einbeziehung allgemeiner Gesichtspunkte (topoi) und der Meinung von Autoritäten werden diese zu beantworten versucht. Diese Topik stand jedoch im Gegensatz zur Analytik, also zur Logik. Dem liegt dabei zugrunde, dass Logik stets zu einem in sich geschlossenen Denk- wie auch Handlungs-„System“ führt. Ihm gegenüber steht die „Beziehung“ als Phänomen. Ihr ist in ihren Ausgangspunkten wie bei ihrer Wahrnehmung Sein und Nichtsein zugleich zueigen d.h. Beziehung kann letztlich menschlicherseits nur durch Glauben erfasst und im Vertrauen erfahren werden. Demgemäß geht der Autor davon aus, menschliches Wirklichkeitsverständnis habe sich in zwei unterschiedlichen Kultursträngen entwickelt: Die Hebräer und die Griechen hatten einst eine je verschiedene, letztlich komplementäre Wirklichkeitssicht erlebt, ‚autark’ entwickelt und tradiert.

Wirklichkeits-Erfassung durch Hören oder/und Sehen Hebräer und Griechen haben im Verlauf ihrer kulturellen Entwicklung ein je verschiedenes Wirklichkeits-Verständnis entwickelt. Getrennt voneinander schälte sich bei den Hebräern dieses auditativ durch Hören heraus und bei den Griechen dieses visuell durch Sehen. Streng getrennt und auf das jeweilige Organ Auge bzw. Ohr konzentriert, titulierten sie somit Wirklichkeit als menschliche Weltsicht entweder mit den Ohren oder mit den Augen. Entsprechend erfasste der Mensch seine ‚hör- bzw. seh-spezifische’ Welt und entfaltet ein jeweils eigenständiges, entsprechendes Wirklichkeits-Verständnis. Zu bedenken ist, dass wir es bei beiden d.h. der hebräischen und der griechischen Wirklichkeitssicht zunächst mit mündlichen Überlieferungen in Gestalt mytho-logischer bzw. theo-logischer Art zu tun haben. Später gingen sie vom Wort ausgehend -fast zeitgleich- bei den Griechen durch Homer, Hesiod, u.a. bzw. bei den Hebräern durch die biblischen Niederschriften des Jahwisten, Elohisten und der Priesterschrift in die schriftliche Überlieferung über. Beide entwickelten sich dann dank der jeweiligen sozio-kulturellen Rückbindung in einem stufenweisen Entwicklungsprozess zu einem Wissens- bzw. Glaubens-System weiter, das unterschiedlich, letztlich aber dank seiner komplementären Art offen war, und das sich im menschlichen Denken und Bewusstsein mittels Verstand und Vernunft im ‚Wissen’ als hellenistische Hochkultur niederschlug bzw. sich als monotheistische Hochreligion des ‚Glaubens’ offenbarte, dem das Beziehungs-Geschehen d.h. die Gewissheit um Gott Jahwe innewohnt. Erinnern veranlasst diesem System Inne-zu-werden und frühere Erlebnisse und Erfahrungen mental wieder zu beleben. Dieses Erinnerungsvermögen ist ein Zurückrufen ins Gedächtnis von sonst Vergessenem in dieser Beziehung und im Bund mit Jahwe. Solche Erinnerungskultur bezeichnet die Gesamtheit der Verhaltenskonfigurationen und der sozial zugelassenen oder erworbenen Umgangsformen beim Volk Israel und seinen Stämmen, um Teile der Vergangenheit im Bewusstsein zu halten und gezielt zu vergegenwärtigen. Im Zentrum stehen dabei in erster Linie die kollektiven wie subjektiven Wahrnehmungen aus geschichtlichen Beziehungs-Ereignissen oder historischer Zusammenhänge in seiner aktuellen Perspektive, weniger die Darstellung von historisch-objektivem Wissen. Letztere Eigenschaft ist dem griechischen Denkvermögen zueigen, das übers Erkennen zum Wissen gelangt. Mit geschultem, sachverständigen Blick etwas oder jemand so deutlich wahrnehmen und erfassen, dass man weiß, was oder wer es ist, lernt mittels menschlichem Geist Systeme und Theorien umfassend zu begreifen. So erkennt und erfasst der Mensch die Wirklichkeit auf empirische (J. Locke), transzendtalphilosophische (I. Kant) oder sensualistische (D. Hume) Weise. Wissen (von althochdeutsch wizzan; zur indogermanischen Perfektform *woida, „ich habe gesehen,“ somit auch „ich weiß“; von der idg. Wurzel *weid- leiten sich auch lateinisch videre, „sehen“ ab) birgt im Kern bereits Wahrnehmen und Wirklichkeit als Sichtweise, die sich meist als wahre, gerechtfertigte Meinung versteht. Bei den Griechen bezieht sich Wissen auf geometrisch-technologische Erkenntnisvorgänge genauso wie auf soziokulturelle Wirklichkeiten. Wissen wird hier als menschliches Produkt verstanden und bildet eine Grundlage für technisches und soziales Handeln. Soziale Handlungen wären aber nicht möglich, wenn ihnen nicht unterschiedliche Formen des Wissens unterliegen würden. In zweifacher Hinsicht werden Wissensformen daher als Kultur begriffen, „insofern sie einerseits innerhalb bestimmter kultureller Kontexte operieren und Normen, Werte und Kategorien transportieren, andererseits aber auch solche Formen der Bedeutung hervorbringen.“Achim Landwehr weist weiter darauf hin, dass Ausformungen von Wissen und die Definitionen von Wissen jeweils nur zeitlich gültig, beschreibbar und erforschbar sind. Wissensgeschichtlich gibt es kein Wissen an und für sich, „sondern wird von Gesellschaften immer nur zur Bewältigung ihrer jeweiligen Realitäten hergestellt und angewandt.“ Die Gültigkeit von Wissen ist begrenzt durch den gesellschaftlichen Rahmen und einen „bestimmten historischen Zeitraum“, in dem Wissen für sich einen „Wissensstatus reklamieren kann“. (siehe Wikipedia : Wissen)

Ein Blick in die Neurowissenschaften kann zur differenzierten Betrachtungsweise beider Wirklichkeits-Sichten hilfreich sein. Zentrum menschlicher Wahrnehmungen, unseres Bewusstseins, Denkens, Fühlens und Handelns ist das Großhirn. Im Großhirn herrscht –wie in Wikipedia: Gehirn nachzulesen– eine Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Bezirken, den Rindenfeldern, von denen drei Typen unterschieden werden 1. Sensorische Felder: Sie verarbeiten Erregungen, die von den Nerven der Sinnesorgane kommen; 2. Motorische Felder: Sie aktivieren Muskeln und regeln willkürliche Bewegungen; 3. Gedanken- und Antriebsfelder: Sie liegen im vorderen Teil des Gehirns und sind wahrscheinlich die Zentren des Denkens und Erinnerns. Die sensorischen und motorischen Felder für die rechte Körperseite befinden sich in der linken Gehirnhälfte und umgekehrt. Auf der Rinde lassen sich die so genannten Rindenfelder lokalisieren. Man unterscheidet zwischen primären Feldern und Assoziationsfeldern. Die primären Felder verarbeiten nur Informationen einer bestimmten Qualität, und zwar solche über Wahrnehmungen (Empfindung, zum Beispiel Sehen, Riechen, Berührung usw.) oder über einfache Bewegungen. Die Assoziationsfelder stimmen verschiedene Funktionen aufeinander ab. Die Zuweisung eines Rindenfelds zu einer bestimmten Funktion wird immer wieder definiert und dann relativiert: Erst das korrekte Zusammenspiel verschiedener Felder ermöglicht eine Funktion. Zu den primären Feldern zählen zum Beispiel der visuelle Cortex, der am hinteren Pol des Gehirns liegt und auf dem die Projektionen der Sehbahn münden, und der auditorische Cortex, der der Verarbeitung akustischer Reize dient und seitlich im Schläfenlappen liegt. Assoziative Felder finden sich unter anderem im vorderen Teil des Gehirns. Ihre Aufgaben sind zum Beispiel Gedächtnis und höhere Denkvorgänge. Bekanntermaßen ist nach neurowissenschaftlichem Stand das Gehirn nicht geschaffen, Einzelheiten abzuspeichern, sondern ist gebaut, um Regeln zu erstellen. So speichert es beim Sprechen Laute ab, aus Lauten werden Worte, aus Worten Sätze, aus Sätzen Sinn; der Funktion des Gehirns ist das Lernen zueigen und es nimmt auf unterschiedliche Art und Weise Dinge auf in Gestalt von Regeln und Grundprinzipien, sei es beim Sprechen, beim Laufen, bis hin zum Verstehen physikalischer und sozialer Vorgänge im Umgang des Menschen mit seiner Welt.

Dass bei den Griechen der Lernvorgang: visuell vor auditativ war und zur griechischen Hochkultur führte und bei den Hebräern: auditativ vor visuell galt und zur monotheistischen Hochreligion, ist eben von jener spezifischen Wirklichkeitsprägung durch das Hören (bei den Hebräern) dank des auditorischen Cortex bzw. durch das Sehen (bei den Griechen) dank des visuellen Cortex ableitbar. „Bei mündlicher Weitergabe beruht das Bewusstsein auf dem Hören, bei schriftlicher Weitergabe auf dem Sehen. Allein schon dieser Unterschied bewirkt den tiefgreifenden Wandel im menschlichen Bewusstsein, der eine Schriftkultur von einer auf Mündlichkeit basierenden Kultur abhebt. Hören ist die Sinneswahrnehmung, die am tiefsten ins Innere eindringt … Hingegen ist Sehen die am wenigsten eindringliche, abstrakteste Sinneswahrnehmung. Sehen isoliert und zerlegt.“ Kulturen, denen die mündliche Überlieferung zueigen ist „sind äußerst partizipatorisch“. Persönliche Abgrenzung ist ihnen sekundär und sozialer Zusammenhalt geht über individuelle Klarheit. „Sie erleben Geselligkeit nicht linear – er spricht, sie hört zu, sie spricht, er hört zu -, sondern als gemeinschaftliche und nahezu gleichzeitige Unterhaltung. Was der Einzelne zu sagen hat, wird nicht isoliert als eigenständige Äußerung behandelt, sondern als undifferenzierter Teil eines Gruppengesprächs. Was zählt ist der durchgängige kollektive Inhalt, den die Gruppe etabliert“ Bei den Hebräern füllte mit dem Schöpfungsgeschehen und dann seit Abraham die Jahwe-Beziehung diesen kollektiven Inhalt bei der mündlichen wie der nachfolgenden schriftlichen Überlieferung. Hingegen war das Sehen bei den Griechen immer ein individuelles Erlebnis. Man konzentrierte sich auf den anderen wie auf den Ort, den Raum in dem man sich befand. „Beim Sehen ist völlig klar, wo die Grenze zwischen Betrachter und Betrachtetem verläuft. Sehen erzeugt eine Tendenz, in Kategorien von Subjekt und Objekt zu denken. (S.147f, Jeremy Rifkin) „Ein typisches visuelles Ideal ist Schärfe und Deutlichkeit, die Zerlegbarkeit … Das auditive Ideal dagegen ist Harmonie, das Zusammenfügen.“ (Walter Ong)

Man kann für diesen anthropologischen Entwicklungsschritt in der Menschheitsgeschichte auch auf Studien des Neurowissenschaftler Detlef B.Linke verweisen, der von einer „unglaublichen Selbstorganisations-Leistung des menschlichen Gehirns“ ausgeht. „Zwischen dem Innenraum des Organismus und dem Außenraum der Welt gibt es noch einen dritten Raum. Zwischen der Innen- und der Außenwelt gibt es den Mund- und Rachenraum, den Artikulationsraum für die Sprechorgane, in dem wohl willentliche Impulse die Bewegung koordinieren, aber keine inkonstante Situation wie in der reinen Außenwelt vorliegt, in welcher ständig wechselnde Situationen gegeben sind“. „Die menschliche Sprechmotorik mit ihren steuernden Neuronen stellt einen archimedischen Punkt bzw. ein ‚archimedisches Netzwerk’ für die Weiterentwicklung von Komplexitätsstufen der Kognition dar.“ Wie der Mensch mittels Mundraum seine sprachliche Wirklichkeitserfassung erfahren hatte, übertrug er in seine Handmotorik diese Fähigkeit, um gleich der verbalen auch die Welt handelnd, tätig zu gestalten. (vgl.dazu Linke, S.186f) Haben sich mittels der menschlichen Organe Ohr bzw. Auge in ‚Selbstorganisation’ die beiden Wirklichkeits-Sichtweisen ergeben, prägten diese einst menschliches Denken jeweils ‚eindimensional’, fanden aber über das Christentum einen Wirklichkeitszugang, demgemäß beide Sichtweisen sich komplementär ergänzen bzw. ergänzend gedacht werden müssen in der ‚komplementären Denkweise’.

Hören und Sehen führten in den beiden Kulturkreisen hellenistischer Hochkultur und israelitischer Hochreligion -was in der weiteren begrifflichen Spezifizierung als ‚griechisch’ und ‚hebräisch’ Verwendung findet- zu einem inhaltsschweren unterschiedlichen Wirklichkeitsverständnis. Der Philosoph und Theologe Heinz Robert Schlette weist (1966 in einem Beitrag: Zum Verhältnis von Philosophie und Theologie) darauf hin, dass im hebräischen Sprach- und Erfahrungsbereich die griechische Weise des Philosophierens nicht vorhanden war: „Es wird hier die Frage ‚Was ist das’, die Frage nach dem Wesen eines Seienden gestellt, und folglich fehlt auch eine Antwort, durch die das Wesen von dem Seiendsein des Seienden abgehoben und in eine Sphäre der Idee oder (aristotelisch) der Formen verlegt würde.“ Dass im hebräischen Denken die griechische Weise des Philosophierens nicht vorhanden ist, wird verständlich, wenn die unterschiedlichen Ausgangspunkte: Sein -griechisch- und Beziehung -hebräisch- bedacht werden: „Für den Griechen bildet der Kosmos als Medium der Epiphanie den Erfahrungshorizont, in den alle Reflexionen eingetragen sind; für den Hebräer ist der dominierende Erfahrungshorizont jedoch die Geschichte, die Geschichte Israels, genauer gesagt: die (nicht nur in der Geschichte, sondern) als Geschichte geschehende Epiphanie der Transzendenz“, was eben die Differenzierung und den Unterschied nach sich zieht „Der Hebräer hat keinen Seinsbegriff im greichischen Sinne, der Grieche hat keinen Geschichtsverständnis im hebräischen Sinne.“ (Schlette Heinz Robert S.15 in: Englert/Gössmann, Was ist Theologie? München 1966, S.9-24)

Wie nachfolgend dargelegt wird, sind also ‚griechische’ und ‚hebräische’ Wirklichkeit aufgrund ihrer Auswirkung als Wirklichkeitserlebnis und -wahrnehmung in ihrer Verbindung und Ausrichtung dabei auch auf Raum und Zeit unterschiedlich axiomatisiert d.h. jeweils unterschiedlich im Wechsel gesetzt, grundgelegt und erfasst. Das Christentum hat Raum und Zeit später als zwei ‚gleich-gewichtige’ komplementäre Größen verbunden und weiterentwickelt, so dass Kant dann Raum und Zeit als die aller Wahrnehmung vorgegebenen apriorischen Anschauungsformen beschreiben konnte. Nach Kant erfahren, denken, ordnen wir demgemäß stets raum-zeitlich. Doch im Rückblick auf die vorchristliche Zeit kann gefragt werden, wie haben die Hebräer und die Griechen damals den Raum in seiner Dreidimensionalität durch Hören bzw. Sehen wahrnehmen und ermessen können, wie und wo haben sie die Zeit fassen können? Denn gerade die Zeit zu präzisieren ist schwerlich. Mit dem Kirchenvater Augustinus kann man fragen und antworten: „Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären will, weiß ich es nicht.“ Zeit prägte unser Dasein und jeglichen Lebensaspekt. Ihr zueigen ist scheinbar eine Vielfalt von Dimensionen. „Zwischen realem und idealem Status, zwischen objektiver und subjektiver Natur, zwischen metaphysischen und existenzialontologischen Bestimmungen, das Wesen der Zeit lässt sich offensichtlich nicht widerspruchsfrei definieren“ (Hinze, S.168).

In diesem Beitrag geht es daher auch darum, sich über das jeweilige Menschenbild und seine Weltsicht dem Phänomen von Zeit und Raum mittels Hören und/oder Sehen zu nähern. So setzen wir uns der Frage aus, gibt es unterschiedliche Gewichtungen in der Wirklichkeitssicht und entwickelten Menschen durch Hören bzw. Sehen entsprechende Denkweisen, die Raum und Zeit einst unterschiedlich denkerisch erfassten, systematisierten und handelnd bewältigten. Und wie und wann ordneten sie sich unterschiedlich zu und bzw. oder ergänzen sie sich gleichwertig komplementär, soweit rational entschlüsselbar. Es liegt die Vermutung nahe, dass zum Erfassen von Wirklichkeit bei den Hebräern die Zeit maßgebend war und bei den Griechen der Raum; entsprechend bewirkte dies bei den Hebräern dank der (Gottes-)Beziehung ein Glaubens-System, bei den Griechen hingegen aufgrund der (Selbst-)Beziehung ein Logik-System mittels bedachter (räumlicher) Dreidimensionalität.

Wirklichkeit erlebt der Mensch zugleich als „Beziehung“ und als „System“

– Beziehung und System bedingen und ergänzen sich komplementär im Widerspruch; so beinhaltet Menschsein zugleich ganzheitliches ‚System‘ und punktuellen ‚Beziehungs-Part‘, die sich jeweils komplementär ergänzen d.h. lässt sich z.B. biblisch die Beziehung: Gott-Mensch als Axiom setzen, leitet sich daraus ein zeit-geschichtliches System des Volkes Israel ab; hingegen strebt jedes griechische ganzheitliche ‚Logik-System‘ im Dialog und Widerspruch nach Anerkennung und Wahrheit. Zwei Denkweisen -von der Beziehung bzw. vom System ausgehend- dienen somit dem Menschen seit alters bei der Wirklichkeits-Erfassung, die sich im christlichen Kontext bildhaft so umschreiben lassen: Die eine setzt die Geburt als Axiom ein und alles was sich von dort her entwickelt und nachweisen lässt folgt einem Lebens-System gleich als persönlicher und individueller Lebenslauf; die andere Wirklichkeitserfassung setzt im Tod ein, und alles, was aus diesem Blickwinkel für menschliches Leben bedacht und gedeutet werden kann, trägt ebenfalls Züge eines Systems, sprich Glaubens-Systems. Beides, Anfang und Ende des Lebens umfasst und gehört somit zum menschlichen Leben und die eine Wirklichkeitssicht, die in sich eine logische Denkweise ist, schließt die andere nicht aus, sondern ‚bedarf’ dieser zur Ergänzung. Ich kann also das Leben von der Geburt her sichten, ihm einen Sinn geben und erklären. Dazu verhilft mir die zeitliche Sichtweise mit Blick auf das Leben nach vorn. Ich blicke dabei primär als Einzelner auf meine persönliche Zukunft, sekundär auf die der Gesamtheit. Denn offen bleibt letztlich die Zukunft genauso wie die Sinnfrage. Oder ich blicke vom Tod her auf das Leben und beginne zu deuten, was dies oder jenes im Leben bewirkt hat, deute es, gebe ihm Bedeutung und Sinn. Bei dieser Denkweise und Betrachtungsweise der Wirklichkeit blicke ich gleichsam stets auf das Leben zurück, nicht nur des Einzelnen, sondern des Kollektivs, der Ganzheit, des Volkes. Wird diese Sichtweise dem Glauben zugeordnet, dann kann die andere Sichtweise dem Wissen zueigen bezeichnet werden. Denken wir an unseren christlichen Glauben, lässt sich dies verstehen und nachzeichnen. Der Glaube bekommt seine besondere, ausschließliche und einmalige Qualität, wenn gesagt wird, im Tod ist das Leben. Somit gründet und beginnt der Christliche Glaube mit Tod und Auferstehung. Freilich kommt im Phänomen von Auferstehung zugleich auch die andere Größe zur Gewichtung und Diskussion, nämlich die Auferweckung, wie wir es im alttestamentlichen, biblischen Denken grundgelegt haben: Nämlich durch Gott Vater. Hier wird hebräisch, ‚biblisch’ ergänzt, was griechisch, insbesondere ‚platonisch’ vorgegeben und gedacht, erfahren und erlebt wird.

Gehe ich von Tod und Auferstehung aus, dann bedingt diese Axiomsetzung, dass ich in einer „Beziehung“ d.h. in der Beziehung: Gott-Mensch stehe und aus dieser Beziehung existiere ich. Dann bin ich gleichsam ein menschlicher ‚Punkt’ in Zeit und Raum, der sich in Beziehung verankert weiß und von dort aus die Erde erkundet, erlebt und deutet. Bin ich hingegen im Blickwinkel der ‚Geburt’, dann setze ich den Menschen in seiner Einmaligkeit als Lebens-‚System’ voraus und leite davon dessen menschliche Wirklichkeit ab. Daraus haben die Griechen vermutlich einst genauso wie alle anderen Völker ‚materialistisch’ die Lebenswirklichkeit gesehen, entwickelt und gedeutet, wie die Hebräer sich ‚im-materiell’, d.h. transzendent verankert und beheimatet wussten.

Bei dieser Annahme ist davon auszugehen, dass Wirklichkeitserfassung bei den Hebräern aus „Beziehung“ und bei den Griechen: zum „System“ erfolgte; auf diese beiden Begriffe lassen sich demnach auch hebräisches ‚Glauben’ und griechisches ‚Wissen’ reduzieren. Dem Glauben liegt die menschliche Vertrauens-Beziehung zu Gott zugrunde und dem Wissen die in einem Logos-System erfasste (menschliche) Wirklichkeit(s-Sicht). Beziehung, sozial immanent oder religiös transzendent, ist dabei person-überschreitend eine elementare Voraussetzung des Menschen, um existentiell und gesellschaftlich sinnvoll zu leben, und wird hier als transzendente Interaktion zwischen Gott und Mensch verstanden, das sich geschichtlich d.h. in der Zeitdimension zum System ausbaut. Im Urvertrauen erlernt und verinnerlicht der Mensch durch Beziehung positive und negative Qualitäten. Ist der „Beziehung“ die Verbindung zwischen ICH und DU, zwischen Mensch und Gott, zwischen Immanenz und Transzendenz … zueigen, ist sie letztlich persönlich, subjektiv und individuell, und ihr obliegt die ‚Interpretation’. Hingegen ist das „System“ im griechischen Verständnis per se ‚Konstruktion’, ein Erfassen natürlicher Vorgabe wie Natur oder (menschlicher) Körper. Jedoch kann als „System“ auch die Beziehung zwischen Gott und Mensch als Relation im engen Zusammenhang mit diesem Begriff gesehen werden. Ein System (griechisch σύστημα, „das Gebilde, Zusammengestellte, Verbundene“) ist eine Gesamtheit von Elementen, die so aufeinander bezogen sind und im Wechsel wirken, dass sie als eine aufgaben-, sinn- oder zweckgebundene Einheit angesehen werden können, und sich gegenüber der sie umgebenden Umwelt abgrenzt. Systeme organisieren und erhalten sich durch Strukturen d.h. durch Systemelemente und ihrer Beziehungsgeflechte, die ein System entstehen, funktionieren und erhalten lassen. Ein System ist ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes. In der Systemtheorie versteht man unter der Struktur eines Systems die Menge aller Relationen zwischen den einzelnen Elementen des Systems. Solange von ‚Interpretation’ gesprochen wird, bleibt die äußere Wirklichkeit etwas, das der Einzelne als Gegebenheit glaubt, darauf vertraut und baut, gleichsam als Faktum vorfindet, und zu der er sich zu verhalten hat. Der Begriff der ‚Konstruktion’ dagegen enthält ein aktivistisches Moment, legt er doch das Bild eines Menschen nahe, der planmäßig ein (Gedanken-)Gebäude errichtet und die äußere Wirklichkeit dabei gleichsam nur als Steinbruch nutzt, aus dem er mehr oder weniger willkürlich die Brocken herausschlägt, die zu seinem Bauplan passen. Beide Denkansätze von Hebräern und Griechen sind beim Wirklichkeit-erfassen dienlich, das Bewusstsein zu schärfen, dass das, was wir als Wirklichkeit im Kopf haben, bestenfalls ein höchst unvollkommener Nachbau von Wirklichkeit ist, sei es im Glauben an die ‚Beziehung’ oder im ‚Wissen’ um das System. Mit einer solchen Perspektive ist freilich die Gefahr verbunden, Wirklichkeit falsch zu verstehen, so als wären alle Konstruktionen mit ihrem Anspruch von Objektivität gleichermaßen richtig, gut und legitim. Daher birgt die Zuspitzung des vorliegenden Denkansatzes die Gefahr, dass im Detail zerrissen werden kann, was in der abstrakten Annahme und Axiomsetzung der Einheit dient.

Mit Blick auf die Ausgangslage vor über zwei Jahrtausenden ist dem ‚komplementären Denken’ maßgebend, dass geschichtlicher Ursprung und jeweiliges Menschenbild bei Hebräern und Griechen je eigenständig sind und sich jeweils in geschlossenen Erklärungssystemen entwickelt haben. Beim Erfassen und Festlegen von ‚Wirklichkeit’ können sie daher jeweils von der Beziehung zum System hebräisch, und vom System zur Beziehung griechisch komplementär und in Wechselwirkung gesehen und bedacht werden. In beiden Kulturen kristallisierte sich jeweils ein Wirklichkeitsverständnis heraus, das in seiner jeweiligen Weltsicht in unterschiedlicher d.h. umgekehrter Zuordnung gesehen werden kann. Dies beantwortet die Frage, ‚wie’ und ‚wodurch’ kommt das jeweilige Wirklichkeitsverständnis zustande. Ist davon auszugehen, die Erfahrungs- und Erlebniswerte von ‚Wirklichkeit’, die der Mensch mit seinen fünf Sinnen spüren und erfassen kann, sind in beiden Kulturen der Hebräer und Griechen unterschiedlich ‚kultiviert’ worden? Entfaltet sich das Bewusstsein darin und dafür durch den Wahrnehmungsbereich des Hörens bzw. des Sehens jeweils anders, wenn einer vorherrschend ist?

Wurzeln hebräischer Weltsicht und Wirklichkeits-Erfassung

Der Hebräer lebte und fühlte wie erörtert akustisch und auditativ, was zu einem tiefen Verständnis für die Dynamik des Lebens führte. Erfasste er beim Hören und mit dem Hören sein Wirklichkeits-Verständnis, wurde das gesprochene Wort und der gehörte Ton zum prägenden und bestimmenden Instrumentarium bei der akustischen Erfassung von Wirklichkeit. Diese erlebte er durch die Schöpfungsgeschichte begründet als einen Entwicklungsprozess, in dem das Verhältnis, die Beziehung zwischen seinem Schöpfergott und dem Mensch als Geschöpf grundlegend war und somit das Denken des Menschen bei dieser Zweiheit ‚zugleich’ aus menschlicher wie göttlicher Sicht d.h. der Mensch denkt aufgrund seiner Beziehung: Mensch-Gott ‚zugleich’ aus der Dimension Gottes und seine entsprechende sozio-kulturelle Weltsicht ist dabei auditativer Art.

Ethnologisch finden sich die Wurzeln für diese Entwicklung der Hebräer im Vorderen Orient bei der semitischen Sprachenfamilie. Wahrscheinlich liegen asiatisch-afrikanische Wurzeln der semitische Herkunft zugrunde, die sich in der Weltsicht von Nachbarvölkern wiederfindet und so auch die hebräische Sprachenfamilie prägte, der das spätere Volk Israel entstammt. Für Jeremy Rifkin bildeten die Hebräer das erste Volk, „das seine Herkunft dank des geschriebenen Wortes nicht auf kosmologische, mythologische Ursprünge zurückführt, sondern auf tatsächliche historische und ganz irdische Ereignisse. Sie entwickelten eine Vorstellung von Geschichte, was sich als ein entscheidender Wendepunkt in der Evolution des menschlichen Bewusstseins anzeigt. „Im mythologischen Bewusstsein existiert die Vergangenheit nicht als chronologische, sondern als zyklische Periode … Das historische Denken zeichnet sich durch die Grundannahme aus, dass jedes Ereignis und jede Einzelepisode einmalig, endlich und unwiederholbar ist. Es fördert das Bewusstsein für die Bedeutung, die das Leben und die Erlebnisse jedes Einzelnen besitzen. Und erst durch die Fähigkeit, sich eine einzigartige persönliche Geschichte mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vorzustellen, entwickelt sich schließlich ein einzigartiges Selbst.“(Jeremy Rifkin,S.152) Das einzigartige Selbst umfasste dabei das einzelne menschliche Geschöpf seit Erschaffung des Menschen und steht später, durch die Stammväter Abraham, Isaak und Jakob bedingt, für ein Bundes-Verhältnis mit Gott Jahwe.

Die Geschichte dieses Volkes beginnt mit der Niederlassung von nomadisierenden semitischen Stämmen aus der syrisch-arabischen Wüste und dem Negev in einem Gebiet namens ‚Kanaan’. Seit den dritten Jahrtausend v.Chr. wird es als Stammland beansprucht. Vermutlich waren einst von hier aus Splittergruppen ins Zweistromland gezogen, die unter Abrahams Führung wieder hierher zurückgebracht wurden. Die Besetzung Kanaans durch die israelitischen Stämme ist ein sich in mehreren Etappen vollziehender Vorgang, der als ‚Landnahme’ bezeichnet wird. In der um 1350 v.Chr. erfolgten Gesetzgebung und Landnahme hat sich die Verehrung des Gottes Jahwe ebenso wie der Name „Israel“ (Gotteskämpfer) für das Volk durchgesetzt. Mit dem ‚Landtag zu Sichem’ (AT, Josua, Kap 24) erfolgte die Übernahme der Verehrung Jahwes durch alle in Kanaan ansässigen gewordenen Stämme Israels. Dieser Volksverband „Israel“ steht somit seit Anbeginn in enger Verbundenheit mit dem Gott Jahwe, der sich durch einen göttlichen Stiftungsakt als Stämmeverband entstanden und verbunden weiß. Aus diesem Beziehungs-Geschehen: Jahwe – Hebräer wurde ein Beziehungs-Verständnis, was ein Bund besiegelte. Die vorausgehenden, sogenannten „Väter-Gottheiten“ wurden aufgegeben. Sie sind bereits mit starker personaler Bindung und deutlich monotheistischen Zügen verehrt worden und ihnen hatten die nomadischen und halbnomadischem Stämme Israels gehuldigt. Die auditative Wahrnehmung und reflektierte Erinnerung der Hebräer war dabei von wesentlicher Bedeutung und hat die stete Beziehungs-Gegenwart Jahwes mit Erlebnissen ‚füllen’ lassen, woraus sich bei den Hebräern ein (geschichtliches) Beziehungsverhältnis zwischen Gott und Mensch und daraus folgend der Bund zwischen Jahwe und Israel erklären lässt.

von der Beziehung: Gott–Mensch zum Beziehungs-Bund: Gott Jahwe-Volk Israel Mag der Selbstwiderspruch Jahwes im AT grundsätzlicher Art sein, und erfolgt dann später in Jesu Tod gerade deswegen die Auferstehung, so ist beides im hebräischen Bewusstsein bereits verankert als Beziehung zwischen Gott und Mensch, im persönlichen Beziehungs-Verhältnis: Jahwe – Hebräer/Israelit/Jude und kollektiv: Gott Jahwe – Jahwes Familie. Diese Beziehung füllt die ewige ‚Gegenwart’ (Gottes) und offenbart sich zugleich als gedeuteter Inhalt. Jahwes Beziehungs-Bund mit seinem Volk erstreckt sich auf ein Verständnis und die Wesenseigenschaften von ewig gegenwärtiger Zeit genauso wie er Israels Heils-Geschichte durch seine unendliche Gegenwart bedingt. Er verkörpert inhaltlich das dynamische Beziehungs-Geschehen von Jahwe und Volk und ist als ‚Zwischen’ für das Volk gleich einem Spannungsbogen von Verheißung und Erwartung auf Erfüllung hin ausrichtet. Als ‚kollektives Urvertrauen’ nimmt Israel gleichsam als ‚Zwischen’ diese Bundes-Beziehung in alle künftige Beziehungen und Beziehungsmomente mit hinein und der Mensch kann sich der Schöpfung frei zuwenden, weil er sich sicher ist d.h. erwählt weiß, diese Gebundenheit verlässt ihn nicht mehr. Durch diese sichere Bindung erhält das Volk eine stärkere Selbständigkeit und kann sich als Gesamtheit von Menschen/Menschheit Jahwe gegenüber in Freiheit dieser Einheit sehen. Denn als Volk Israel ist es von Jahwe in und für diese Beziehung ‚zeichenhaft’ auserwählt und darf sich als ’Jahwes Volk’ (354 mal im AT) und sein „Eigentum“ bezeichnen. Beziehung und Auserwählung als Jahwes Volk sind die besonderen Merkmale persönlicher wie kollektiver Art für den zeitlichen, stetig gegenwärtigen Bestand und geschichtlichen Fortbestand. ‚Volk’ gleicht dabei einer blutsverwandten, familiären Vernetzung. Anstelle ‚am’ für Volk. Dem späteren Gebrauch von ‚Volk Gottes’ liegt daher die ursprüngliche Übersetzung mit Familie, Sippe, Verwandtschaft im hebräischen Sprachgebrauch näher. (vgl. Norbert Lohfink, S.115f). Die Bundesidee zwischen Jahwe und seinem Volk Israel bleibt dauerhaft ein „theologischer Glutkern“ wie es Jürgen Habermas hervorhebt und „die Bundesgenossenschaft Jahwes mit seinem Volk ist letztlich die Urzelle der Kommunikationsgemeinschaft“ (vgl CiG, Nr.26/2009, S.290), auch wenn neben dem Volk Israel noch andere Völker mit ihren Göttern lebten, wie dies z.B. bei den Moabitern, Israels östliche Nachbarn, als Kamoschs Volk der Fall war. Doch Israels Beziehung und Auserwählung nahm einen anderen geschichtlichen Verlauf. Denn, so ist anzunehmen, aufgrund der Selbstwidersprüchlichkeit Jahwes und seiner Notwendigkeit von Sicherheit, denkt der ‚Hebräer’ gleichsam in seiner ‚hebräischen’ Urzelle stets von Gott her, d.h. er deutet bzw. weiß um den Ursprung seines Deutens und Denkens in Jahwes Gegenwart.

Denken von Gott her ist dem Volk Israel bei diesem ‚ewig’ gegenwärtigen Beziehungs-Geschehen zueigen. Gott Jahwe steht in seiner ewigen Gegenwart nicht nur für die Zeit, sondern ist auch Ursache, Initiator der Schöpfung selbst und somit auch des menschlichen Denkvermögens, dessen sich der Mensch als Geschöpf bedient – wobei das Hören auf Gott Jahwe des Menschen besondere Beziehungsausrichtung widerspiegelt. Jahwes Gegenwarts-Beziehung bedingt einen Beziehungs-Dialog in menschlicher Monologform, die dabei zugleich Züge geschichtlicher Wahrheit und Beweisführung trägt. Im gesprochenen wie später im geschriebenen Wort kann sich Gottes Gegenwart ‚offenbaren’, was stets menschliche Interpretation und Deutung erfordert. Das Handeln des Volkes wie des Einzelnen bedarf und bedingt somit Deutung aus der Kommunikations-Verbindung/Beziehung mit Jahwe, die dann in seiner Nähe oder Ferne stattfinden kann. Im Ritus werden nachfolgend auditative Wahrnehmung und subjektive Deutung des geschriebenen Wortes Gottes durch das Symbol visualisiert. Das ver-gegenwärtige Erleben ist somit eng dem menschlichen ‚Verstehen’ durch Deutung mit Verstand und Verständnis zuzuordnen. Fähigkeit und Einsicht sind erfordert, das Unwesentliche vom Wesentlichen zu trennen, was dabei bereits wieder der Deutung preisgegeben ist. So bediente man sich seit den frühesten Zeiten bei den Hebräern, um den Kern der Sache zu finden und zu vermitteln der Symbolik, der Erzählung, der Gleichnisse, und ruft durch Wiederholung das Wort als Vergegenwärtigung gleichsam in Erinnerung. Da sich diese Zeit-Kategorie in Gottes Schöpfung selbst abspielt, ist die Schöpfung der ewigen Gegenwart Gottes zugeordnet, und sie ereignet sich -da Jahwe immer ‚gegenwärtig’- zugleich als Lebens-Zeit, die dem menschlichem Lebens-Raum theoretisch und praktisch ‚vorgegeben’ ist.

Zeit als (ewige) Gegenwart Jahwes Des Menschen Zeit ist umfangen von Gottes ewiger Gegenwart. Der zeitliche Werdegang der Hebräer ereignet sich deshalb in Jahwes Gegenwart und ist ihr eingebunden. Für den biblischen Menschen wurde so die Zeit zum Maß aller Dinge. Die ewige Wandlung und Bewegung gehört zum Wesentlichen aller Dinge auf Erden. Im Hebräischen ist entsprechend alles um das Zeitwort aufgebaut, denn alles lebt und handelt gleichsam in steter Gegenwart Jahwes. Vom Axiom „Gott Jahwe“ her wird menschliches Sein gedacht, wird Lebensgeschichte wie Volksgeschichte erlebt und gedeutet, und erfährt menschliche Vergangenheit wie Zukunft im Ritus seine Ver-Gegenwärtigung. Dabei kann sich der Mensch in der zeitlichen Spannung zwischen Erleben ‚jetzt’ und Deutung ‚danach’ wiederfinden und ist der spannungsvollen Möglichkeit eines Widerspruchs ausgesetzt, was sich der Gott-Mensch-Beziehung in seiner zeitlichen Dimension innewohnt.

Zeit offenbart Selbstwidersprüchlichkeit Gottes, da der Wesenseinheit Jahwes auch Widerspruch zueigen ist. Dem Widerspruch ist der Hebräer als Geschöpf in seiner zeitlichen ‚Offenheit’ ausgesetzt und zugleich dank des Beziehungsverhältnisses: Jahwe–Israel geborgen eingebunden. Jahwes Selbstwiderspruch ist daher grundsätzlicher Art bei einer menschlichen linearen Zeitdeutung für den Hebräer/Israeliten/Juden des AT, da er als Gottes Geschöpf der (dreidimensionalen) Zeit ‚ausgesetzt’ und dem Raum der Schöpfung zugleich materiell eingebunden ist. Die „Selbstwidersprüchlichkeit“ Jahwes entspricht folgerichtig dem Gottesverständnis im Judentum, da erst aufgrund einer geschichtlich erfahrbaren Beziehung Jahwe sich dem Menschen situationsbedingt offenbart. Dieser Vorgang ist im Beziehungs-Verhältnis grundlegend, da das göttliche Wesen, das als personales Du dem Menschen ‚gegenüber’ steht, ‚auch’ durch bzw. in Widersprüchlichkeit erfahren und gedeutet werden kann bzw. muß. Das Beziehungsverhältnis zwischen Gott und Mensch kann vom Menschen dabei als nah und fern erfahren werden, und dies obliegt dem Menschen zur freien Deutung d.h. obgleich grundsätzlicher Natur lässt sich die widersprüchliche Eigenschaft Jahwes nur situativ seinem Wesen aufgrund der Beziehung zu-deuten. Da der Hebräer nicht im Zuge archaischer Divinisierung (Vergöttlichung) von Ursachen sich wider den Kräften der Natur Sicherheit verschaffte, sondern stattdessen sich selbst real-präsentisch in Jahwes Nähe hinein vergegenwärtigen kann, bleibt er geschichtlich dem Selbstwiderspruch grundsätzlich ‚ausgesetzt’ und machte sich mittels der Heilsgeschichte in Gottes Nähe –räumlich- und Gegenwart –zeitlich- fest. Undenkbare und geheimnisvolle Ursachen und Phänomene im Leben des Menschen sind jedoch aufgrund der Beziehung zu Gott im Ordnungsgefüge des ‚Glaubens‘ fest und geborgen. Mensch und Gott, die ja stetig in Jahwes Gegenwart sind, vergegenwärtigen sich miteinander im Beziehungs-Geschehen, im Ereignis, in der Situation mit sich und zugleich doch nicht ‚nur‘ mit sich selbst, was ebenfalls einem Selbstwiderspruch gleichkommt.

Bibelgeschichtlich kann allen Gottes-Begegnungen wie Wunder-Ereignissen dieses Phänomen zugeschrieben werden. Bei Abraham offenbart sich dies, als Gott ihn auf die Probe stellt bei Isaaks Opferung. (Gen 22,1-13) Bei Mose war es im brennenden Dornbusch der Wüste. Vergegenwärtigung und Selbstwidersprüchlichkeit Jahwes zeigen sich hier in der Wahrnehmung des Mose, dass er den Dornbusch brennend sieht, auf ihn zugeht, und zugleich diese Erscheinung dank seiner Gottes-Beziehung mit Jahwe deutet, da der brennende Dornbusch nicht verbrennt, vielmehr vernimmt er aus ihm heraus die Stimme: „Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs.“ (Gen 3,6) Solchem Selbstwiderspruch Jahwes ist auch Jona bei seinem Ninive-Untergangs-Auftrag ausgeliefert. Er weiß um den gnädigen und barmherzigen Gott, langmütig und voll Güte. Doch er hat den Auftrag, dieser Stadt den Untergang zu künden. Eine unerträgliche Widersprüchlichkeit Gottes. Jona will fliehen, um nicht zwischen den beiden Seiten Jahwes zerrieben zu werden. Doch seine erste Flucht scheitert. Dann scheint ihm sein eigener Tod der einzige Ausweg zu sein, statt ein Leben mit den Widersprüchen Gottes leben zu müssen. (vgl. Jona 4,1-4)

Die Selbstwidersprüchlichkeit Gottes in Erscheinung und Verkündung ist immer wieder ein Kennzeichen in der biblischen Tradition des Alten Testaments, und wird dann durch Jesus Christus und im kontradiktorischen Vorgang von Auferweckung und Auferstehung im NT zum Axiom für das theologische wie ekklesiologische Denken. Das Menschenleben des Juden Jesus zwischen Geburt im Stall und Tod auf Golgatha beinhaltet den Selbstwiderspruch: Jesus Christus, als Menschen-Sohn und Gottes-Sohn. Der vormals situativen Selbstwidersprüchlichkeit Jahwes, wie z.B. bei Abrahams Opferung, folgt in Jesus Christus eine den christlichen Glauben konstituierende Selbstwidersprüchlichkeit, die in der Gottheit und Menschheit Jesu Christi genauso präsent ist, wie in Jesu Opfertod am Kreuz, im Messiasverständnis seiner Anhänger oder im theologischen Himmel-Hölle-Disput bis hin zum Spannungsbogen Schöpfergott und Weltenrichter. Daran reiben sich christliches Bewusstsein und theologisches Denken. So war ein leidender und gekreuzigter Messias für das damalige Israel ein absurder Selbstwiderspruch, um so mehr als Jesus „sich niemals öffentlich als Messias offenbarte, sondern es aufs strengste verbot, ihn als solchen zu bezeichnen … Was immer Jesus von Nazareth auch für die kleine Schar der jüdischen Zeugen seiner Auferstehung, und später für die Heidenkirche geworden ist, für das jüdische Volk war er nicht der Messias Israels.“(Pinchas Lapide) Oder dann der Blick auf die die Bilderwelt von Himmel und Hölle mit all seinen moralischen und pastoralen Konsequenzen birgt letztlich diesen Selbstwiderspruch Gottes. Seit dem Mittelalter hat er sich mit dem Jüngsten Gericht im christlichen Denken bei der Vorstellung von Tod und Auferstehung festgesetzt. Zutiefst unchristlich aber erscheint diese Bilderwelt von Himmel und Hölle, um den Übergang ins Jenseits zu erklären bzw. zu regeln, wodurch gute Werke belohnt und schlechte Taten bestraft werden. Diese Gerichtsvorstellung ist schöpfungsfeindlich. Schöpfergott und Richtergott scheinen bei diesem Disput verschiedene Götter zu sein. Der Richtergott am Ende der Zeiten scheint doch die Verheißung der Treue wie die Eigenschaft der Liebe des Schöpfers zu seinen Geschöpfen zu zerstören? „Egal, ob es sich um einen Selbstwiderspruch Gottes oder um verschiedene Götter handelt: Das biblische Gottvertrauen ist zerstört. Ebenso das Vertrauen in Jesus. Denn der richtende Christus mit dem zweischneidigen Schwert hat mit dem krankenheilenden, sündenvergebenden Bergprediger Jesus von Nazareth nichts zu tun. Die Vorstellung vom vernichtenden Strafgericht ist ein extreme gottloses Bild.“ (Jürgen Moltmann)

Deutungs-Hoheit und Entscheidungs-Freiheit im Lebens-Raum der Schöpfung hat der Mensch als ‚Gottes Ebenbild’ für seine Erlebnisse und Erfahrungen auf der Zeit-Schiene inne. Dank der axiomatisierten Gegenwart Jahwes ist der menschliche ‚Zwischen-Zustand’ des zeitbegrenzten Menschen als Beziehungs-Innen-Dimension im ewigen Gott Jahwe eingebunden. Jahwes Gegenwart bewirkt somit auf einer zweiten Ebene durch menschliche Deutung ‚von Innen’ her diesen (Beziehungs-)Sinn und diese Bedeutung. Somit ist Jahwes Freiheit der freien Entscheidung des Menschen gegenübergesetzt. Menschliche Beziehung zu Jahwe und göttliche Beziehung zum Menschen erhalten somit eine gegenseitige und ‚zugleich’ subjektive Deutung persönlicher Lebens-Zeit als Sinn-Gabe, die im kollektiven Bundes-Erweis auch von prophetischer Art sein kann. Solch menschliche individuelle Lebenseinheit mit (dem immer gegenwärtigen) Gott, dem Herrn der ‚Zeit’, kann aber nicht, wie dies beim Raum in seiner Dreidimensionalität der Fall ist, geteilt werden, sondern ist und bleibt ein in sich lebenslanges dynamisches Beziehungs-Geschehen von Gott und Mensch. Kollektiv gesehen, birgt also dieses Beziehungs-Geschehen für das Volk Israel zugleich als ‚Lebens-Einheit’ geschichtliches Entwicklungspotential. Bei Jesus hat sich später diese ‚Lebens-Einheit’ individualisiert und personalisiert d.h. im Beziehungs-Geschehen ewiger Gegenwart Jahwes löst -nach christlichem Verständnis- die Person Jesus die messianische Verheißung ein, und die geschichtlich vorausgehende ‚Du-Position’ des Volkes Israel als Verhältnis zu Jahwe wird durch sein Gott-Vater-Verhältnis ab gelöst. Es folgt der ‚Neue Bund’ als persönliches und individuelles Beziehungs-Geschehen und Bekenntnis des Einzelnen in der christlichen Glaubens-Gemeinschaft. Im Credo bekennt der Christ sich persönlich zur Gottes-„Beziehung“ und weiß sich ‚griechisch’ im „System“ der kirchlichen ‚Glaubens-Gemeinschaft’ beheimatet und im Volk Gottes ‚neu’ eingebunden – hebräisch gesehen.

Leben im Raum von Gottes Schöpfung verkörpert ‚Zeit-Geschehen’. Der Mensch handelt darin individuell wie kollektiv. Dem Raum in seiner Dreidimensionalität ist die Zeit zugebunden, die linear gemäß den zeitlichen Größen Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft gedeutet und mit natürlichem und menschlichem Handeln durchwirkt, gefüllt und verändert wird. Der Mensch als Gottes Ebenbild soll dabei verantwortlich und zielgerichtet nach außen durch Gestaltung von Gottes Schöpfung handeln und dies geschichtlich in Stellvertretung, um der Ehre Jahwes willen tun. Bei Auseinandersetzungen mit anderen Personen innerhalb des Volkes ist Handeln nach Jahwes Willen erforderlich und außerhalb -wider anderen Völkern- geschieht dies gemäß Jahwes Auftrag. So handelt der Mensch im Zeit-Geschehen selbst dank der Beziehung: Gott-Mensch als Gottes Ebenbild und ist dabei Objekt der Zeit; zugleich aber handelt er im Raum als Geschöpf in ‚Gottes Schöpfung’ und ist Handlungs-Subjekt. Ist Jahwe die Zeit und der Raum Objekt der Zeit, dann ist der Mensch aber auch beides zugleich: ein zeitliches Handlungs-Subjekt und ein räumliches Handlungs-Objekt. Die Qualität von Zeit als Gegenwart: Jahwe – Mensch bedingt, dass die Zeit Heils-Zeit ist. Der Mensch kann die Zeit inhaltlich mit qualitativen ‚gegenwärtigen’ Zeit-Punkten Jahwes wie einen Raum zugleich als Schöpfung Gottes füllen, der selbst seiner geschichtlichen linearen Zeit-Dimension wegen von quantitativer Art ist.

Griechische Weltsicht und Wirklichkeits-Erfassung: visuell

Der Grieche sah und betrachtete die Welt visuell. Er richtete das Auge als sein Hauptorgan auf Räumlichkeit und auf den statischen Zustand der Dinge. Um das Wesen der Dinge zu erfassen, sieht der Grieche von den wechselnden Zufälligkeiten ab; er abstrahiert, um das Bleibende als seine Seele zu erfassen und systematisiert dies.

Denken vom Menschen her ist der griechischen Wirklichkeitserfassung wesentlich. Mit seinen Augen und seinem geistigen Vermögen erfasst der Grieche seinen Lebensraum. Die von ihm erkannte Wirklichkeit und sein Wissensstand sind von jedem überprüfbar. Es war ein Denken, das nicht nach dem Wie, sondern nach dem Warum fragte, vom menschlichen Denkvermögen des Ich ausgeht und unmittelbar dies als Wahrheit verkündet. „Ich“, so spricht Heraklit (*540) am Anfang seines Buches, „ich erkläre die Dinge aus dem Logos, nach dem alles geschieht, indem ich ein jedes in seiner Natur auseinandernehme und aufzeige, wie es sich verhält“. Nach Platon dient entsprechend das Denken dazu, unsere menschliche Erfahrungswelt als Abbild der ewigen, übersinnlichen Welt in ihrem seienden, ruhenden und räumlichen Zustand zu erkennen. Entsprechend hat die Zeit ihren physikalischen Charakter des Kreises und der Wiederholung und ist dem ‚ewigen’ Raum zugeordnet

Erkenntnis und Logik-System Den Vorsokratikern ging es demgemäß beim Logos um die Darlegung und Erklärung der immergültigen Gesamtordnung des Wirklichen, die das ständige Werden und Vergehen im Einzelnen übersteigt. Eine Erkenntnis wurde durch Wissen zum denkerischen System, das mit dem Wahrheitsanspruch einherging. Der große Systematiker Aristoteles nannte daher auch die vorsokratischen Denker „Physiologen“, also Naturerklärer und Naturdeuter. Natur (physis) ist dabei für die Griechen das, was in einem bleibenden Zusammenhang nach festen Regeln „immer von neuem entsteht“ oder „erwächst“ und im gleichen Rhythmus auch wieder verschwindet. Wissen und Erkenntnis der Griechen erfasste und umfasste im Hellenismus Naturforscher, Philosophen und Historiker gleichermaßen. Durch das Messbare fanden sie Erkenntnis, die von einem Punkt, einem Axiom aus zum System ausgebaut werden konnte. „Nicht das einzelne Ding macht die Natur aus, sondern sein Wesen und Weben nach Gesetzen und in einem Ganzen, das bleibt und sie treibt. Da es immer wieder gleich oder ähnlich geschieht, destilliert sich das Was oder Wesen des Natürlichen als verlässlich begreifbar heraus, obwohl es fort und fort im Wandel begriffen ist. Wie das denkbar ist, wie die Stabilität des Alls und der Wandel der Dinge zusammenhängen, das hat die Vorsokratiker in immer neuen Anläufen beschäftigt“ (Thomas Buchheim). Im Spiel menschlichen Denkvermögens liegen die Idee vom Kreislauf genauso begründet wie die Gegensatzlehre eines Alkmaion (lebte ca 520 v.Chr., Vater der Medizin und Schüler des Pythagoras). Nahtlos fügten sich so später Forschergeist und Lebenskunst bei den Stoikern zusammen, die für eine religiöse Deutung ihrer Lehre als vielseitige Denker dafür stets offen waren. Das aufgeklärte Weltbürgertum der Gebildeten war spirituell und zugleich tolerant. Ob es Scharen von Göttern gab oder letztlich nur einen einzigen, der mit der sonnenähnlichen All-Energie identisch war, blieb dem Einzelnen überlassen. Das Denken vom Menschen aus war maßgebend. Diese stoische Lebenseinstellung entsprach auch der bei den Römern, die an entsprechenden Jenseitsmodellen und kosmologischen Endzeitspekulationen weniger interessiert waren. Nüchterne Pragmatiker waren die Mächtigen und Philosophen der römischen Supermacht, die vor allem einfache, plausible Lebensregeln suchten und die geistig-moralischen Halt und Optimismus ohne asketische Weltflucht vermitteln wollten. (vgl. dazu Johannes Saltzwedel, in: Götter, Helden, Denker, S.250 ff)

Raum ist Zahl. Die visuelle Art griechischer Wirklichkeitserfassung entfaltete sich vom Raum her und baute sich jeweils zu einem System aus, was im lateinischen und europäischen Weltverständnis sich fortsetzte. Vom Sehvermögen hängt für den Griechen klares Denken ab, das durch Geometrie (Punkt, Strich, Linie) die Weltsicht mit ihrer Räumlichkeit als höchstes irdisches Sein erfassen und bemessen kann. Der Raum verkörpert hier eine dreidimensionale Qualität, die jeweils von einem Punkt Null ausgeht. „So sahen die Pythagoreer in der Zahl den Ursprung aller Erkenntnis. Zahl war ihnen alles, und alles wurde Zahl. Von der Eins aufwärts umspannte ihr säuberlich geordnetes Weltbild alle ganzen Zahlen und alle Zahlen, die sich aus dem Verhältnis ganzer Zahlen bilden ließen“ (Ulrich Jaeger, in: Götter, Helden, Denker, S.192). Grundlegend bestimmt diese Welt-Erfassung auch heute noch unser abendländisches Bewusstsein dank griechischer Philosophie, wodurch der Gedanke zum Gedanken-System wurde, was auch der späteren christlichen Theologie dienlich wurde. Die Gegenständlichkeit des Raums diente dem griechischen Bewusstsein, Inhalt und Form räumlich-quantitativ festzulegen und in Systemen zu ordnen.

Im Raum ist die Zeit gegenwärtig zwischen Vergangenheit und Zukunft. Den Raum zu erfassen ist stete Gegenwart und dem messbaren Handeln des Menschen ausgesetzt; ihn zu erleben geschieht durch die räumlichen Größen von Vergangenheit und Zukunft. Die Gegenwart selbst ist für den Griechen sinn-los und bedeutungs-los. Denn der endliche Raum wird von der Unendlichkeit und Ewigkeit der Götter her gedacht. Er verkörpert die Zeit als Chronos’, als eine reine inhaltslose, fortlaufende Bewegung, ohne Qualität. Dieses Zeitverständnis birgt in sich eine zyklische Form der Bewegung von stetiger Wiederholung (Morgen – Abend – Morgen) und entsprechend konnte später die Uhr zum passenden Messinstrument bei diesem Zeitverständnis werden. Das räumlich ausgerichtete Kreismodell finden wir in allen mythischen Kulturen, wodurch Götter wie Menschen zu passiven Empfängern von ‚gegenwärtiger’ Zeit werden. ‚Gegenwärtige’ Zeit hingegen ‚verräumlicht’ sich zur Geschichte, die sich mittels Zeitpunkt – Zeitlinie – Zeitstrecke durch eine einzelnes bzw. die Reihenfolge von Ereignissen anfüllt. Dann und so umfasst Zeit die Ganzheit zeitlicher Begebenheiten als Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft im kausalen Zusammenhang.

Der inhaltslosen Chronos-Zeit steht im Zeitpunkt selbst das inhaltsgewichtige Kairos-Ereignis mit Qualität gegenüber. Im Kairos selbst, im rechten Augenblick, ist die Zeit ‚gefüllt’. Ihre Gewichtung und ihren Wert bekommt die Zeit durch ihren Inhalt. Dies kann ein Erlebnis sein, eine Eingebung, eine Entscheidung; stets ist es eine qualitative Zeit, in der sich Leben für den Menschen gleichsam verdichtet mit seinem Glück und Unglück, mit seiner Nähe und Ferne. Hierin fußt auch der Brückenbogen zum Zeitverständnis der Hebräer, das der Beziehung entstammt und als ‚ewige’ Gegenwart Jahwes grundsätzlich qualitativer Art ist. Hierin lässt sich der ‚Kairos’ mit menschlicher Deutung füllen, die der ‚Heil-Zeit’ Jahwes entstammt und in Jesus Christus seinen Neubeginn hat.

Hebräer: Beziehung–Glauben–Zeit // Griechen: System-Wissen-Raum

Durch die beiden Wirklichkeitswahrnehmungen und –verständnisse bei Hebräern und Griechen war beiden Denkweisen der Absolutheitsanspruch implizit, der sich zwar gegenseitig relativierte, aber erst im Ereignis: Jesus Christus jeweils seine Relativierung im (hellenistischen) Raum-Zeit- bzw. (biblischen) Zeit-Raum-Denken erhielt. Zugleich erfuhren die (glaubende) „Beziehung“ und das (wissende) „System“ im menschlichen Denk-Vermögen jeweils ihre dialektische Ergänzung d.h. ‚ganzheitlichen’ Denken, primär der hebräischen Denkweise zueigen, steht der ‚differenzierten’ des hellenistischen Kulturkreises gegenüber bzw. kann sich miteinander verbinden d.h. beide können sich letztlich ‚unversöhnt’ gegenüber stehen und/oder komplementär ergänzen. Beide Arten von Wirklichkeitserfassung bedingen somit, dank ihres jeweils unterschiedlichen Wirklichkeitszugangs, dass heute -salopp gesprochen- der Glaube mittels Deuten wie Spekulieren eher zum Ganzheitlichen beiträgt, Wissen aber die Fähigkeit zum Differenzieren wie Fundieren beinhaltet. Dabei ist dem Glauben die „Beziehung“ zwischen Mensch und Gott -über das persönliche oder kollektive Menschsein hinaus- zueigen, hingegen ist dem Wissen das „System“ von Menschsein selbst und/oder sein räumlicher Kontext wesentlich, der sein Menschsein bedingt und bewirkt. Dem System ist eine ‚anthropozentrische’ Denkweise eigen, die insbesondere seit der Aufklärung als (natur)wissenschaftliche Denkform das abendländische Wirklichkeitsverständnis prägte und den ‚Glauben’ verdrängte bzw. zur Disposition stellte. War einst im hebräischen Denken das ‚Volk’ Israel selbst Träger dieser Wirklichkeitssicht und war es bei den Griechen die hellenistische ‚Kultur’, ist beides heute der gesellschaftlichen, abendländischen Entwicklung dialektisch eingebunden. Da sich dieser Prozess in Raum und Zeit abspielt, so die These, erfuhr die einstige Absolutsetzung der Zeit durch/in Gott (bei den Hebräern) –Wissen durch Aufklärung und Wissenschaft- genauso der Relativierung wie die Absolutsetzung des Raums durch die andere Dimension: Zeit; verkürzt gesprochen, die jeweils einseitige Absolutsetzung Raum bzw. Zeit erfuhren ihre Relativierung d.h. der (griechische) Raum erhielt durch Einstein im 20 Jh. seine Absolutheit mittels eine mathematische ‚Relativitäts-Annahme’ genommen, genauso wie bereits vorher durch die Aufklärung die Zeit des ‚geglaubten’ Gottes relativiert wurde. So ist die Absolutheit des Raums durch die Relativitätstheorie genauso relativ geworden wie einst die (göttliche) Absolutheit der Zeit vom Ebenbild Gottes abgelöst wurde, als er dem biblischen Glauben gemäß, Verantwortung für den Schöpfungs-Raum erhielt.

Der (objektive) physikalische Raum ist seit dem griechischen Mathematiker Euklid im vierten vorchristlichen Jahrhundert als dreidimensional (in Länge, Breite und Höhe) definiert. Diese Grundbestimmung wurde durch Albert Einsteins Relativitätstheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur vierdimensionalen Raum-Zeit. Die Zeit wird dabei mit dem Raum vereinigt verstanden. Das ist keine rein mathematische Konstruktion wie die Viele-Welten-Spekulationen, sondern ein neues Weltmodell, das durch Messungen und die Raumfahrt bestätigt wurde, jedoch als vierdimensionale Größe nicht mehr real darstellbar, sondern nur denkerisch vorstellbar bzw. berechenbar ist. Bedenkenswert in diesem Kontext ist die Überlegung zur Dimension ‚unendlich’, die in der Mathematik ständig unsichtbar präsent ist. Es ist in ihren Systemen eingeführt und jede Zahl lässt sich endlos hochrechnen, multiplizieren, dividieren, muss aber bei den Alltagsgleichungen nicht einkalkuliert werden. Damit bleibt die Frage offen, ob es nicht vielleicht doch so etwas wie eine reale Dimension ‚unendlich’ geben kann, die in allen Dingen präsent ist, wenngleich sie sich, wie der vierdimensionale Raum, nicht greifbar darstellen lässt, und kann doch zugleich die Antwort gegeben sein ‚unendlich’ ist existent und eine Realität, die sich nicht real und greifbar darstellen lässt, weil sie eine Realität jenseits von Raum und Zeit ist. (vgl. dazu Hans Küng, Was ich glaube, S.150)

Die (subjektive) wahrgenommene Zeit offenbart sich hin wiederum seit den biblischen Stammvätern ebenfalls dreidimensional (in Gegenwart mit Vergangenheit und Zukunft), ob im Kreis oder linear gesehen. Hierbei basiert d.h. axiomatisiert sich die Zeit im göttlichen Phänomen, dem ‚unendlich’ zueigen ist und wurde vom Menschen seit Anbeginn dreidimensional als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erlebt und bestimmt. Biblisch gesehen ist diese zeitliche Grundbestimmung seit Anbeginn Gottes Schöpfung zueigen und man hat auch hier mit einem vierdimensionalen Zeit-Raum zu tun. Der Raum wird dabei (als Gottes Schöpfung) mit der Zeit (als Gottes Gegenwart) vereinigt verstanden. Zeit als Gottes Gegenwart ist somit zugleich dem Raum eingebunden, auch wenn diese vierdimensionale Größe nur denkerisch im ‚Glauben’ vorstellbar und theologisch rationalisiert werden kann.

………….………Schaubild einer Systematisierung beider Denkweisen durch Vereinfachung…………………………….

Hebräer Griechen

semitisch – hebräisch – israelitisch griechisch – lateinisch – europäisch

Ohren/Gehör Sehen/Gesicht

auditive Art visuelle Art

Erinnern Erkennen

führt zum Verstehen; ‚bina’ heißt Verstehen, Verständnis, Einsicht; durch Klares Denken; dies hängt vom Sehvermögen ab-

Trennen des Unwesentlichen vom Wesentlichen und Wichtigen, ‚Augenmenschen’ erkennen durch Geometrie Ordnung;

um den Kern der Sache zu finden und dann ins Wort bringen und das ‚innere Auge’ vermag im Denken logos-gemäß

durch Erinnern mittels Gleichnis und Wiederholung, das höchste irdische Sein zu erkennen und weiß um

um verstehbar zu machen und um zu vertiefen das wirkliche d.h. göttliche Sein (Platon); d.h.

das für das Auge Unsichtbare und für die Sinne Unzugängliche sehen

Sprache, Musik => Variationen Architektur => Aufbauen

Sprechen/Hören Sehen

Ton/Laut Augen-Blick

Wort, innere Stimme Gegenstand, Sache

BEZIEHUNG ist Mensch-Sein Mensch-Sein als/im SYSTEM

nach Innen orientiert nach Außen orientiert

Kollektiv ist Eigenart und Wesen der Individuen. Kollektiv ist Menge und Anzahl von Individuen

im VOLK in der POLIS

GLAUBEN WISSEN

Vertrauen Wahrheit

Bewegung Stand/Sein

ZEIT-Kategorie RAUM-Kategorie

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D.Koschek; Quelle: www.adpic.de/lizenzfreie_bilder/Natur/Wolken/Herz_aus_Wolken_159000.html

11 Hebräer: Mensch mit ‚Herz’, Inmitten/‚Zwischen’ einem Beziehungs-Geschehen

Das Wolken-Herz am Himmel mag zeichenhaft und symbolträchtig zum Ausdruck bringen, was den Hebräer auszeichnet. Und was treffend Saint-Exupery seinem ‚Kleinen Prinzen’ in den Mund legte, der zum Fuchs sagte: „Nur mit dem Herzen sieht man gut“ d.h. man kann nur dann einer Sache und erst recht einem Menschen gerecht werden, wenn man mit dem Herzen ganz dabei ist. Solchem Grundgespür der Hebräer und ihrer Wertschätzung des Herzens scheint die neuere wissenschaftliche Forschung Recht zu geben. Denn man entdeckt heute: „Das Herz verfügt über eine eigene Intelligenz, ein eigenes Nervensystem, es kommuniziert mit unserem Körper, mit unserem Gehirn – und nimmt Einfluss auf unser Denken, Fühlen und Handeln“. Ein gesundes Herz, das über und über mit Blutgefäßen bedeckt ist, die es mit Sauerstoff versorgen dient der Aufgabe des Herzens, körperliche und psychische Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten und sie an das Gehirn weiterzusenden. So hat das Herz am oberen Ende des rechten Vorhofs Zellen, die schneller Elektrizität erzeugen, als die anderen Herzzellen. Diese Zellgruppe gibt den Takt vor und stellt gleichsam als ‚Gehirn’ des Herzens ein autonomes Kontrollsystem dar. So kann das Herz zuweilen unabhängig vom autonomen oder vegetativen Nervensystem und vom Gehirn selbst arbeiten. Denn dieses Netzwerk ermöglicht es dem Herzen, nicht nur unabhängig zu arbeiten und diese Vorgänge selbst zu koordinieren, sondern es verhilft auch zu lernen, sich zu erinnern und wahrzunehmen: Druck und Puls, hormonelle, chemische Informationen, aber auch Schmerz- und andere emotionale Signale leitet es in Form elektrischer Impulse an das zentrale Nervensystem weiter. Die Signale des Herzens verändern messbar die Hirnstrommuster und das Herz beeinflusst so am Ende Wahrnehmung und kognitive Fähigkeiten, aber auch Gefühle und Gesundheit. „Der alte Volksglaube, das Herz sei ein Sitz von Stolz, Liebe und Weisheit, scheint sich wissenschaftlich zu bestätigen.“ (Friederike Schön, in: Welt der Wunder, 9/10, S.89)

In der biblischen Tradition ist das Herz Ort von Einsicht und Erkenntnis. König Salomo bittet: „Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht“ (1 Kön 3,9). Die Gabe der Unterscheidung von Gut und Böse, eine ethische Fähigkeit von Erkenntnis entspringt seiner Beziehung zum Gott Jahwe und verkörpert eine Form des Wissens. Wer sich und die Welt sorgfältig beobachtet und die Beobachtungen auswertet, wird im Laufe des Lebens weise und zeugt von Wissen aus Erfahrung. So verkörpert das Herz für den Hebräer sein ganzes Leben als Lebenserfahrung, und offenbart leibhaftig und zeichenhaft ein stetiges gegenwärtiges Beziehungs-Geschehnis mit Gott Jahwe. Als biblischer Gott hatte er zahlreiche Namen, Bezeichnungen und Facetten inne, aber nur diesen Eigennamen ‚JHWH“. Inmitten dieser Beziehung erfährt sich der Hebräer und lebt ‚eigen-verantwortlich’ in der Spannweite von Jahwes Nähe bis Ferne. Das Sein vor Gott ist ein immer gegenwärtiges Da-Sein und zugleich ein ‚Zwischen’-Stand zwischen Gott und Welt, Himmel und Erde mit all seinem Nicht-Perfekt-Sein und seiner Unvollkommenheit. Als ‚Zwischen’ umspannt und bestimmt die Beziehung: Gott-Mensch menschliches Leben. Im Bewusstsein ist göttliche Gegenwart und sein Mensch-Sein ist zugleich als Beziehungs-Geschehen vom irdisch-zeitlichen Werden und Vergehen gezeichnet. Dies betont das hebräische Verständnis menschlicher Existenz im Alten wie Neuen Testament und entäußert sich im Bund zwischen Jahwe und seinem Volk, dem jeder Israelit durch Blut und Geburt ‚mit Leib und Seele’ eingebunden ist. Gott selbst als „JHWH“ ist zunächst kaum übersetzbar, seine zentralste Bedeutung wird allgemein mit „ich bin“ oder „ich bin da“ wiedergegeben, und ist aufgrund seines Wesens und Bundesverhältnisses mit dem Volk Israel eine bewusste sittliche Persönlichkeit, die zu den Israeliten kritisch, wie verheißungsvoll durch Propheten sprechen kann.

Solch familiäre Jahwe-Beziehung Israels umfasst: a) Leben des Einzelnen Israeliten als Lebens-Zeit und ist so ein (kleiner, individueller) Part von Daseins-Geschichte; b) das Leben des Volkes Israel als Bundes-Geschichte und ist so ein (größerer, kollektiver) Teil und verkörpert c) das Leben jedes (einzelnen) Menschen wie der (gesamten) Menschheit als Ebenbild Gottes und ist so der Gesamt-Teil. Als unaufhörliche Beziehungs-Bewegung ist jedes menschliche Einzel-Leben wie das des Volkes voller Ereignis- und Erlebnis-Dynamik eingebunden. Diese Lebens-Dynamik äußert sich in gegenseitiger Leidenschaft, Kraft und Motivation und offenbart Jahwes Wirken. Diese kollektive wie individuelle Beziehungs-Dynamik gründet bei den Israeliten im ursächlichen und selbstverständlichen Beziehungs-Geschehen. Jeder Israelit verkörpert so stellvertretend menschliches Sein und ist im Vollsinn des AT Persönlichkeit mit Namen. Name und Wesen sind aber im hebräischen Denken weitgehend identisch. Daher umfasst des Menschen innere Bewegung und Wirksamkeit das ‚Sein’, auch das Werden und Wirken d.h. er ‚lebt’ als Ebenbild Gottes zugleich selbst und in/mit Gott, und lebt die Geschichte Israels und den Willen Jahwes individuell wie kollektiv mit Herz d.h. mit ‚Herz-Blut’.

Den Herzschlag: Ebenbildlichkeit Gottes erlebt der Einzelne mit Namen und im Rahmen seiner Lebens-Zeit, in der Zeitpunkte und Zeitabstände sekundär sind: Ich finde als Gottes Geschöpf die Zeit in mir und ich bin nicht in die Zeit hineingestellt. Ihm geht es um den Ursprung durch Jahwes Schöpfung und um Gottes Auftrag, seinem Willen als Ebenbild zu entsprechen und die Gestaltung der Erde zu verantworten „mach dir die Erde untertan“ (Gen 1,28). Als ‚Zwischen’ erlebt der Israelit sein Leben ein Leben lang in diesem persönlichen Beziehungs-Geschehen von Gottes Nähe und Ferne, und er bedenkt seine persönliche Wirklichkeit, wie die des Volkes, mit dem Postulat von Gottes Willen. Die Wirklichkeit reflektiert und kritisiert er zugleich ‚prophetisch’, feiert sie ‚priesterlich’ und verantwortet sie ‚königlich’.

Der Herzschlag: Bundes-Geschichte Israels prägt jeden Einzelnen ein Leben lang und jeder bringt seinen persönlichen geistig-geistlichen Inhalt ein. Dies ist in Jahwes Bundesverhältnis zu seinem Volk Israel, in diese Beziehung: Mensch-Gott grundgelegt und wird -teils alljährlich- mit Worten der wiederholenden Verheißung und Erfüllung im Kult erneuert. Mit dem Gott Jahwe steht jeder Hebräer in Beziehung, da er durch das kollektive Bundesverhältnis mit ihm verbunden ist. Denn die Beziehung ist Inhalt der Geschichte Israels. So ist das Leben des Einzelnen durch die Volkszugehörigkeit einbezogen, da das Leben durch seine Geschichtlichkeit mit sich selbst identisch ist und bleibt. Vorväter und Jetzt-Lebende sind eine Einheit und das Leben des Volkes wird analog mit dem Leben des Einzelnen als Ganzheit empfunden; das Volk ist gleichsam im Gegenüber zu Jahwe eine Person. Im Welt-Bewusstsein Jahwes ist alles Geschehen seines Volkes auf ewig aufbewahrt und festgehalten. Gottes Worte und Taten sind somit ewig und unverwüstlich gleich der ‚Materie’.

Dem Herzschlag: Leben nach Gottes Willen soll jeder Mensch durch sein Handeln nachkommen und die Geschichte Israels als Heils-Geschichte Jahwes erleben und deuten können. Geistiges wie körperliches Vermögen ist einzusetzen, um dieses Ziel zu erreichen. Menschliches Leben als ‚Zwischen-Sein’ im Hebräischen erweist daher ganz anders als beim griechischen ‚Da-Sein’ auf der Handlungs-Ebene im Wollen mit einem anderen Hintergrund moralischer und ethischer Art. Der Mensch setzt sich als dynamischer ‚Zeit-Körper’ im Gegenüber zu dieser Zeit – die ja Jahwes Zeit und Gegenwart ist – in Beziehung, und erlebt sich als ‚Raum-Körper’ in Jahwes steter Gegenwart, den die Zeit einerseits auf Vergangenheit hin begrenzt, ihn aber auch auf Zukunft hin frei macht und mit Jahwes Verheißung – linear – gleichsam als wanderndes Volk Jahwes unterwegs sein lässt. Folglich entspringt auch der Beziehung (Menschen – Jahwe) die moralische Ausrichtung des Handlungsablaufs, wenn der Mensch in dieser Zeit von Jahwes Gegenwart handelt und das Heil Jahwes rituell einholt bzw. beauftragt dazu umsetzt und verwirklicht. Neben Gottes Willen und Lobpreis im Kult, will Gottes Willen der Welt das Heil durch seine Herrschaft erlebbar schenken. Wertorientiert wendet der Hebräer seinen Handlungs-Willen ganzheitlich dem Gemein-Wohl für das Volk Israel zu, dem jeder durch den ‚gerechten Gott’ teilhaft werden soll. Ein verantwortliches Heils-Handeln der Mächtigen nach Jahwes Gerechtigkeit in Verheißung wie als Forderung ist dafür maßgebend. Der menschliche Freiheits-Akt ist dabei gegenüber Jahwe im Spannungsbogen von nah und fern, rein und unrein, heilig und sündig wesentlich und orientiert sich am Volkswohl d.h. Gemeinwohl, das dem Volk als Einheit und Kollektiv widerfahren soll. Diesem Spannungsbogen menschlicher Aufgabe als Ebenbild und in Stellvertretung entspricht eine Werteskala mit gegensätzlichen Begriffspaaren, die das Verhältnis Jahwe–Mensch als dem Wille Gottes entsprechend nah oder fern widerspiegelt, d.h. gut – böse. Jede Entscheidung ist somit wegen ihrer sinn-orientierten Wertigkeit am Willen Gottes und zugleich am erfahrbaren menschlichen Heilszustand ausgerichtet bzw. entsprechend deutbar. Im „Herzen“ soll jeder Israelit den Willen Jahwes tragen und entsprechend handeln, und dies ganzheitlich, wie es die Bibel sagt.

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12 Herz in biblischen Schrifttexten

Im AT wird das Herz im doppelten Sinn, unmittelbar und übertragen, gebraucht. Das Herz des Hebräers verkörpert im Leben, insbesondere beim Handeln, all das, was diesen ‚Zwischen-Stand’ Gott Jahwe – Mensch-Sein am besten ausdrückt. In umfassender Bedeutung wird es auf den ganzen Menschen angewandt. Für den Hebräer ist das Herz Sitz der Kraft des leiblichen Lebens (Ps 38,11) und durch Speise gestärkt belebt es den ganzen Menschen neu (Gen 18,5). Das Herz ist weder nur ein biologisches Organ oder Ort oberflächlicher Sentimentalität, sondern das verborgene ‚Ich’ der gesamten menschlichen Person und einmaligen Persönlichkeit. Es ist Mitte des physischen Lebens, der psychischen Regungen und Quelle des seelischen Lebens überhaupt. Es ist der Ort persönlichster Geheimnisse (Richt 16,15). Es birgt das Innere des Menschen (1 Sam 16,7) mit seinen motivierenden Gefühlen wie Mut (2 Chrn 17,6), Freude (Dtn 28,47, Hiob 29,13), Zuneigung (2 Sam 15,13), genauso wie bei den Belastungen, die Sorge (1 Sam 9,20) und den Kummer (Jes 65,14). Das Herz ist Sitz des Verstandes und der Erkenntnis der gedanklichen Regungen und Kräfte (1 Kön 3,12), wie der Phantasien und Gesichte (Jer 14,14). Das Herz steht für die abwägende Absicht (1 Kön 8,17), für das Planen und Wollen (1 Chrn 22,19), es birgt den Antrieb des Handelns und ist wirksam im tatbereiten Entschluss (Ex 36,2).

Nach biblischem Verständnis war der ‚Bund Jahwes’ mit seinem Volk jedem Israeliten ins Herz gelegt (Jer 31,33), und dem Herzen wohnte das Wesens-Phänomen dieser Beziehung inne, die Liebe. Liebe äußert sich dabei in der Gottesfurcht genauso wie in der Gottesverehrung (1 Sam 12,24), oder in der Treue zum Gesetz Gottes (Jes 51,7). Beheimatet will diese Liebe sein, was in der Sehnsucht nach Gottes Haus beim Wallfahren wie beim Beten äußern kann, wie auch im persönlichen Verspüren von Schuld oder Schuldlosigkeit (vgl. Ps 24,4). Die Abwendung von Gott und menschliche Verstockung (Ex 4,21) schlagen sich im Herzen genauso nieder, und werden durch die Umkehr und Erneuerung im Geiste Gottes überwunden (Ps 51,12). So wendet sich die Forderung nach wahrer, nicht äußerlicher Umkehr stets an das Innerste im Herzen des Menschen (Joel 2,12f), denn im Herzen wird er von Gott gerichtet und geprüft (1 Chron 29,17).

Das Fremdgötter- und Bilderverbot im Dekalog (1.Gebot) ist Jahwe, wie in anderen antiken Religionen auch, nur in Gestalt von Bildern ‚da’. Dem Volk Israel ist dies aber besonders mit dem Bild des Herzens verstehbar. Das Gebot untersagt, an irgendetwas Anderes sein ganzes Herz zu hängen und es als Gott zu verehren. Kein Wunsch des Menschen soll ihm Gott sein, denn dies würde das Gewünschte überfordern und den Menschen letztlich unfrei machen. Eher als um ein theoretisches Bekenntnis zur Einzigartigkeit Gottes geht es im ersten Gebot um die praktische Frage, woran die Israeliten mit Herz und Sinnen hängen, worauf sie Zeit und Energie verwenden sollen und worauf nicht. Darin zeigt sich am ehesten, wer der eigentliche Gott der Menschen ist, und dass es ein Gott mit Herz ist und sein will. Gerade die Gott-Mensch-Beziehung ist auch Jahwes Herzensangelegenheit und beim Menschen soll es genauso sein d.h. verinnerlicht werden und im Herzen ruhen.

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13 Volk: Bundes-Verhältnis von Jahwe – Israel

Seit Menschengedenken haben einzelne, Sippen und Völker innerhalb wie über ihre Verwandtschaftsbande bei Zuwanderung oder Vermischung einvernehmliche Zusammenschlüsse mit anderen Menschen herbeigeführt. Bei den Hebräern wird diese Verbindung mit „berit“ (Bund) bezeichnet. Ein Begriff, den das biblische Volk kennt und mehrfach wird davon berichtet, wenn zwischen zwei Partnern ein Bund entsteht wie z.B. zwischen Isaak und Abimelek von Gerar, zwischen Jakob und Laban, seinem Schwiegervater, oder beim Freundschafts-‚Bund’ zwischen Sauls Sohn Jonathan und David.

Diese Wirklichkeits-Erfahrung menschlicher Verbindungen und Zusammenschlüsse wurde auch übertragen bzw. angewandt auf die Verbindung zwischen Jahwe und den ‚Zwölf Stämmen’ selbst und diese Verbindung ist grundsätzlicher Natur im hebräisch-israelischen Verständnis. In diesem Sinn familiärer, wie bündischer Beziehung, verwendet die Bibel so „die Kategorie ‚Bund’ für das von Gott frei gestiftete Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Jahwe ist dabei immer der ‚Initiator’. Er, der Starke schlechthin, gewährt sich dabei dem schwachen Menschen in Gnade als ‚Partner’. Dies kommt der Sache nach bereits in Gottes Zuwendung und Umgang mit ‚Adam’ (Gen 2-3) zur Realisierung“ (A.Deisler). Bereits im ‚Bundesbruch’ beim ‚Baum der Erkenntnis’ durch Verführung und Sündenfall folgt nicht die Abwendung Jahwes von den Stammeltern. Vielmehr zeigt sich bereits bei Erschaffung des Menschen und vor der ‚Vertreibung aus dem Garten Eden’ Jahwes fürsorgliches Handeln und seine bundeswillige Zukehr.

Das Selbstverständnis ‚Erwählung’ wurde für die Beziehung ‚steter Gegenwart Jahwes’ in Wort und Sprache bei diesem nordwestsemitischen Sprachenstamm der Hebräer und für das Zeitverständnis seiner geschichtlichen Entwicklung als Volk Jahwes maßgebend. Seine Erwählung ist für das Volk nach Genesis und Exodus zur tragenden Säule geworden, um durch und im ‚Bund’ mit seinem Gott Jahwe zu leben und durch ‚Offenbarung’ sein Wort und seinen Willen zu erfahren. In Gen 15,7ff wird das Verhältnis Jahwes zu Abraham bereits als ‚Bund’ bezeugt und Gen 17,1-14 betont die Bindung des Abrahamvolkes an Jahwe mit dem Bundeszeichen der Beschneidung. Insbesondere im babylonischen Exil wurde die ‚Beschneidung’ zum sichtbaren Unterscheidungszeichen der Jahwe-Gläubigen gegenüber den Unbeschnittenen, den ‚Heiden’ und zum Bundeszeichen für den von Gott gestifteten Bund. Bundes-Gesetz der Thora und Bundes-Zeichen von Beschneidung bildeten somit die sichtbare Grundlage für diese Beziehung, auf deren Hintergrund sich Identität, Existenz und Erhalt von Israel und dem Judentum in seiner politisch-nationalen Gewichtung über drei Jahrtausende hinweg erklären lässt. Der ‚Bund Jahwes’ mit dem Menschen ist dem Herzen eingeschrieben und lebt dort zuinnerst. Im ‚Bild’ ehelicher Verbindung wird dieser Bund insbesondere in der Verkündigung des Propheten Hosea anschaulich. Er kennzeichnet und legt den Bund des Zusammen-Seins von Jahwe-Israel mit dem Bild von Herz, Eros und Ehe aus: „Siehe, ich will sie (Braut/Volk) verlocken, will sie in die Wüste führen und ihr zu Herzen reden“, wie bei Hosea 2,16 geschrieben. Jahwes Bund mit Israel lässt sich daher als Ehe-Verbindung anschaulich vermitteln, was sich in der endgültigen Heilszukunft, in der der endzeitlichen ‚Gottesehe’ zwischen Jahwe und dem ‚Jahwe-Volk-Israel’ bündelt.(Hosea 2,21)

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Quelle: www.skulpturhalle.ch/…/2003/05/hera.html + de.wikipedia.org/wiki/Homer

14 Griechen: Mensch ist Da-Sein mit Geist, Sprache, Logik und Handeln

Das SEIN ist beim Griechen ‚Da-Sein’. Er erlebte die Welt und sein eigenes Sein als „Da-Sein“ in der Natur. Beim Nachdenken wie beim Handeln voll Ruhe, Harmonie und Gelassenheit sah er die Natur und sich selbst im Mittelpunkt, sei es in seiner ‚räumlichen’ Umgebung oder in seiner Vorstellung der mythischen Götter-Welt. So verkörperte die Göttin Hera als eine Gottheit in Menschengestalt jene Welt, während Homer die diesseitige Welt beschrieb, den Aristoteles als den ersten Philosophen der Griechen ansah. Stets ist des Menschen Geist gefordert, wenn er mit seinen Augen exakt die Natur absucht oder ideal die Schönheit darstellt, wie im obigen Bild bei Hera. Der Grieche wusste sich nicht einem Volk zugehörig, sondern in einer Polis beheimatet. Dort betete man zu den gleichen Göttern, sprach eine ähnliche Sprache und man berief sich auf dieselben Vorfahren. Blutsverwandtschaft spielte keine Rolle. Überregionale Kultfeste wie z.B. für Apollon in Delphi oder auf dem Mini-Eiland Delos, hatten eine große Bedeutung. Dort fanden dann auch die sportlichen und künstlerischen Wettkämpfe zum ‚friedlichen’ Sich-Austoben und Sich-Ausleben statt, oder man kam zum Geschichte-Hören und Geschichte-Erleben wie in der ‚Ilias’, auf der ‚Odyssee’ oder in anderen Dichtungen zusammen. Theaterstücke waren dabei ursprünglich jeweils erst- und einmalig. Diese Aktionen und Beiträge dienten den Griechen, dann den Hellenen zur Entwicklung eines kulturellen Wir-Gefühls. „Griechische Identität bestand aus Dichtung und Kult“, so Gehrke, und Philosophie und Geometrie dienten ihnen dabei, den Raum ihrer Welt mit dem passenden Handwerkszeug zu erfassen und zu gestalten.

Sprache Geistig wollte man durch Denken Grundsätzliches und Gemeinsames finden, entwickeln und systematisieren z.B. durch Sprechen, Sprache und Logik. So geht es dem Naturphilosophen Empedokles (483-420 v.Chr.) in seinen Gleichnissen um die in der Natur wirkenden Kräfte. Den Urgrund aller Dinge sah er in den vier Elementen (Feuer, Wasser, Luft, Erde). Er erklärte Werden und Vergehen als durch Anziehung und Abstoßung, Liebe und Hass bewirkten Mischung und Trennung dieser Elemente. Die Mischung der vier Elemente in der Welt vergleicht er damit, wie der Maler seine vier Farben mischt, oder wie sonst Stoffe gemischt werden. „Er zielt auf die mechanische Naturerklärung, auf die reine Veränderung in Raum und Zeit, auf das, und nur auf das, worin zwei Vorgänge (beim Vergleichen) identisch sind, und damit kann im Bereich des Verbalen die strenge Forderung des Gleichseins erfüllt werden, die im Feld des Substantivischen im Dingwort, vornehmlich bei der Beziehung von lebenden Wesen erfüllt wird.“ (Snell, S.208) Womit physikalische Gegebenheit und technischer Vorgang als ‚Erklärung’ an Bedeutung gewannen und das vom Menschen Geschaffene und Gebaute plausibler gemacht wurde als das, was die Natur hervorbringt, weil wir es wiederholen und unserer Willkür unterwerfen können. „So wie Empedokles aus den in der verbalen Metapher wurzelnden Vergleichen ein wissenschaftliches Verfahren schafft, indem er aus dem Verbal-Bezeichneten alles ausschließt, was nicht Bewegung ist, so entwickelt die Mathematik den in der adjektivischen Komparation wurzelnden Vergleich dadurch zur strengen Methode, dass sie aus dem Bereich des Adjektivischen alles ausscheidet, was nicht Quantität ist“ (Snell, S 212). Die kausale Naturerklärung gewinnt im Gegensatz zwischen Mensch und Natur seine Bedeutung und zeigt sich im Wandel vom mythischen zum logischen Denken: „Was man ursprünglich als Tat von Göttern, Dämonen und Heroen ansah, für das sucht man später rational seinen zureichenden Grund. Mythische Kausalerklärungen beschränkt sich dabe3i aber nicht auf die Geschehnisse der Natur, die der naturwissenschaftlichen Kausalität greifbar sind, sondern geht sogar vornehmlich auf Verstehen und Leben, also auf die Phänomene, deren Ursachen nicht exakt bestimmbar sind., greift weiterhin ich hinaus über die Natur, da auch das Entstehen von Gedanken, Gefühle, Wünschen, Entschlüssen usf. auf ein Eingreifen der Götter zurückgeführt wird, und damit also die mythische Kausalität in einem Gebiet herrscht, auf dem später, nach Entdeckung der Seele, psychische Motive angenommen werden.. Da das mythische Denken sich aber nicht auf die Erklärung von Ursachen beschränkt, sondern z.B. auch dem Verständnis menschlichen Wesens dient, so ist offenbar, dass das mythische und logische Denken nicht ein und dasselbe Gebiet decken.“ Beide Begriffe bezeichnen „zwei geschichtliche Stufen menschlichen Denkens … und der Übergang von einem zum anderen vollzieht sich langsam und allmählich“ (Snell, S.214).

Handeln Der Mensch allein ist letztlich ursächlich für das Handeln, das beim Griechen geplant wurde und Leistung und Ergebnisse anzielte. Bei solch ‚gezielter’ Handlung rückte die Sache in den Mittelpunkt, und hatte den Zweck, einem Anliegen und Ziel nützlich, jedenfalls nicht nutzlos zu sein. Ganz anders der Hebräer, hier stand die Person im Mittelpunkt. Menschliches Leben im Tun und Handeln offenbarte sich stets als eine Wertfrage, die der Beziehung entspringt und zugleich von ihr abhängig ist, d.h. ob das Handeln dem Willen Gottes und dem Heil des Menschen entspricht, und ist und blieb somit der steten Deutung ‚ausgesetzt’. Bei den Griechen war stets das Da-Sein auf der Handlungs-Ebene aus ‚menschlicher Sicht’ bestimmend. Dies zeigt sich beim Wollen architektonischer, wie künstlerischer Werke und in ihrer ‚Verewigung’ genauso wie beim Tun mit seinen unterschiedlichen Hintergründen privater und gesellschaftlicher Art. So spiegeln die Hebräer wie die Griechen ihre jeweils unterschiedliche Welt-Sicht und Lebenseinstellung wider d.h. wir finden beim Handeln selbst die sozio-kulturelle Seinsweise, die vom ‚In-Beziehung-Sein’ oder ‚Da-Sein’ ausgeht. Ist den Hebräern eher das dynamische und immaterielle ‚Zwischen-Sein’ als Zeit-Körper zueigen, und erlebt er sich als ‚Raum-Köper’ in Gottes Schöpfung und Gegenwart mit dem Schöpfungsauftrag von Gottes Stellvertretung auf Erden, so ist und wird sein Handeln und Wirken ‚gedeutet’ im Spannungsbogen zwischen gut und bös, rein – unrein. Bei den Griechen aber bewirkt dies eher ein statisches und materielles Da-Sein als Raum-Körper. Erfährt sich der Grieche gleichsam als statischer ‚Raum-Körper’ im Gegenüber zu diesem Raum, und setzt er sich zu dieser, seiner Umwelt, in Beziehung, dann erst erlebt er sich in der Beziehung zugleich als ‚Zeit-Körper’ zwischen Vergangenheit und Zukunft. Wobei der Raum zugleich begrenzt, aber auch frei macht. Es ist somit eine Frage des Nutzens für den Menschen, wenn er in diesem Raum handelt, wozu und für was oder wen!

Geist In der griechische Skulptur wurden Götter wie Menschen ursprünglich in ihrer Ganzheit dargestellt. Schönheit und Vollkommenheit, den ganzen Körper mit allem Anmut und Reiz abzubilden, war das Ziel. Erst in der griechischen Klassik erhielt die menschliche Büste ihre Wertigkeit und der Kopf wurde zum signifikanten Kennzeichen der jeweiligen Persönlichkeit. So vermag gewiss im Symbol des Kopfes am besten griechisches Denken verkörpert werden, und weist so beim griechischen Menschenbild auf die Gewichtung des Geistes hin, auf sein Vermögen geistiger Erkenntnisse und sinnlicher Wahrnehmungen, auf seine Ideen und Theorien. Als pneuma (Geist, Hauch) und als nous (Vernunft, Geist) deckt der Geist in der griechischen Antike des Menschen Wesensmerkmal ab, der als Welt-Geist, darüber hinaus auch als kosmologisches Prinzip galt. Ist ‚pneuma’ dabei ein materiell gedachter Körper bewegter Luft, dann wird ‚nous’ mitunter auch immateriell gedacht.

Vielfältig sind bei den Griechen die Deutungen mit Geist und eine spezifische Schwerpunktsetzung: Bei Anaximenses wird ‚pneuma’ erstmals im 6. Jh. v.Chr. als Lebensprinzip angesehen: „Ebenso wie uns unsere Seele, welche Luft ist, mit ihrer Kraft zusammenhält, so umfassen auch den ganzen Kosmos Wind und Luft“. Der Geist wird zur Erklärung von Geordnetheit und Bewegtheit der Welt verwendet und dient bisweilen zur näheren Bestimmung Gottes. Nach Heraklit ist der Geist die intuitive Einsicht in das göttliche Gesetz, die allerdings nur wenigen Menschen vorbehalten bleibt. Jedem Menschen zueigen ist die Verknüpfung des Geistbegriffs mit dem oberen Erkenntnisvermögen und mit der Logik, was seit Parmenides auch zur Verwendung des Wortes Geist in der griech. Philosophie führte. Für Anagoras ist der Geist ein bewegendes und differenzierendes Weltprinzip. Sokrates und Platon definieren den Geist durch die Orientiertheit aller natürlichen und menschlichen Ordnung am Guten und auf das Gute hin. Nach Aristoteles ist der Geist das unleiblich, reine Vermögen der Seele, das die Formen aufnimmt und von der Gottheit eingegeben ist.

Logik Das Vermögen des Geistes kommt insbesondere im künstlerischen wie im wissenschaftlichen Denken des Hellenismus zur Geltung. Das Zusammenleben war nicht theologisch wie bei den Hebräern, sondern politisch motiviert. So waren auch „Interpreten der griechischen Religion nicht die Schriftgelehrten, sondern die Künstler, die Bildhauer und die Baumeister, die Musiker und die Maler, allen voran die Dichter, die Tragödien- und Komödienschreiber“(Adam, S.52). Vor mehr als 2500 Jahren fanden griechische Gelehrte die Grundsätze der Mathematik, und bei der praktischen Anwendung stand ihnen die Geometrie zur Seite. Thales von Milet erkannte die Wirkung eines Magneten, und ihm wurde erstmals ein mathematischer Lehrsatz namentlich zugeschrieben. Pythagoras, aus Samos (zwischen 570 und 480 v.Chr) begründet mittels Quadrate die pythagoreische Formel: a² + b² = c². All diesen folgt der ‚vergötterte Patriarch’ der Geometrie: Euklid von Alexandria, einer der einflussreichsten Mathematiker der westlichen Kulturgeschichte. Sein kristallenes Lehrgebäude setze den Standard für logische Argumentation. Doch „am hellsten aber strahlte der Stern des Archimedes von Syrakus, der von 285 bis 212 Mathematik, Physik und Technik gleichermaßen mit seinen Geniestreichen bereicherte“, wie Ulrich Jaeger hervorhebt. Es war die Zeit von Raum und Zahl, und mittels Geometrie erforschten die Griechen bereits die Sonnenfinsternis, schufen eine Weltkarte, die ein von Ozeanen umrauschtes Festland zeigte oder man verhalf sich bereits 550 v.Chr. auf Samos mittels einer Wasserleitung – durch den sogenannten ‚Tunnel des Eupalinos’ – um einer schnell wachsenden Stadt Wasser von der Quelle bis zum Verbrauch zu verschaffen. Und dies alles wurde durchgeführt mit einer Messtechnik „im ausschließlichen Vertrauen auf seine Ratio“ und mit phänomenaler Exaktheit (Christian Wüst).

Eine Begegnung der antiken Welt mit dem Orient leitete Alexander der Große militärisch und politisch im 4. Jh v.Chr. ein. Auf deren Grundlage konnte sich der Hellenismus als eine Hochkultur zur neuen Weltkultur herausbilden. Auf religiösem Gebiet ist diese Epoche gekennzeichnet durch eine weite Verbreitung griechischer und orientalischer Kulte, durch eine Blüte religionsphilosophischer und gnostischer Systeme sowie durch die Ausbildung einer sakralen Herrscherverehrung. Aus der vor-hellenistischen Zeit gewannen jetzt die Mysterienkulte und –gemeinschaften an Bedeutung. So hatten z.B. die Mysterien der attischen Stadt Eleusis bis weit in die römische Zeit hinein viele Anhänger, oder von Ägypten kam (zur Zeit Sullas, 138-78 v.Chr.) die Verehrung der Isis nach Rom. Isis selbst wurde zur ‚kyria’, zur Herrin schlechthin und galt als ‚Mutter der Dinge’ und als der ‚Uranfang der Zeiten’. Die Iris-Verehrung im griechisch-römischen Raum betonte auch das Menschliche der Gottheit. So kam es zum universalen und menschlichen Charakter der Iris, wie es in der Darstellung der Iris mit dem Horuskind zu sehen ist, was einerseits christlichen Mariendarstellungen ähnelte, andrerseits „die Qualität einer Erlösung“ beinhaltete (vgl. GdR, 107). Im hellenistischen Synkretismus entwickelte sich aufgrund unterschiedlicher Kulturströmungen die Möglichkeit für verschiedene Mysterienbekenntnisse. Doch all die anthropomorphen Götter und Heiligtümer wurden zusehends durch griechische Philosophie und Naturerkenntnis in Frage gestellt, meist einer vergeistigten, monotheistischen Gottesauffassung wegen, wie bei Xenophanes (+ 485 v.Chr.), der als heftigster Gegner die Mysterienkulte und die Götterwelt ironisierte. Diese Kritik implizierte keine generelle Ablehnung von Religion, sondern entsprang einem monotheistischen und transzendenten Gottesbegriff, der den griechisch geprägten Anthropomorphismus (Vermenschlichung) der Götter verwirft. Das Ende dieser hellenistischen Epoche bei den Mysterienkulten im Mittelmeerraum wird unterschiedlich angesetzt mit Augustus bzw. mit dem Sieg des Christentums in den ersten Jh. nach Christus.

Den Zenit griechischer Denkweise bildet der Hellenismus zwischen 500 und 300 v.Chr., einer Periode mit gewaltigen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Fortschritten. Die Anfänge der griechischen Philosophiegeschichte verkörpern um 500 v.Chr. Heraklid und Parmenides als Antipoden, und gehören fast derselben Generation an. Mit Sokrates, Platon und Aristoteles wirkten einige der größten Philosophen der Geistesgeschichte. Heraklid lebte im ionischen Osten, Parmenides im dorischen Westen; der eine predigte die ständige Bewegung, der andere verschrieb sich der Leugnung von Bewegung und Veränderung. Die gegensätzliche Anschauung beider wurde später durch Platon hochstiliisert, doch finden sich in Heraklids Werk der erste Beleg zur bekannten Formel „Alles fließt“. Platon war an einer klaren Gegenüberstellung der beiden Positionen und an deren zugespitzter Aussagekraft aus systemischen Gründen interessiert. Auf ihn geht daher auch die antipodische Darstellung beider als Repräsentanten von Bewegung und Ruhe zurück, da ihm diese Gegenüberstellung ein anschaulicher Weg war, um seine Art von Überlegungen zu motivieren, die sich unter dem Begriff der ‚Platonischen Ideenlehre’ zusammenfassen lassen. Den konträren Prinzipien, das Phänomen des Wechsels bei Heraklit ergänzte Platon mit der Unveränderlichkeit des Seienden bei Parmenides, ordnete seine Ideen dem Beständigen zu als unveränderliche und unvergängliche Gegenstände der intellektuellen Erkenntnis dem gegenüber sich uns eine sinnliche Erkenntnis vermittelt, die sich auf die im Fluss befindlichen Gegenstände der Sinneswahrnehmung beziehen. In seiner Ideenlehre legt Platon den gegebenen Gegensatz linear aus und vermag der menschlichen Lebens-Zeitdimension die lebenslang begleitende Idee zubinden, die der Mensch durch Vernunft erfassen kann, die hinter allem steht. Aristoteles spricht der menschlichen Natur und der Freude an der sinnlichen Wahrnehmung die Erkenntnis zu. Neben der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und der Wissensvermehrung insbesondere durch ihn erfuhren in diesen beiden Jahrhunderten politische und abstrakte Philosophie Höhepunkte und der menschliche Geist vollbrachte auch in den dramatischen Künsten einen gewaltigen Aufschwung wie z.B. mit den Dichtern Aischylos, Sophokles und Euripides, die so die Komplexität menschlicher Existenz durch Denkvermögen auf die Bühne brachten und dem Menschen als Individuum in seiner denkerischen Eigenständigkeit und Wertigkeit zum Erfassen und Ergründen von Wirklichkeit verhalfen. Verstärkt wendete sich die Philosophie dem Verhalten des Menschen zu sich selbst zu. Die Ethik war von der Lehre Epikurs (342-271 v.Chr.) beherrscht, die materialistisch war, aber nicht eine Leugnung der Götter kündete, sondern menschliches Glück suchte sein Vorbild am Ewigem, um mittels eines tugendhaftes Leben zu einem Glück ohne Leid zu gelangen. Dazu bedurfte es nicht der Götter, die es zu verehren galt, die aber für das Irdische selbst unerreichbar waren. Später war Schwerpunkt stoischer Ethik, wie es der Grieche Kleanthes oder der Römer Seneca (4 v.Chr. bis 65 n.Chr.) vertrat: „Der Mensch dient der eigenen Selbsterhaltung und fördert zugleich das Gesamtwohl, wenn er seiner Vernunft gemäß lebt; denn diese ist ein Teil der Weltvernunft, die mit der Gottheit gleichgesetzt wird“ (GdR, 110). Manche dieser ethischen Grundzüge wurden dann später im Christentum verändert übernommen und inhaltlich anders akzentuiert. Erst in der Spätantike erhielten dann Skeptizismus und Atheismus auch ein spezifisch religiöses Gewicht, während sich die christliche Theologie am menschlichen Axiom Jesu Christi zu entfalten begann, und so dem philosophischen Denken in der ‚hebräischen’ Gottes-Ferne die ‚griechische’ Gottes-Verneinung ermöglichte. Für das spätere theologische Denken und die christliche Lehre wurden das Denken von Platon und Aristoteles und deren jeweilige Lehrsysteme maßgebend. Bevor griechisches Geistesdenken für die abendländische Kulturgeschichte solche Bedeutung und Auswirkung hatte, bestimmten der Mythos von einer Götterwelt genauso wie das philosophische Denken und politische Handeln in Polis zunächst den griechischen Kulturraum der dann das römische Reich erfassen sollte.

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Fotograph: Vassiliadis; Quelle: www.hauser-exkursionen.de

15 Olymp – Götter-Wohnung

Die Höhen des Olymp in Nordgriechenland umfassen drei Gipfel: Skala 2866 m, Skolio 2911 m und Mytikas 2917 m und sie galten einst als Wohnsitz der Götter. Heute kann man vom Olymp aus an klaren Tagen einen tatsächlich göttlichen Ausblick auf das griechische Festland, das Meer, dem Reich des Gottes Poseidon und auf die Halbinsel Chaldiki samt Berg Athos genießen. Im Olymp wohnte einst der Göttervater Zeus, der in den griechischen Mythen zuständig war für Wind und Wolken, Blitz und Donner, und lebte dort zusammen mit seiner letzten Frau, der Schwester und Gemahlin Hera, Schutzgöttin der Ehe, und den anderen Göttern: mit dem Gott Apollon, aus Zeus und Leto geboren, war er Gott des Lichts und der Künste. Er wachte über den Lauf der Sonne, über Wahrheit und Heilung. Dort wohnte auch Aphrodite, die Göttin der Liebe, die ihren hässlichen Ehemann Hephaistos mit dessen Bruder Ares betrügt und noch andere Liebschaften hatte. Ebenso wohnte dort Demeter, die Göttin der Fruchtbarkeit und der Ernte, wie auch Dionysos, der eine besondere Bedeutung hatte als Gott des Weines, der ekstatisch werden konnte und für Rausch, wie Raserei steht – dies ist aber auch positiv zu sehen: Dank des Weines war man dem Gott nahe und entdeckte neue Bewusstseinsebenen in sich.

Von Olymp aus bestimmten die zwölf wichtigsten griechischen Götter über Glück und Schicksal der sterblichen Menschen. Dieses Land der Götter war den Menschen heilig und tabu. Kunstreiche Paläste, die Hephaistos, ein Sohn des Zeus und der unübertroffene Meister aller Kunsthandwerke, auf den Höhen des Olymp gebaut hatte, waren reichlich mit Gold verziert. Dort leuchtete in ewigem Glanze der Götter Wohnung, der weder Sturm und Regen, noch Frost und Schnee schaden konnten. Es waren die Lichtgötter des Olymp, die teils verschiedenste Gottheiten aus dem Einzugsgebiet von Zuwanderern der griechischen Religion wegen ihren polytheistischen Zug aufgaben. Man stellte sich die Gottheiten in Menschengestalt vor, in der höchsten und geistigen Wesenheit der Natur. Sie hoben sich verklärt von den Menschen in unvergänglicher Jugendblüte ab; kennen kein Alter und Unsterblichkeit zeichnet sie aus. Ewige Schönheit umspielte ihren von Vollkommenheit und maßvoller Größe geformten Körper. Hoch über den Menschen leben sie auf dem Olymp in seliger Lust- und Herrlichkeit, im Wonnegefühl ewiger Jugend; keine irdische Speise, kein irdischer Trank nährte sie, sondern sie aßen Ambrosia und tranken Nektar. Unter ihnen ging es recht menschlich zu und „ihre Parteinahme für Menschen und Stämme führte gelegentlich zu Streit und Unfrieden untereinander. Aber der Zwist hält nicht lange an. Sie finden sich wieder zusammen in heiterer Einmütigkeit und der Himmelsglanz lässt sie das menschliche Dasein vergessen“(Snell,S.33).

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Quelle: Olympische Götter, www.webnode.ch; Götter-Namen, www.dr-miller.com

16 „Kinder des Olymp“

An dieser Art Stammbaum lässt sich die uns bekannte mythologische Götter-Welt der Griechen in seinen beiden Entwicklungsstufen erkennen. Einer grausigen und brutalen, von Kämpfen gezeichneten Anfangsphase, folgten die „Kinder des Olymp“ in der Kunst des Miteinader von Schönheit und Menschlichkeit. Der natürlichen Ordnung der Welt war auch die Götterwelt eingeordnet „Dem Griechen sind seine Götter so natürlich und selbstverständlich, dass er nicht einmal auf den Gedenken kommt, andere Völker könnten einen anderen Glauben oder andere Götter haben.“(Snell, S.39) Götter anderer Völker „übersetzen“ sie in griechische Sprache und Vorstellung. Homer und Hesiod hätten den Griechen ihre Götter geschenkt, bezeugt Herodot. Freilich kennt bereits Herodot einige barbarische Gottheiten, für die er keine griechischen Namen angeben kann, die ihm daher besonders barbarische Götter sind. Nach klassisch-griechischer Vorstellung sind „die Götter selbst der Ordnung des Kosmos unterworfen, und bei Homer greifen die Götter stets auf höchst natürliche Weise ein.“(Snell,S.43) „Die Handlung unter den Menschen dient nicht einem höheren göttlichen Zweck, sondern umgekehrt: bei den Göttern geschieht nur so viel, als nötig ist, um das irdische Geschehen verständlich zu machen, und die natürlichen Linien des irdischen Lebens sind darum nirgends verzerrt. Vielleicht ist dies das Erstaunlichste an der homerischen Welt, dass trotz des lebendigen Eingreifens der Götter alles Tun und Sprechen der Menschen so natürlich ist.“(Snell.S.51)

Anders als in der Bibel gibt es keine Schöpfungsgeschichte, denn die griechische Gottheit „kann nur erfinden und verwandeln“. Auch ist sie nach Homer den Starken und Mächtigen am nächsten und nicht den Schwachen und Armen. Das höhere Leben der Götter gibt dem irdischen Dasein seinen Sinn und die entsprechende menschliche Ausrichtung zielt auf ein göttergleiches Leben hin und soll in der Polis erfahrbar werden. Daher ist die religiöse Grundhaltung polisorientiert. Stetig laufen zwei Handlungen gleichzeitig nebeneinander: „Die eine auf der oberen Bühne unter den Göttern, die andere hier auf Erden, und zwar wird alles, was hier unten geschieht, bestimmt durch das, was die Götter untereinander verhandeln. Denn menschliches Handeln hat keinen wirklichen und eigenständigen Anfang; was geplant und getan wird, ist Plan und Tat der Götter. Wie das menschliche Tun nicht in sich seinen Anfang hat, so kommt es auch nicht zu einem eigenen Ende. Die Götter allein handeln so, dass sei erreichen, was sie vorhaben.“ (Snell, S.44)

Die „Kinder des Olymp“ haben Ordnung, Recht und Schönheit zur Herrschaft gebracht, und lösten die vorausgegangene Zeit der Titanomachie und des Gigantenkampf ab, was den Griechen zum Sinnbild für ihre eigene Welt wider dem Fremden wurde und das griechische Siegen „über das Barbarische, das Nur-Starke und Grausige“ (Snell) verkörpert. Der Dichter Hesiod hebt mit dem Ursprung der Welt an und erzählt von der Auseinandersetzung der vorgefundenen alten und der neuen Götter, die sich in den mythischen Kämpfen zwischen Zeus und Kronos und den Titanen widerspiegelt. „Zuerst war nur das Chaos, ein gähnender Schlund. Danach entstand Gaia, die Erde, und Eros, die Liebe, Erebos, die Dunkelheit der Tiefen und Nyx, die Nacht. Gaia gebar den Uranos, den gestirnten Himmel, die großen Gebirge und das schäumende Meer, den Pontos. Aus der Nacht entsprang der Äther, das Himmelslicht und Hemera, der Tag. Aus der Verbindung des Uranos mit Gaia stammen sechs Söhne und sechs Töchter, alle von riesiger Gestalt, die Titanen und Titaninnen. Sie stürzten den Uranos und übergaben Kronos, dem jüngsten Titan, die Herrschaft. Kronos war der vorolympische Götterkönig, der oberste der Titanen. Er herrschte über die Gottheiten, die alle der Erde angehörten“ (Nack/Wägner S.29).

Die Eigenwelt der Götter funktionierte nach menschlicher Vorstellung gemäß den Gesetzmäßigkeiten von Herrschaft und Nachfolge. Dem menschlichen, irdischen Blickwinkel entspricht eine ‚räumliche’ Schau der Götterwelt, die später bei der Götter-Wohnung: Olymp sichtbar wird. Beim ‚zeitlichen’ Blick, der der räumlichen Vorstellung zugeordnet ist, wird der Ursprung von Zeit bei der Erd-Mutter Gaia im Fortgang von der Zuständigkeit ihres Sohn Kronos abgelöst. Um seiner selbst willen, um nicht seine Position zu verlieren, verschlang er seine Kinder gleich nach der Geburt d.h. das Nachkommende, das Neue wurde durch die immerwährende Gegenwart des Kronos, die gleichsam zwischen Vergangenheit und Zukunft ‚eingesperrt’ war, vernichtet. Sein Sohn Zeus, entkam seinem Streben, besiegte ihn später und hatte dann die Weltherrschaft inne und bewahrte die heilige Ordnung der Welt. Als Gottvater zuständig für den Himmel, für den Blitz und das Königtum, herrschte er zusammen mit Poseidon, dem Herrn der Meere, und mit Hades, dem Herrn der Unterwelt. Zeus untertan und zur Seite gestellt war sein Vater Kronos, die Zeit, die sich nach griechischer Vorstellung im Zyklus und in der immerwährenden Wiederkehr offenbarte. Zeus hatte Kronos nach seinem Sieg an den Rand der Welt verbannt. Die Zeit in ihrer ‚göttlichen Ewigkeit’ ist gleichsam aus der Götterwelt des Olymp verbannt, und beherrscht nur mehr die, die als Menschen dem Zyklus von Leben und Tod ausgeliefert sind. Aus der räumlichen Wirklichkeitswahrnehmung der Griechen wird somit mythologisch die Zeit verbannt, und erhält in der Weltherrschaft gegenüber früher nur eine untergeordnete Zuordnung mit seinem Zeit-Beherrscher: Kronos.

„Was die Götter von den Menschen unterscheidet, ist weder Allmacht noch Allwissen, Allgüte schon gar nicht, sondern Unsterblichkeit und ewige Jugend, ästhetische und biologische Kategorien also, keine ‚Theologie’, von der die Griechen ohnehin nichts wussten. Die Götter waren und lebten wie wir, nur dass sie frei waren von dem, was uns Menschen als Makel anhaftet, vom Alter, verstanden als Verlust an Kraft und Schönheit, und seiner Folge, dem Tod.“(Adam, S.48) So ist und bleibt die Götterwelt der Griechen für die Erdbewohner eine Art Neben-Welt, in der sich zunächst die Vielfalt, wie Vielseitigkeit von Lust und Frust, von Listen und Intrigen genauso finden lassen, wie Ekstase von Rausch und Raserei, bevor dann später im himmlischen Olymp die Götterfamilie unter Zeus eher einen heileren Zustand von Glückseligkeit und Ewigkeit verkörpern konnte. Nur durch Kult und Kultur besteht die Verbindung zwischen Götterwelt und Menschenwelt. Jede ‚Welt-Wirklichkeit’, ob Gottheit oder Menschheit, lebt für sich allein. Die natürliche Existenz des Menschen ist an das Sinnvolle im Dasein der Götter gebunden. Diese Götter fahren nicht sinnlos-erschreckend und übermächtig in das menschliche Leben hinein. „Da die Griechen unbefangen bewundernd vor einer sinnvollen, geordneten Welt standen, lohnte es sich ihnen, die Hände, die Augen, und vor allem den Verstand zu regen. Die schöne Welt lag verlockend ausgebreitet und sie versprach, ihnen ihren Sinn und ihre Ordnung zu verraten. Aus dem Wundern und Bewundern ist in einem noch weiteren Sinn, als Aristoteles es meinte, die Philosphie geworden.“ Denn aus diesem Lebensgefühl und dieser Lebensbetrachtung ist die Wissenschaft aus dem Glauben entstanden, dass unsere Welt vernünftig ist und sich dem menschlichen Denken erschleißt. So haben uns die olympischen Götter zu Europäern gemacht.“ „Die olympischen Götter sind gestorben an der Philosophie, aber haben weitergelebt in der Kunst.“ „In den Göttern deutet sich den Griechen das Dasein.“ (Snell, S.52f) So waren die Griechen ‚Kinder eines Olymp’, mit dem man durch Mythologie und Kunst in Beziehung trat; eine lebendige, gegenwärtige Beziehung bestand wie beim biblischen ‚Gott’ nicht, und im Laufe der Zeit ward die Götterwelt dem ‚Kairos’ von Bedeutungslosigkeit, überlassen.

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Peter Rubens 1634; Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Saturn_(Mythologie)

17 Herr der Zeit: Chronos / Kronos / Saturn

Zeit Mit Chronos, Kairos, Aion, Nyn versuchte der Grieche ins Wort zu fassen, was für ihn Zeit ist. Es gibt unterschiedliche kontext-abhängige Zeiterfahrungen. Die ‚Zeit’ selbst kannte der Grieche als Eigenwert nicht. Die gefräßige Zeit, die zerfließt, nennen die Griechen ‚Chronos’. Es ist der Begriff für die Zeitdauer, die messbar ist. Das Innehalten aufgrund dessen man Entscheidungen trifft und in bestimmter Weise handelt, nennen die Griechen ‚Kairos’. Es bezeichnet den günstigen Augenblick, den besten Zeitpunkt. ‚Äion’ meint die längere Zeitdauer, das Zeitalter, so wie wir sagen: ‚eine Ewigkeit’. ‚Nyn’ meint das Jetzt, den Augenblick. „Zeit ist das Zählbare an der im Horizont des Früher oder Später begegnenden Bewegung“ (Physik IV, 10-14), sagt Aristoteles. Mit dieser Definition, die Zeit als Maß und Zahl einer Bewegung versteht, liegt uns die Zeitdefinition unserer technischen Welt vor. Die Macht dieses Zeitverständnisses betrifft uns alle ausnahmslos. Es zählt das Maß. Es zählt die Zahl. Es zählt die Bewegung und die Dynamik. Die messbare Quantität wird zur inhaltlichen Qualität von Zeit. Man vergleicht sich in Zahlen. Hintergrund für dieses ‚fiktive’ Zeitverständnis der Griechen bilden verschiedene Kulturen, unterschiedliche Lebenssituationen und vieles mehr, was wiederum an verschiedenste Formen von Bewegung und Veränderung gebunden war. Das physikalisch geprägte Zeitverständnis der Griechen findet in der mythologischen Zeit-Gestalt: Kronos eine symbolträchtige Aussage für Zeit. In der römischen Mythologie wird er Saturn genannt. Manche antike Quellen setzen Chronos mit Kronos gleich, dem Vater des Zeus.

In der Volksetymologie hatten die beiden Götter ursprünglich nichts miteinander zu tun. Kronos wurde schon sehr früh (in der Orphik) mit dem des Zeitgottes Chronos (Χρόνος) gleichgesetzt, was aber etymologisch falsch ist. Die zwei verschiedenen Götter verschmolzen in manchen Überlieferungen miteinander. Die Frage nach der richtigen Etymologie ist umstritten. In der Frühzeit hatte Kronos noch keinen festen Platz in der Genealogie der Götter. Manche erwogen eine Ableitung von kraíno; dann ist Kronos der „Vollender“. Wahrscheinlicher ist aber, dass der Name vorgriechischen Ursprungs ist und somit Kronos aus einer vorgriechischen Tradition übernommen wurde. Die älteste bekannte Darstellung befindet sich auf einem Relief aus hellenistischer Zeit. Dort erscheint Chronos als bartlose Gestalt mit großen Flügeln. Chronos war die Personifikation einer abstrakten Vorstellung und kein Bestandteil der griechischen Volksreligion. Von den verschiedenen Versionen des Mythos hat sich die von Hesiod überlieferte durchgesetzt, die Kronos zu einem Sohn von Uranos und der Gaia machte. In diesem ältesten griechischen Schöpfungsmythen ist der Gott Kronos, der Sohn des Himmelsgottes Uranos und der Erdgöttin Gaja aus der Paarung von Himmel und Erde hervorgegangen. Beide stehen als Eltern für die Einheit wie Einigkeit von Himmel und Erde, Raum und Zeit. Doch von Einigkeit war zwischen diesen drei nichts zu merken. Sie lebten in Rivalität miteinander und bedrohten sich gegenseitig. Um zu uneingeschränkter göttlicher Würde zu kommen, kastrierte Kronos seinen Vater Uranos. Dieser hasste seine Kinder – die Kyklopen und Hekatoncheiren – so sehr, dass er sie in den Tartaros verbannte Daher brachte Gaia ihre weiteren Kinder – die Titanen – im Geheimen zur Welt. Kronos stiftete sie schließlich an, den Vater mit einer Sichel zu entmannen. Damit wurde Kronos zum Herrscher der Welt und Begründer des Goldenen Zeitalters. Doch er hatte in der Folge Angst vor der Gegenwart. Nach Hesiods Darstellung wurde Kronos von seiner Schwester Rhea (Rheia) zum Gatten genommen. Aus Angst, selbst entmachtet zu werden, fraß er jedoch alle Kinder, die aus dieser Verbindung entstanden: Hestia, Demeter, Hera, Hades und Poseidon, die Kroniden. Den jüngsten Sohn jedoch, Zeus, versteckte Rhea auf Anraten von Gaia und Uranos in der Höhle von Psychro im Dikti-Gebirge auf Kreta, während sie dem Kronos einen in eine Windel gewickelten Stein überreichte, den dieser verschlang, ohne den Betrug zu bemerken. So konnte Zeus ungestört heranwachsen. Später gelang es Zeus, seinen Vater mit List und Gewalt zu überwinden, worauf Kronos erst den Stein und dann seine verschlungenen Kinder ausspuckte. Den Stein stellte Zeus an der Kultstätte Pytho (Delphi) auf, damit er dort von den Sterblichen bestaunt werde.(nach Wikipedia: unter Kronos und Chronos)

Bild „Der Herr der Zeit verschlingt (s)einen Sohn“, veranschaulicht mittels der Götter-mythologie im Bild Peter Rubens (1634) das Verständnis von ‚Chronos’ als chronologischer Zeitablauf: Gegenwart als Zukunft wird vernichtet, was dies charakteristisch hervorzuheben vermag. Der seine Kinder vernichtende Kronos macht die immerwährende Gegenwart ‚sichtbar’ und wie im Kreislauf zwischen Werden und Vergehen spielt die Gegenwart eine Rolle als ‚Dazwischen’. Im Zeitverständnis der Griechen ist Gegenwart eigentlich bedeutungslos und sinnlos. Sie ist für den Griechen ‚nur’ ein Augenblick in Raum und Welt. Kronos verkörpert als Seiender gleichsam den Kreislauf der Zeit vor und nach dem Tod seiner Kinder, in dem es nicht um das Werden seiner Kinder, sondern um sein d.h. das Sein selbst geht, das für den Menschen einzig auf Leistung und Nutzen beruht. Dies lässt sich in und durch Vergangenheit und bedingt durch Zukunft ‚sichtbar’ zeigen und beweisen, sei es bei Systemen des Handelns wie bei Kulturbauten oder bei logischen Denk-Systemen. Dies lässt sich sehen und sichten. Gegenwart dient einzig dem Menschen dazu, den Raum materiell oder geistig zu erfassen. Kronos entsprechend von seiner Eigenschaft ‚Chronos’ her zu verstehen, verkörpert ihn als Gott und Vater der Zeit, der mit seiner unbarmherzigen Sichel bei den Griechen auch als Herrn über Leben und Tod bezeichnet wurde. Der Qualität von ‚Chronos’ entspricht eine bestimmte Qualität von Zeit, die als messbare Zeit in einem gleichbleibenden Rhythmus abläuft und später am ehesten mit dem Takt der Uhr verglichen werden kann. Die Römer übertrugen des Gottes Kronos Merkmale auf Saturn, der mit der Sichel zum Schwellenhüter wurde und Ordnungsgebieter war, und stetig den Menschen an den unerbittlichen Lauf der Zeit erinnerte, die sich nicht anhalten lässt.

Zeit-Begriffe Die drei griechischen Zeitworte: Chronos, Kairos, Aion versuchen Zeitgestalten zu erfassen und zu systematisieren. Bei Chronos läuft die Zeit chronologisch, messbar und linear dahin, mit Anfang und Ende und einem klar strukturierten Verlauf. Sie findet sich in der zyklischen oder spiralenartigen Zeitgestalt wie Jahreszeiten, wiederkehrender Begegnung genauso wieder, wie im Zeitfluss mit seinem paradoxalen Geheimnis von Gegenwart, die sich symbolträchtig in der Beziehung: Vater Kronos und Sohn Zeus zeigt. Doch das positive Geheimnis von Zeit ruht im Jetzt, was insbesondere dem ‚unfassbaren’ Augenblick von Gegenwart zueigen ist, wie es Heraklit ausdrückte: „In die gleichen Ströme steigen wir und steigen wir nicht; wir sind es und sind es nicht“. Diesem ‚Jetzt’ am nächsten kommt die andere griechische ‚Zeitgestalt’: Kairos. Mit ‚günstiger Augenblick’ übersetzt, birgt der Kairos die Möglichkeit inhaltlicher Füllung. Mythologisch stellt man sich bei den Griechen den Gott ‚Kairos’ als jungen Menschen vor, mit Stirnlocke und kurz geschorenem Hinterkopf. Er huscht an den Menschen vorbei, und bisweilen gelingt es dem Menschen, ihn am Schopf zu packen. So ist er der Gott des rechten Augenblicks und der Zeitwende.

KairosJesus Christus Durch und in Jesus Christus konnte ‚Kairos’ seine wegweisende Funktion für den christlichen Glauben erhalten und für die Gewichtung von Gottes immerwährender Gegenwart als ‚erfüllte Zeit’ stehen. Kairos kann in seiner theologische Deutung bei Jahwes ‚immerwährender Gegenwart’ Jesu Lebens-Fülle genauso aufnehmen, wie die biblische Zeitdimension von Verheißung und Erfüllung. Die durch Jesus bedingte Lebenszeit mit Anfang und Ende, Geburt und Tod, ist dem Kairos genauso einbindbar wie Jahwes Heilsgeschichte mit Israel. Hebräischer Ursprung und griechisches Denken lassen sich somit im Kairos: Jesus Christus als christlicher Glaubens-Inhalt wie Glaubens-Beziehung bündeln, und konnte einer kirchlichen Reich-Gottes-Gestaltung in Gottes Gegenwart dienen. Kairos umfasst somit in Jesus Christus Ursprung und Rückgrad theologischen Denkens und christologischer Deutung. Der erste Satz im Markusevangelium, den Jesus spricht „Der Kairos ist erfüllt“ (Mk 1,15) bindet so letztlich das Zeit-Geheimnis von Ende und Anfang beim Menschen ins griechische Zeitverständnis vom ‚Kairos’ ein. Christi selbst ruht im Kairos von Gottes Gegenwart. Stand einst Aion als Gottheit für einen langen, unbegrenzten Zeitraum für Lebenszeit und für das Leben, finden sich bei Platon noch Chronos und Aion als Gegensätze von Zeit und Ewigkeit, sind durch Jesus Christus beide im ‚Kairos’ vereint und der ewige Gott ‚offenbart’ sich in der menschlichen Gegenwart, genauso wie er sich in der Vergangenheit und Zukunft von Gottes Heilsgeschichte mit dem Menschen und der Menschheit offenbart hat. Die geistige, christliche Welt auch heute hat somit im Hellenismus ihre Wurzeln, in den Errungenschaften philosophischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse der griechischen Antike.

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Raffaelo Santi, Schule von Athen, Stanza della Segnatura des Vatikan, Rom; Quelle: www.12koerbe.de

18 Griechen: Gebildete und freie Bürger der ‚ Schule von Athen’

Zeichnete 1510/1511 der Renaissancemaler Raffaello Santi (1483-1520) in der ‚Stanza della Segnatura’ des Vatikans. Wie im Titel festgehalten, wird auf die herausragende philosophische Denkschule des antiken Griechenlands verwiesen, verkörpert von ihren Vorläufern, Hauptvertretern und Nachfolgern. An dieser Versammlung nehmen die maßgeblichen Wissenschaftler und Philosophen von der Antike bis zur Renaissance teil. Links gruppieren sich die platonisch, rechts die die aristotelisch orientierten Geistesgrößen. Im Hintergrund befinden sich die philosophischen Vertreter, im Vordergrund die Wissenschaftler, Mathematiker und Künstler – hier auf dem Fresko 58 Personen. Dem philosophischen Denken Einzelner mit Anhängerschaft und in den jeweiligen Akademien und Schulen galt das öffentliche Interesse und die Wertschätzung des Hellenismus.

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Raffaello Santi, s.o. Ausschnitt; Quelle: www.12koerbe.de

19 Griechen: Platon und Aristoteles

Im Zentrum der „Schule von Athen“ stehen die Philosophen Platon (427-347 v.Chr.) und Aristoteles (384-322 v.Chr.), die mit ihrem Denken und ihren Überlegungen insbesondere in der Renaissance das antike Denken als Ursprung der europäischen Kultur, ihrer Philosophie und Wissenschaften darstellen. Der ältere Platon links hält in der einen Hand den Timaios, die andere vertikal erhoben, weist mit seinem rechten Finger nach Oben ins Jenseits. Dies symbolisiert die Bewegung der sinnlichen Welt in ein ideelles Prinzip und auf die höhere Welt der Ideen. Daneben der jüngere Aristoteles, der in der linken Hand seine Ethik hält und mit einer horizontalen Gebärde gleichsam auf eine ethische Organisation der Welt verweist, hinein in die diesseitige Welt. Zeichenhaft lassen sich am Fingerzeig beider Philosophen Wirklichkeits-Erfassung und –Verständnis in der frühen griechischen Hochkultur darlegen. Vom denkenden Menschen ausgehend bewegt sich menschlicher Geist in der Geistes-Welt des Denkens mit seinen Erkenntnissen in Philosophie und Geometrie zur Erfassung menschlicher Wirklichkeit in Raum und Zeit, und weiß um den ‚Neben-Raum’ der himmlischen Götterwelt auf Erden, sei es im örtlichen Pantheon selbst oder auf dem Gipfel des Olymp.

Auch für uns heute sind beide Philosophen ein näheres Eingehen wert, um die Entwicklung zum christlichen Glauben, insbesondere für das Christentum von den Anfängen bis in die Gegenwart hinein besser verstehen zu können.

Platon, 427 in Athen geboren, war Sohn einer Aristokratenfamilie. Er war Schüler des Sokrates und Gründer der Akademie von Athen. Sie war ein Park-, Kult- und Sportbezirk, außerhalb Athens gelegen, und war elitär, nicht jedem Bürger zugänglich. In ihr bildeten Forschende, Lehrende und Studierende eine Gemeinschaft, denen neben dem politischen und künstlerischen Geschehen Platons Ideenlehre Gesprächstoff bot. Platons Ideenlehre ist ein Kernstück der antiken griechischen Philosophie. Für ihn sind Ideen eine eigene Wirklichkeit und der Sinnenwelt nachgeordnet. Die Ideen sind deshalb eine Einheit hinter bzw. über der sinnlich wahrnehmbaren Vielheit. Die Ideen entstammen einem unsichtbaren Reich, sind wahrhaft seiende, undingliche, bloß reine Einheiten von Bestimmungen. Und aus diesen geistigen, immateriellen Urbildern werden in der Realität Abbilder geformt. Die Ideen stellen daher die seiende Welt dar, sind aber mit unseren Sinnen nicht wahrnehmbar, doch erkennbar durch den Geist unserer Vernunft. Unsere sichtbare Welt mit ihren Abbildern der Ideen kann aber durch das Mitwirken der vernunftlosen Materie nie so vollkommen sein, wie die Ideen selbst. Denn die Ideen sind das „wahrhaft seiende Wesen“, „das reine, immer seiende Unsterbliche und in sich stets gleiche.“ Platon bestimmt die Idee als wahres Sein und spricht den Ideen eine reale Existenz zu und die einzig wahrhaft seienden Wesenheiten. Darüber hinaus versteht er die konkreten Dinge lediglich als Ausformungen dieser a priori existierenden Idee, Die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände besitzen für Platon ihrer Vergänglichkeit und Veränderlichkeit wegen nur einen bedingten und damit defizitären Seins-Zustand. Denn die Idee als das ruhende Sein hebt sich von dem Seienden als dem Vergänglichen ab. Unschwer ist anzunehmen, dass genau in dieses Ideen- und Seinsverständnis des Platon sich später durch die ‚christliche Kernfusion’ das griechisch verstandene Sein- und Idee-Verständnis im zeitlichen Kairos-Ereignis mit Jesu Christus und seinem persönlichen Abba-Verhältnis das hebräische Jahwe-Verständnis neben ein griechisches Menschensohnverständnis komplementär einsetzen bzw. ergänzen ließ.

Aristoteles entstammt einer Arztfamilie, trat 367 v.Chr. mit 17 Jahren in Platons Akademie in Athen ein und war deren berühmtester Schüler. 345/342 war er Lehrer des makedonischen Thronfolgers Alexander des Großen und er wird zu den einflussreichsten Philosophen der Geschichte gezählt. Er begründete zahlreiche Disziplinen selbst oder beeinflusste sie, wie die Wissenschaftstheorie, Logik, Biologie, Physik, Ethik, Dichtungstheorie und Staatslehre. In der aristotelischen Philosophie gilt sein Hauptaugenmerk der Biologie. Für Aristoteles bestand die Welt aus Individuen, die in bestimmten natürlichen Gattungen auftreten. Jedem Individuum ist ein spezifisches Entwicklungs- und Wachstumsmuster gegeben, aufgrund dessen es sich zum Exemplar seiner Gattung entwickeln kann. Wachstum, Zweck und Richtung sind somit Bestandteile des innersten Wesens. Da sich das allgemein Gültige in der Existenz einzelner Individuen äußert, müssen Wissenschaft und Philosophie um den Ausgleich zwischen dem empirischen Anspruch von Sinneserfahrung und der rationalen Deduktion schaffen, wobei die Kausalität, d.h. die Grund-Erklärung, jeglicher Analyse hilfreich ist. Hatte Platon die Dialektik als ein Mittel angesehen, um angesichts der Sinnenwelt zur Ideenerkenntnis zu gelangen, dient Aristoteles dieser Vorgang, um die Behauptungen auf ihre logische Folgerichtigkeit hin zu überprüfen. Denn die Analytik geht von Prinzipien aus, die auf Erfahrungen und genauer Beobachtung beruhen und diese gilt es im argumentativen Wettstreit zwischen zwei Parteien bzw. Positionen zu finden durch Festlegung und Entscheidung. Nicht der Geist des Erkennens zwischen irdischer Sinnes-Welt und geistigem Ideen-Reich wie bei Platon, sondern zwischen geerdeter Wahrnehmung und plausibler Entscheidung beherrschte die drei Wissenschaftsbereiche des Aristoteles: theoretisch, wenn es um das Wissen um seiner selbst willen ging, praktisch, wenn es um das Wissen mit dem Zweck einer guten und nützlichen Handlung ging, wie bei seiner Nikomachischen Ethik (Hier geht es um den zwischenmenschlichen Umgang und das persönliche Erreichen der ‚Glückseligkeit’ als Individuum wie im Staatsgeschehen).

Nach dem Niedergang Roms gingen Aristoteles Werke im Westen verloren. Doch wurde die aristotelische Logik für das lateinischsprechende Mittelalter wegweisend und man verstand bis ins 20. Jh. unter Logik allein die aristotelische Logik. Im 12./13. Jh. gewannen seine Werke über arabische Gelehrte des Islam auch das Interesse des ‚lateinischen Abendlandes’. Thomas von Aquin entdeckte in ihm eine philosophische Grundlage für christliches Denken, was für den Wissenschaftsbetrieb der Scholastik bis in die Frühe Neuzeit maßgeblich wurde. Ebenso prägte die Auseinandersetzungen mit der aristotelischen Naturlehre die Naturwissenschaft des Spätmittelalters und der Renaissance. Ebenfalls im 20. Jh. erfuhr die aristotelische Methode ihre Bedeutung für die Erziehung, die literarische Kritik, die Analyse menschlichen Handelns und in der politische Analyse seine Wertschätzung. Solches Denken aber begann einst für den Griechen im ‚Raum’.

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Computer-Licht-Panthenon; Quelle: www.storage.koinup.com

20 RAUM-Kultur ‚griechisch’

Die Geistes-Welt der Griechen hat neben der Begabung im Denken „systematischer Erkenntnis und klarer Begrifflichkeit“ (Konrad Adam) auch im handwerklichen Umgang mit dem und im Raum seine bleibende Kulturleistung erbracht. Im Laufe griechischer Kulturgeschichte eignete man sich eine Raumvorstellung an, die geometrisch sichtbar und mathematisch berechenbar wurde. Unabhängig von der politischen Vielfalt hatten die Griechen zunächst auch die Tempel und Heiligtümer mit im Blick, das im Pantheon von Göttinnen und Göttern eine architektonische Hochleistung hervorbrachte, Auch wenn die Göttervorstellung daselbst, teils aus dem vorausgegangenen minoischen Kulturkreis stammte oder von asiatischen Göttervorstellungen inspiriert war. Jeder Stadtstaat hatte seine eigene Gottheit, die Stadt und Bürger beschützte und somit baute man ihm Tempel und Heiligtümer. Bestimmte mit Gottheiten assoziierte Orte waren allen Griechen heilig und schufen eine gemeinsame Identität, die als Menschenwelt der Götterwelt im Gegenüber bestand. Hier zeigte und entwickelte sich eine Dimension griechischer Raum-Kultur, wofür der Pantheon in Athen, der einst die Akropolis zierte, Sinnbild sein kann.

Vorliegender ‚Computer-Licht-Panthenon’ weist auf die archetektonische Meisterleistung von Räumlichkeit dank mathematischer und geometrischer Kenntnisse und Fähigkeiten hin. Dieser ursprünglich der Verehrung ‚aller Götter’ geweihte Tempel, sollte später der Bezeichnung von Gebäuden dienen, die dem Andenken berühmter Männer gewidmet wurden. Dem Panthenon in Athen und in Rom, den beiden ‚Weltwundern‘ der griechischen und römischen Architektur ist gemeinsam, dass sie – vielleicht gerade wegen ihrer Vollendung – unerforscht, kaum vermessen und in ihrer kultischen Bedeutung rätselhaft geblieben sind (G.Gruben, 1997). In Rom steht noch das einstige berühmteste Pantheon. „Das Gewölbe sollte den Himmel symbolisieren, was den Gesamtraum zum Sinnbild des Weltalls machte.“ (A. Stützer, 1994)

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Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/index.php?title=Datei:Athens_Acropolis.jpg&filetimestamp=20061106221056

21 Akropolis – Athen

In Athen ist die Akropolis der größte ummauerte Platz Attikas seit dem 13.Jh. und wurde zur Kultstätte Athens. Dort zeugen Architektur, wie Kunst von der Geistesgröße griechischer Geschichte und handwerklicher Fähigkeit. Mit dem hochgelegenen, geschützten Mittelpunkt, der im Laufe von tausend Jahren als Zufluchtsplatz, Festung, Herrschersitz und dann Tempelbezirk diente, war Athens Zentrum Vorbild und Sinnbild zahlreicher Städte der Antike. Von 650-480 v.Chr. wurde in Athen im Pantheon auf der Akropolis die Stadtgottheit Athene verehrt. 480 v.Chr. wurde ihr Tempel von den Persern zerstört, den Perikles 447 v.Chr. wieder neu erbaute. Heute ist der Berg einerseits ein Magnet für Touristenströme, denen auf diesem Weg ein Stück antike Bau- und Kunstgeschichte, wie auch griechische Geistesgeschichte vom Mythos zur Wirklichkeit näher gebracht werden kann. Andererseits sind die Bauwerke der Akropolis stark gefährdet und werden seit den 1970er Jahren systematisch restauriert.

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Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Areopag

22 Areopag – Athen

Nordwestlich der Akropolis befindet sich der Areshügel. Ein 115 Meter hoher Felsen mitten in Athen, auf dem sich der älteste und berühmteste Gerichtshof im alten Athen befand. In der Antike tagte hier der oberste Rat, der gleichfalls „Areopag“ genannt wurde. Der Rat war die älteste Körperschaft der Stadt; seine Geschichte reicht bis in die mythische Frühzeit Athens zurück. Nach der Mythologie wurde der Areopag gegründet, als Ares den Halirrhothios getötet hatte, der sich an seiner Tochter vergangen hatte. Für die Christen gewann dieser Berg seine Bedeutung durch die sogenannte Areopag-Rede des Paulus vom unbekannten Gott (Apg 17,22; 17,16-34). Paulus wurde bei einem Athen-Besuch von Einwohnern auf den Areopag geführt, um dort seine „neue Lehre“ zu erläutern. Dabei knüpfte er an seine Entdeckung eines Altares „für den unbekannten Gott“ in der Stadt an. Er kritisierte die verschiedenen Gottesvorstellungen der Athener, wie sie in den zahlreichen Götterstatuen zum Ausdruck kamen. Gott wohne nicht in aus Menschenhand gebauten Tempeln und lässt sich von Menschen bedienen. Auch sei Gott kein Gebilde aus Menschenhand, sondern die Menschen seien von seiner Art und durch ihn geschaffen. Als er von der Auferstehung sprach, verwies man ihn des Orts.

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Quelle: www.wellermanns.de/…/olympia_modell.jpg; http://de.wikipedia.org/wiki/Olympische_Spiele_der_Antike;

23 Olympia – Antike Kultstätte

Neben diesen beiden Orten der Götterverehrung und der Rechtssprechung gewann mit Olympia ‚im Tal der Priester und Athleten’ die sportliche Leistungskraft des Menschen ihre gesellschaftliche Bedeutung und kulturelle Ausstrahlung. Olympia, etwa um 1000 v.Chr. gegründet, entwickelte sich von einem kleinen Zeusheiligtum zur größten Sportstätte der Antike. Dem Zeus geweiht, bestand dieser Stadtstaat im westlichen Peloponnes aus einem weitläufigen Komplex von Tempeln, Grabstätten und Schatzkammern, zu denen alle Stadtstaaten Zugang hatten. Auf gut 30 Hektar erhoben sich neben den Göttertempeln Sportanlagen, Übungshäuser für Athleten, sowie eine Pferderennbahn. Hier fanden 776 v.Chr. die ersten Olympischen Spiele statt, die ursprünglich vermutlich nur aus einer Disziplin, dem Wagenrennen, bestanden. Allmählich entwickelten sich daraus ein fünftägiges Fest mit Leichtathletik, Ringkämpfen und Opferhandlungen neben all den kulturellen Veranstaltungen vom Theater bis zu den Mysterienspielen im Rahmenprogramm. Olympia wurde so zum Symbol bündischer Einigkeit und individueller Leistung. Es war der Beginn der schriftlichen Aufzeichnungen in Griechenland. Zwischen Pisa und Sparta wurde ein Abkommen geschlossen, einen heiligen Waffenstillstand zu garantieren, der allen Griechen die Möglichkeit geben sollte, an den Spielen teilzunehmen. Alle vier Jahre kündigten Herolde für ganz Griechenland eine einmonatige Waffenruhe an. Alle, die an ihnen teilnahmen, mussten freie Bürger sein, denen keine Verbrechen gegen die Götter, wie Beleidigung, nachgewiesen werden konnten. Zugleich banden sie sich der Leistungs-Welt des Sports ein und waren darauf stolz, wenn sie den Lorbeerkranz für den Sieg beim Wettkampf erhielten.

Viele Monate zuvor lebten die Athleten im Heiligtum, übten sich unter strenger Aufsicht im Wettlauf, Ringen, Faustkampf, Diskus- und Speerwerfen, Pferde- und Wagenrennen. Ein öffentlich abgelegter Eid band sie an die Verpflichtung, sich den Wettkampfbedingungen zu unterwerfen und keinen Betrug zu begehen. Der Sieger erhielt einen Kranz aus Zweigen der wilden Oliven des Zeus. Und die berühmtesten Dichter ihrer Zeit verherrlichten den Ruhm der Wettkämpfer in ihren Gesängen. Noch im 2.Jh. nach Chr. wurden die Spiele unter den Römern abgehalten. Dann machten sich die Einflüsse des Christentums bemerkbar. 393 n.Chr. verbot der röm. Kaiser Theodosius I die Wettspiele und 426 n.Chr. ließ Theodoius II alle heidnischen Kultstätten zerstören, auch den berühmten Zeustempel mit der Statue vom Göttervater Zeus, die von Phidias geschaffen war. Erdbeben vollendeten schließlich den Untergang von Olympia. (vgl. Goock, Schöne geheimnisvolle Welt, S.40)

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Quelle: www.mlahanas.de/Greeks/images/Eupalinos1.jpg

24 Tunnel des Eupalinos

Neben diesen Werken im sportlichen wie musischen Bereich in Olympia zeugen auch bauliche und architektonische Meisterwerke von menschlicher Leistung, die im hellenistischen Lebens-Raum zur Hochkultur beitrugen. Seit etwa 600 v.Chr. haben die jonischen Naturphilosophen mit der Schule des Thales von Milet beobachtet, gesammelt, verglichen und gefolgert und sind so zu Urvätern der europäischen Wissenschaft und Philosophie geworden.

„Drei der gewaltigsten Bauwerke aller Griechen“, schrieb einst Herodot, stünden auf der Ägäis-Insel Samos. Der Geschichtsschreiber nannte einen Tempel und einen Hafendamm, zuallererst jedoch eines der denkwürdigsten Exempel technischer Intelligenz. Lage und Abmessungen des Konstrukts gab er sehr präzise an und lieferte damit die einige Quelle, die zweieinhalb Jahrtausend später zu dessen Auffindung führte. Im späten 19.Jahrhundert entdeckten Archäologen die verschütteten Eingänge eines komplett erhaltenen Tunnels: Tunnel des Eupalinos. Mittels geometrischer und mathematischer Berechnungen vermochte ein griechischer Ingenieur einen Berg auf der Ägäis Insel Samos von beiden Seiten aus zu durchtunneln. Um 550 v.Chr., bei der heutigen Stadt Pythagorion, hätte man 20 Jahre Bauzeit gebraucht, wäre dies einseitig angegangen worden, da durch den Kalkstein 15 cm Tunnel pro Tag mit den damaligen Werkzeugen nur möglich waren. Damit es schneller ging, wurde der Tunnel mit 1036 m Länge und 1,80 m Breite wie Höhe von beiden Seiten zugleich angegraben. So geht man von einer Bauzeit von nur 10 Jahren aus. Mit phänomenaler Exaktheit begannen die Bergleute auf beiden Seiten den Klopfgang ins Gestein mit Hammer und Meisel. Nach heutiger Schätzung wurde dies von Arbeitssklaven geleistet. Ebenfalls ist die Wasserführung ein Meisterwerk. Die Messtechnik für eine solche Unternehmung war damals bereits vorhanden und im Prinzip simpel, doch es musste sichergestellt werden, dass beide Röhren exakt auf der gleichen Höhe liegen. Dazu bedurfte es einer präzisen Niveaubestimmung über mehrer Kilometer um den Berg herum. Denn schon bei einem durchgehenden Peilungsfehler von einem halben Winkelgrad, auf einer etwa drei km langen Bergumgehung, hätten sich die Tunnelröhren um nahezu 30 Meter in der Höhe verfehlen können. Eupalinos, davon kündet das Bauwerk beredt, ließ die Röhre waagrecht verlaufen. Das nötige Gefälle für die Nutzung als Wasserleitung erhält er erst durch einen seitlich, im Tunnelboden gehauenen Graben, der dann am Ausgang neun Meter tiefer liegt als eingangs. Nirgends mussten so präzise Ergebnisse herauskommen wie bei dieser Tunnelplanung damals auf Samos

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Tunnelblick; Quelle: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Eupalinian_aqueduct.JPG&filetimestamp=2007

25 Tunnelblick

Eupalinos errang somit einen großen Etappensieg für die rationale Methodik. Das Bauwerk diente etwa 1000 Jahre als Wasserleitung. Die Messtechnik bei Tunnelbau und Wasserführung zeugen von einem Meisterwerk der Ratio. „Wohl nie zuvor hat ein Mensch ein derart hohes und vor allem langfristiges Risiko auf sich genommen – im ausschließlichen Vertrauen auf seine Ratio“, wie es der historische Bauingenieur und Sachkenner Hermann Kienast wertschätzend formulierte. Es war „ganz offensichtlich am Zeichentisch entworfen“ worden und das Zusammentreffen der Röhren war „nicht glückliche Fügung, sondern Ergebnis eines wohldurchdachten Entwurfs“ (siehe Christian Wüst, in: Götter, Helden, Denker, S.91-95). .

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Zeit der Polis 6-5 Jh.; Quelle: Neue Pauly, Historische Atlas der Antiken Welt+ griechische Sprachfamilien: www.wikimedia.org

26 ‚Poleis’- griechische Stadt-Staaten

Der Staat im griechischen Mittelalter und vielfach auch noch später war der Stadtstaat, der Gemeindestaat, die Polis. In seinen Heiligtümern, Sportstätten und Palästen, in seinen Zentren mit Foren und Versammlungsräumen verwirklichten die Bewohner ihren Geist durch architektonische und künstlerische Handwerkskunst und die Formen des Zusammenlebens mit Zielen von Freiheit und Gerechtigkeit. Um 900 v.Chr. tritt nach dem Verschwinden der mykenischen Kultur entlang der jonischen Küste ein Kolonisationsprozess in Gang, der insbesondere in den fruchtbaren Tälern zwischen den Gebirgszügen in Küstenähe Siedlungen hervorbrachte, die um 750 v.Chr. solche Stadtstaaten wurden, zu denen noch ein Landgebiet gehörte. In der Polis hatten alle politischen und kulturellen Einrichtungen ihren Sitz. An der Spitze des Gemeinwesens stand zunächst der König, der aus gottentsprossendem Geschlecht stammte und die königliche Würde besaß. In seiner Person bündelte sich die Macht des höchsten Priesters, des höchsten Heerführers und in Friedenszeiten die oberste Leitung in Gemeindeangelegenheiten. Diese Stadt-Staaten waren voneinander unabhängig und führten häufig gegeneinander Krieg.

Die Polis war ursprünglich eine Ansiedlung um eine befestiget Zufluchtstätte – eine Akropolis – und gründete in der Frühantike Tochterstädte an der Küste des Mittelmeeres, die dann politisch unabhängig, jedoch über Jahrhunderte hinweg der Mutterstadt verbunden blieben. Denn die zuziehenden Bewohner brachten Maße und Gewichte mit, den vertrauten Dialekt und die Schrift, und die gewohnten religiösen Kulte wurden auch in der neuen Heimat weiter praktiziert. Die geographische Lage am Meer nutzte insbesondere in der Periode zwischen 750 und 500 v.Chr. den griechischen Stadtstaaten, Ausgangspunkt für maritime Handels- und Entdeckungsreisen im Mittelmeerraum zwischen Nordspanien und Schwarzem Meer zu werden. Der Handel, mehr auf dem Seeweg als über Land, brachte den meisten Stadtstaaten Wirtschaftswachstum und eine politische Entwicklung zu Freiheit und Demokratie. Seine Blütezeit erreichte die ‚Polis’ im Hellenismus des 5. bis 4. Jh. v.Chr. Damals wurde Athen zum Zentrum der griechischen Kultur. Denn die offenen Strukturen einer Polis ließen der schöpferischen Phantasie viel Raum, was den Athenern einem unüberbietbare Glanzzeit im Kulturleben ermöglichte, da sie Kunst und Architektur, Philosophie und Wissenschaften wertschätzten und förderten. Die Stadtstaaten zogen Menschen, die sogenannten Barbaren, aus anderen Regionen des damaligen Erdkreises an, waren von Sklaven und Sklavenhandel abhängig und blieben später im Machtpoker der Monarchien nach Alexander dem Großen für sich selbst funktionierende Einheiten.

Von nicht weniger als 158 Stadtstaaten hatte Aristoteles die Verfassung studiert, um seine spätere Staatstheorie zu erarbeiten. Für ihn sind sechs Verfassungen für das Zusammenleben in der Antike kennzeichnend. Je nachdem, ob man auf den eigenen Vorteil bedacht ist oder ob man dem Gemeinwohl dienen will, zählt er zu den schlechten die Tyrannis, die Oligarchie, in der wenige herrschen und die Ochlokratie, eine Herrschaft der breiten Masse. Zu den guten rechnet er das Königtum, die Aristokratie und die Politie. Letztere entspricht seiner Meinung nach am ehesten einer Demokratie und ist eine Herrschaft des richtigen Maßes und berücksichtigt die tatsächlichen Lebensverhältnisse seiner Bewohner. Über die römische Civitas ist dann die sich selbst organisierende Stadt und ihre Staatstheorie ein wichtiger Teil der politischen Tradition Europas geworden, die sich über die Monarchie auf Demokratie hin entwickelte.

Der freie Grieche wollte und konnte in Freiheit seinen persönlichen Lebensstil entfalten und nach Möglichkeit und Stand politisch und sozial im Staatswesen mitwirken. Griechenland war eine Männergesellschaft, da Frauen, wie auch die Sklaven die Alltagsplackerei übernehmen mussten. Vorrangig Männer beherrschten die Öffentlichkeit, pflegten ihr Geistesleben und konnten sich der Muse hingeben, in Künsten üben oder Handel treiben. Die Bürger der Stadtstaaten brachten so ihre Polis durch Handel zu Reichtum und durch Künste vielfältigster Art zu Ansehen.

Das antike Athen ist die Stadt, die als erste überhaupt eine demokratische Verfassung hatte, auch wenn dies nicht von Anfang an so war. So setzt sich auch der Begriff „Demokratie“ aus den beiden griechischen Wörtern „demos“ (Volk) und „kratia“ (Herrschaft) zusammen.

Nach der Abschaffung der letzten Tyrannis führte Kleistenes 508 die Demokratie ein, die sich dauerhaft etablierte und als günstig für die weitere Entwicklung des Staates erwies.

Dadurch, dass alle wahlberechtigten Bürger in der Politik großen Einfluss hatten, entwickelten sie eine starke Loyalität für die Polis. In zwei Jahrhunderten entwickelte sich eine Demokratie der freien Bürger, eine ‚Herrschaft des Volkes’, mit Idealen wie Freiheit und Gleichheit. Diese Stadt-Bürger-Vereinigung verlangte um der Selbstorganisation wegen zur Erfüllung von Pflichten viel Zeit, die man als freier Bürger dafür mitbrachte. So war eine ‚demokratische’ Polis zugleich auch eine Art ‚Zwangsstaat’ von freien Bürgern. Der kommunale Verband war stets auch eine religiöse Einheit – doch ohne Priesterkaste -, und ihr ‚nomos’, die Ordnung des Gemeinwesens, umfasste die staatliche Ordnung und die kultischen Bräuche. ‚Staat machen’ bedeutete für die Bürgerschaft, allzeit die heikle Balance zwischen einer Solidarität der Bewohner und der Durchsetzungskraft des Herrschers verantwortlich und vernünftig zu meistern. Das Volk hatte nicht, wie beispielsweise bei einer Monarchie, das Gefühl, nur für die Oberschicht zu schuften, sondern sah Regierung und Bürgerschaft als eine Einheit an. Sie arbeiteten dementsprechend hart, obwohl Berufspolitiker aus dem Adel die Leitung behielten. Durch diesen immensen Arbeitseinsatz seitens der Bürger erlebte Athen vor allem während der Perserkriege und der Herrschaft Perikles‘ sozusagen ein „antikes Wirtschaftswunder“.

Dieser wirtschaftliche Aufschwung begünstigte die Philosophie in Athen enorm. Da die Stadt immer reicher wurde, hatten vor allem Männer aus der Oberschicht viel Muße, sich mit wissenschaftlichen und philosophischen Problemen zu beschäftigen. Sie rätselten über den Bau der „kleinsten Teilchen“, der Atome (gr. Atomos = unteilbar) und schlugen sich mit mathematischen Problemen herum.

Während der Antike zeichnet sich bei den Griechen zusehends eine nicht ‚stammesbedingte’ Volks-Einheit oder Zugehörigkeit durch Bluts-Verwandtschaft, wie bei den Hebräern ab, sondern eine Handels- und Kultur-Identität, deren Kern nicht das Volk, sondern die Polis und das Individuum waren. Die zentrale Lage Griechenlands am Mittelmeer ist äußerst günstig für Handel und Schifffahrt, deshalb ist es nicht weiter erstaunlich, dass sich Griechenland zu einer bedeutenden Kolonial-, Handels- und Seemacht entwickelte. Griechische Kolonien entstanden in Italien, Sizilien, Spanien und Frankreich, ebenso wie rund um das Schwarze Meer. Diese Ausbreitung des Griechentums sorgte nicht nur für einen vermehrten Reichtum in den Mutterstädten, sondern führte auch dazu, dass viele neue Kenntnisse und Ansichten aus den fernen Kolonien nach Griechenland vordrangen. Dort wurden sie von den heimischen Philosophen begierig aufgenommen. Sie versuchten, aus den unzähligen Thesen und Erkenntnissen ein allgemein gültiges System aufzubauen. Ähnlich wie die Kolonisation wirkte sich auch der weitläufige Handel Athens im gesamten Mittelmeerraum aus.

So waren auch später die Hellenen im politischen Sinne nie national vereinigt; doch man wusste sich einer gemeinsamen Kultur zugehörig. Die Identität kam nicht durch das Volk, sondern die Kultur: „Griechische Identität bestand aus Dichtung und Kult“, so Hans-Joachim Gerke. Dabei wurde „als Grieche im Hellenismus jeder angesehen, der sich wie ein Grieche ausdrückte und verhielt. Söldner und Händler, Gelehrte und Ärzte, Sportler und Künstler pflegten so auch über große Distanzen hin weg einen erstaunlich regen Austausch. Gemeinsame Denk- und Lebensformen, der Götterkult und vor allem die Sprache waren Bindemittel dieser überregionalen Identität.“ (Hans-Ulrich Wiemer).

Polis-Alltag und griechische Kultur verbanden und prägten später die ersten Christen-Gemeinden. Mit der Großen Griechischen Kolonisation (um 750 bis 550 v. Chr.) verbreitete sich der Typus der Polis vom griechischen Mutterland (das Festland und der Ägäisraum) über die Küsten fast des gesamten Mittelmeers und des Schwarzen Meeres, dem später die ersten christlichen Gemeinden erwuchsen. Seit der Besiedlung einst führte dies dazu, dass sich der Kommunikationsraum, in dem Griechen ihre Erfahrungen austauschten und in ihren lokalen Gemeinschaften spezifische Identitäten entwickelten, erheblich erweiterte. Später, in hellenistischer, römischer und spätantiker Zeit verloren die meisten Poleis dabei zwar ihre politische Unabhängigkeit, blieben aber noch sehr lange halbautonome Gemeinwesen und bildeten das ökonomische wie administrative Rückgrat der Diadochenreiche wie des Römischen Reiches. Die christlichen Gemeinden in den ‚Poleis‘ -von einst- versuchten sich dem Ideal der kleinen, überschaubaren Gemeinde anzunähern, in der man einander kannte und sich leicht zu Versammlungen einfinden konnte. Paulus, seine Christologie, seine Gemeindevorstellung, wie auch die Gestaltung der Kirche selbst, sind schwerlich zu verstehen, wenn man ihn nicht zunächst als Kind dieser hellenistischen Kultur sieht – Saulus aus Tarsus, ein römischer Bürger mit griechischer Kultur, der dank seines jüdischen Elternhauses – vermutlich – in Jerusalem zum jüdischen Schriftgelehrten ausgebildet, die beiden Denkweisen einer verinnerlichten Glaubens-Beziehung und eines zeitgemäßen Wissens- und Logik-Systems zu verbinden wusste. Griechische Kultur steht, wie bei ihm, gleichsam im Pass all der anderen Bewohner im Römischen Reich, die von der hellenistischen ‚Leitkultur’ geprägt waren und sich dazugehörig fühlten. Diese Kultur sollte künftig dem Christentum durch logisches und systematisches Denken als Theologie zur geistigen wie auch durch Gemeindebildung und ein sich zusehends hierarchisch strukturierendes Kirchen-System zur ekklesialen Beheimatung dienen, deren Wurzeln in der Gottes-Beziehung Israels ruhen und somit der hebräischen ‚Zeit-Kultur’ entspringen.

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Quelle: Schwabenverlag Stuttgart

27 ZEIT-Kultur ‚hebräisch’

Im ersten Schöpfungsbericht geht es „neben der Erschaffung von Lebensräumen vor allem um die Erschaffung von Zeiträumen. Am ersten Tag schafft Gott durch die Trennung von Licht und Finsternis den Unterschied von Tag und Nacht. Am vierten Tag setzt Gott Sonne und Mond und auch die Sterne an das Himmelsgewölbe, damit sie der Bestimmung von Festzeiten und Zeitperioden dienen. Sie dienen als „Weltuhr Gottes“ (W.Gross). Im Unterschied zu dem Stellenwert, den die Gestirne in den Religionen der Nachbarvölker Israels hatten, bekommen sie nicht den Status einer Gottheit, die verehrungswürdig ist, sondern sie werden allein auf ihre Funktion reduziert, den Jahreslauf zu gliedern.“ (Bettina Wellmann) Die Zeitstruktur der Welt liegt in Gottes Gegenwart und die zeitliche Ordnung in Rhythmen ist gut, sinnvoll und stabilisierend für seine Schöpfung wie sein menschliches Geschöpf. Im siebten Tag wird die Schöpfung vollendet und heiligt sich sein Geschöpf durch den Sabbat, durch den wöchentlichen Ruhetag. Die Schöpfung der Zeiten bildet also den Rahmen und die Mitte des Schöpfungsberichtes (1., 4. und 7.Tag). „Die Erde ist nach dem Welt-Bild von Gen 1 die Ordnung der Zeit; denn die Ordnung der Zeit bildet das tragende Gerüst des Ganzen Schöpfungswerkes.“ (Georg Steins) Auch wenn in Gen 1 Räume geschaffen und einander zugeordnet werden, ist aber die Ordnung der Zeit primär. Im Vergleich zu vielen anderen Schöpfungstexten aus dem Alten Orient und Ägypten spielt die Zeit nirgendwo eine entsprechend dominierende Rolle. Zuerst wird die Zeit eingerichtet und ihre grundlegende Einheit ist der Wechsel von Finsternis und Licht, also von Nacht und Tag, und am vierten Tag kommen Sonne, Mond und Sterne gleichsam als Zeitmessgeräte für die Monate und das Jahre hinzu. Für die große Zeiteinheit ist das Sonnenjahr maßgebend, die kleineren Einheiten richten sich nach der Mondphase. So wird die Zeit gegliedert und rhythmisiert und erhält im siebten Tag seinen Ruheort und transzendentalen Grund. Schöpfer von Zeit und Zeitordnung ist und bleibt Gott und das Zeitgefühl ist dabei geprägt durch Zyklen und Rhythmen. Auch dem rhythmischen Denken von Beginnen und Beenden, von Verheißung und Erfüllung bindet sich in den biblischen Erzählungen für bzw. durch das Geschöpf selbst ein lineares geschichtliches Zeitverständnis ein.

Beide Bilder ‚Spross Jsais’ und ‚neues Jerusalem’ von Sieger Köder verdeutlichen diese lineare Sicht, die insbesondere im christlichen Glauben einem ‚zeitlichen Spannungsbogen’ von und in Gottes Gegenwart entspricht und ist im biblischen und hebräischen Zeitverständnis und Denken grundgelegt. Ewig in Gottes Gegenwart zu ruhen, mit all seinen Natur-Zyklen wie Tag- und Nacht-Rhythmen, mit all seinen Werdens- und Vergehens-Abläufen, mit all seinen Prozessen und Entwicklungen, die Mensch und Menschheit betreffen, kennzeichnet diese hebräische, so nennbare ‚Kultur-Zeit’: Die hebräische „ZEIT-Kultur“ basiert auf einer religiösen, geistig-geistlichen Beziehungs-Kultur von Gott und Mensch, die sich durch die Kultur-Zeit von Gottes Geschöpf, insbesondere des Volkes Israel und in der Natur-Zeit von Gottes Schöpfung offenbart. Neben der zyklisch-mythischen Zeitauffassung und Zeitpraxis der Natur und in ihr gibt es im biblischen Denken auch komplementär dazu ein linear geschichtliches Zeitverständnis. „Das biblische Zeitverständnis ist vielfältig. Es verknüpft rhythmische und kreisförmige, geschichtlich einmalige und verlässlich stetige Erfahrungen von Zeit miteinander. Das Zeiterleben spannt sich aus zwischen Gelassenheit dessen, der seine Zeit in Gottes Händen weiß und des apokalyptischen Krisenbewußtseins, das die persönlich rechte Entscheidung unter Zeitdruck eines nahenden Endes stellt“ (Hinz, S.168).

Gott Jahwe als immerwährende, ewige Gegenwart bedingt zum Menschen eine Beziehungs-Kultur. Gott ist gleichsam – bildhaft – der Mittelpunkt, von dem her, wie auf den hin gedacht, gesprochen und gehandelt wird. Zugleich steht Gott mit jedem Punkt der Teilfläche in Beziehung, der stetig selbst, einem Kreis-Teilstück vergleichbar, in seiner Zeit-Spanne dem Mittelpunkt Jahwe gegenübersteht als dem ‚ewig gegenwärtigen Gott’. Damit steht alles zu diesem unendlichen, wie begrenzten, ewigen, wie zeitlichen ‚fiktiven’ Kreismittelpunkt in steter Beziehung und Bewegung. „Grundlegend für das biblische Zeitverständnis ist die Überzeugung, dass Gott sich auf die weltliche Zeit einlässt. Dabei ist im biblischen Kontext nie von einer Zeitlosigkeit Gottes die Rede. Vielmehr wird Gott wahrgenommen als ein lebendiger Schöpfer, welcher der mit Leben erfüllten Welt Zeit gewährt und mit seinen Geschöpfen und im Besonderen mit seinem Volk Israel beziehungsreich interagiert. Gott ist in der Zeit präsent ohne aber pantheistisch in der Welt aufzugehen. Er lässt sich auf die Geschichtlichkeit ein und schwebt nicht abstrakt, transzendent über der Zeitlichkeit der Welt. Doch zugleich bleibt der Schöpfer Herr der Zeit. Erinnern und Hoffen werden zu Grundformen biblischen Zeitumgangs. Offenkundig ist immer die Differenz zu einem griechisch-philosphischen Zeitverständnis, einer transzendenten, göttlich zeitlosen Ewigkeit, die im Gegensatz zur weltlichen Zeitlichkeit steht“ (Hinze, 169).

Dieser ‚unfassbaren’ Gottes-Zeit ist des Menschen zeitliches und geschichtliches Dasein, wie Handeln in einer Art von Kultur-Zeit eingebunden, was sich anschaulich als Spannungsbogen darstellen lässt. Denn im zeitlichen Spannungsbogen der Schöpfung, genauso wie des Geschöpfs mit Anfang und Ende, im geschichtlichen Spannungsbogen des Volkes mit Verheißung und Erfüllung, mit Sündenfall und Erlösung, wie im lebensgeschichtlichen Spannungsbogen jedes einzelnen Menschen von Geburt bis zum Tod, mit seinen spezifischen Zeitabständen von Ursache und Wirkung, wie auch Schuld und Vergebung u.a. kann nicht von einem Zyklus gesprochen werden. Obwohl auch im biblischen Denken die Natur-Zeit diese Betrachtung zulässt, ist sie in des Menschen Kultur-Zeit als Spannungsbogen ausgeprägt. Denn, dem Hebräer ist Gottes Gegenwart und Begleitung zueigen wie ‚zugedeutet’, und der Mensch selbst kann in Freiheit deuten, ob er in seiner Beziehung zu Jahwe nah oder fern ist.

Die Schöpfungs- und Erdenzeit zeichnet sich primär durch eine zyklische Natur-Zeit aus, die zugleich auch als ein Spannungsbogen zwischen zwei ‚fassbaren’ Enden in Jahwes Gegenwart, wie beim menschlichen ‚Geschöpf’ selbst gedeutet wird auf einer linearen hebräischen Weltsicht, wie bei Schöpfungsbeginn und Weltuntergang. Üblicherweise zeichnen eigentlich zyklische Zwischen-Rhythmen wie Dunkelheit und Helligkeit, die schwerlich abgrenzbar ineinander übergehen und verschwimmen, solch einen ‚Spannungsbogen’ im hebräische Zeitverständnis Jahwes Handeln in der Schöpfung aus – siehe auch Anfang-Ende-Geschehnis wie bei Tag und Nacht, Aufgang und Untergang, Wachsen und Reifen, Säen und Ernten; insbesondere wenn der Mensch darin selbst mehr aktiv oder passiv handelt, erscheint der Natur-Zyklus als Spannungsbogen. Verursacht durch menschliches Handeln, das einer Funktion oder einem Ziel zugeordnet werden kann während einer persönlichen Lebens-Zeit oder in der Geschichts-Zeit des Volkes Israel wie z.B. Aufbruch in Ägypten und Einzug in Kanaan, Verschleppung nach Babylon und Rückkehr.

Die immerwährende ‚Gegenwart Gottes’ birgt für den Menschen das Axiom, von Gottes deutbarer Offenbarung wie Verhüllung genauso wie seiner Nähe und Ferne. In der Erinnerung tritt die Vergangenheit in die Gegenwart. Wenn uns in der Erinnerung das Herz aufgeht, dann ist das immer ein Zeichen für Gottes Gegenwart in dieser Zeit. Wenn sich jedoch in der Erinnerung das Herz zusammenzieht, wenn man merkt, damals hatte ich mich nicht richtig verhalten, dann muss manchmal Gottes gnädige Hand die Vergangenheit bedecken. Aber auch dieses Zusammenziehen des Herzens weist auf Gottes Gegenwart hin. Dieses Verständnis spitzt sich zu in der Bundes- und Volks-Geschichte Israels mit Jahwe, die später christlich als ‚Neuer Bund’ gedeutet und durch das Christentum fortgesetzt werden konnte. In dieser Zeit-Kultur ist somit dem immer gegenwärtigen ‚ewigen’ Gott der sterbliche und vergängliche Mensche gegenüber gesetzt, der lebens-geschichtlich – individuell wie kollektiv -, zeitlich wegen des Spannungsbogens in der Schöpfung ‚relativ’ ist, aber – hebräisch gedacht – in Gott selbst als Geschöpf ‚absolut’ beheimatet ist, und doch hat der Mensch als Gottes Geschöpf und zugleich Ebenbild den Handlungs-Auftrag eigenverantwortlich inne.

Die einzigartige Stellung Israels in der Religions- und Geistesgeschichte der Menschheit wird also von einer Volks-Gemeinschaft und Volks-Gemeinde getragen, die im blutsverwandten Zusammenhang ihre Wurzeln hat und ihre Existenz beruht in einem alles bestimmenden göttlichen Gesetz. Erschaffung und Ebenbildlichkeit des Menschen bedingen so des Volkes Israel ‚irdische’ Identität von menschlicher Wirklichkeitserfahrung (Hören und Sehen) wie –erfassung (Denken). Beide sind zugeordnet dem zeitlichen Spannungsbogen von Anfang und Ende. So beheimatet der irdische Schöpfungs-Raum den Menschen mit seiner Beziehungs-Geschichte seit Adam, über die Stammväter Abraham, Isaak, Jakob und entwickelt sich in den zwölf Stämmen Israels als eine kollektive Familien-, Stammes- und Volks-Beziehungs-Identität. Für jeden Hebräer, der Israelit ist, soll diese Beziehung maßgebend sein, kollektiv aber werden die Israeliten als Volk zusammengehalten und begleitet im Bund mit Jahwe. Die Bundes-Geschichte mit Jahwe bedingt so in der hebräischen ZEIT-Kultur bzw. Kultur-Zeit die Geschichte Israels mit seiner Volks-Identität, deren man sich durch gemeinsame ‚Volks’-Erlebnisse wie Exodus, Gesetzgebung, Babylonische Gefangenschaft u.a. gegründet und getragen weiß. Man findet seine Identität durch ‚Vergegenwärtigung’ in Gottes Wort und Kult, wodurch Jahwes Begleitung durch die Zeit hindurch hörbar und sichtbar wird und diese Beziehung in Kultfeiern zur Erinnerung, wie Verheißung als Jahwes Gegenwart lebt, nicht im zyklischen Kreis – wie bei den Griechen -, sondern in einer Art geschichtlichen Zeit-Spirale als Jahwes Volk. Zugleich ist Fakt, dass die Schöpfung von Erde und Natur als räumliche Größe der Zeit zu bzw. untergeordnet ist und daselbst wie in der griechischen zyklischen Zeitvorstellung der Naturtakt ebenfalls das Leben der Menschen rhythmisiert.

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Schöpfung von Erde, Natur und Mensch, Meister Betram; Quelle: www.geschichteinchronologie.ch

28 Zeit-Kultur als Schöpfung der Erde und Erschaffung des Menschen

Jahwes Gegenwart umschließt die Schöpfung der Erde: Erschaffung von Land und Meer gemäß einem eher zyklischen ‚Natur-Takt’, sowie die Erschaffung des Menschen als Geschöpf Gottes im mehr linearen ‚Kultur-Takt’. Israelitische Schöpfungsvorstellungen sind geprägt durch eine radikale Kontingenz der Welt. Die Wirklichkeit wird primär nicht in einer kosmischen Ordnung verankert gesehen, sondern ruht zeit-geschichtlich in Gottes Gegenwart. Gott schafft Anfang, Mitte und Ende der Zeit. Gott ist der Herr der Zeit. Wir leben in seiner Gegenwart. In der Zeit scheint die Gottes Gegenwart auf. „Am Anfang war das Wort“ (Joh 1,1). „Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde“ (Gen 1,1). Gott macht den Anfang mit dem Himmel, mit Sonne, Mond und Sternen und in mitten mit unserer Erde, er machte den Anfang mit Pflanzen, Tier und Mensch, mit Orten in denen sie leben können. Gott macht den Anfang. Er schafft eine gute Ordnung: Die bewahrt er. Wenn wir Menschen diese Ordnung antasten und zerstören, dann machen wir etwas falsch. Wenn wir unsere Umwelt verbrauchen und unsere Mitmenschen missbrauchen, wenn wir Dinge und Tiere und Menschen nur als etwas betrachten, das für unseren Genuss geschaffen ist, dann ist das verkehrt, dann scheint alles zu Ende zu gehen, dann glauben wir oft nicht mehr an Gottes gute Ordnung, dann hoffen wir auf einen Neuanfang, dann erwarten wir Erlösung, dass Gott selbst kommt, uns befreit aus unsrer Hilflosigkeit, uns neue Chancen gibt. Dann hören wir vielleicht in der Mitte der Zeit: „Die Zeit ist nahe“ (Offb 1,2).

Die Welt ist im biblischen Schöpfungsverständnis weniger ein statistischer und räumlicher Kosmos, wie bei den Griechen, als vielmehr ein dynamischer und zeitlicher Vorgang. „Der priesterschriftliche Schöpfungsbericht schildert Gott als Schöpfer, der mit den Grundkategorien Zeit und Raum den Menschen eine geordnete Welt vorgibt“ und der Schöpfergott ist absolut verschieden vom Chaos, aber auch von seiner Schöpfung und existiert offenbar von jeher. Das ganze Weltall ist ungeordnet und infolge der Finsternis vom zeitlich und räumlich orientierungslosen Tohuwabohu geprägt, bis Gott aktiv gestaltend eingreift und Zeit und Raum ordnet, um Lebensraum zu schaffen als sprechender und darin selbst schöpferisch wirkender Gott. Er ist nicht abstrakt und setzt gleichsam die Schöpfung als physikalische Gegebenheit in Bewegung. Gott ist der Anfang der Zeit. Gott ist die Mitte der Zeit. Gott ist aber auch das Ende der Zeit. „Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende“ (Offb 22,13). „Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das erste ist vergangen… Siehe, ich mache alles neu!“ (Offb 21, 3 ff). Gott ist der Schöpfer der Zeit. Er kommt in der Mitte der Zeit in unsere Mitte und er wird uns am Ende der Zeit erlösen. „Die Schöpfung der Zeit geschieht aus Chaos und ungeordnetem Raum. Der eigentliche Schöpfungsvorgang beginnt mit der Verdrängung des Chaos durch die Schöpfung des Lichts (Gen 1,3). Durch die Trennung von Licht und Finsternis ist die qualitative Grundstruktur der Zeit aus dem ersten Schöpfungswerk gegeben“ (vgl.Hinze, S.176).

Mit der Schöpfung offenbart sich einerseits der Schöpfer selbst als Handelnder, dem das Wort als ausführendes Kraftpotential innewohnt, und zugleich ist das Geschöpf in seiner Ebenbildlichkeit selbst Handelnder, dem neben der Sprache das Tun zueigen ist.

Mit dem Schöpfungsauftrag an den Menschen wird die Geschichtlichkeit der Erde festgehalten, dem das Bebauen und Bewahren (Gen 2,15), sowie der (priesterschriftliche) Herrschaftsauftrag (Gen 1,28f), die Namensgebung als Herrschaftsakt (Gen 1,19f) gegeben ist. Der Mensch ist in der Schöpfung zum Eingriff und zur Veränderung bevollmächtigt. Mit Leib und Seele ist er als Mensch in die Zeitlichkeit hineingeschaffen. Als Ebenbild Gottes und in Stellvertretung soll er in der Schöpfung Gottes Willen vergegenwärtigen. So ist sein Leben gleichbedeutend mit Zeit und Zeit haben. Einzig im Tod endet des Menschen Schöpfungs-Zeit. Das Beziehungs-Geschehen in der Bundes-Geschichte ‚Jahwe-Israel’, das Identität stiftet, reiht linear alle Geschehnisse dieser Beziehung auf und ‚heiligt’ Ereignisse dieser Geschichte Jahwes mit seinem Volk Israel zur identitätsstiftenden Heilsgeschichte. „Das Judentum ist eine Religion der Zeit, die auf die Heiligung der Zeit abzielt“ (Henschel). Der siebte Tag ist der geheiligte Tag. Er repräsentiert mit der Heiligung der Zeit etwas Neues, das fortan das Leben des Menschen in der Zeit bestimmen und mitprägen soll. „Nicht im gestaltlosen Einerlei, sondern im Rhythmus der schöpferischern Wirkens Gottes vollzieht sich das Leben der Geschöpfe, das Leben der Menschen, die ihr Ziel in nichts Geringerem als eben dem Heiligen selbst finden.“ (Georg Steins). Dieser Heiligung soll sich der Mensch stets bewusst sein und einordnen. Dienlich dafür ist seit Schöpfungs-Beginn ‚der Tag der Ruhe’. Es ist kein Tag der Arbeit, klein weiteres Werk Gottes, das den zuvor erzählten Schöpfungswerken entspricht, so0ndern spricht von der Vollenden der Arbeit Gottes und das Aufhören Gottes mit all seiner Arbeit. Diese Sicht und Haltung übergibt er gleichsam dem Menschen als seinem Ebenbild. Dann soll die Veränderbarkeit der Schöpfung durch den Menschen unterbrochen werden – so im späteren Schöpfungsbericht – und diesen ‚Tag der Ruhe’ soll der Mensch als Höhepunkt der Schöpfung bewahren. Dieser Tag sei gewissermaßen menschlicher Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit enthoben. Kein gestaltendes Handeln ist erlaubt. Mit Erschaffung der Gestirne wird die zeitliche Ordnung der räumlichen Welt vorgeordnet. die Schöpfung insgesamt findet aber erst in der Heiligung des siebten Tages ihre Vollendung (Gen 2,2f). Dass dieser religiöse wie kulturelle Stand des Unterschieds zwischen Alltag und Festtag in einer säkularisierten Gesellschaft Gefahr läuft, verloren zu gehen, ist das Schwinden von Sinn und Zweck dieser Heiligung. Ohne seine Eigenart verliert der dann seine Existenzberechtigung und das Individualgut ‚Freiheit’ wird die Gliederung von Zeit im Schöpfungsrhythmus aufheben müssen. Denn es zählt der Nutzwert des Sonntags für das Individuum in seiner Vielfalt wie Vielseitigkeit, und nicht der Volkswert von Gemeinwohl, wie es hebräischem Denken und hebräischer Weltsicht zueigen ist. Der Hinweis von Norbert Blüm: „Der homo faber ist eine Spätgeburt der Menschheitsentwicklung und der homo oeconomicus ist eine neuzeitliche Degenerationserscheinung, deren Eltern Kapitalismus und Sozialismus sind“, erklärt dieses gesellschaftspolitische Problem der Gegenwart treffend mit dem Hinweis auf den Funktions- und Nutzwert von Geld und Geschäften. Ob dies eher einer zyklischen Weltsicht der Griechen als einer lineraren Weltsicht hebräischer Art entspricht, bleibt fraglich.

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von Pietro de Crescenzis, 13.Jh.; Quelle: fr.wikipedia.org/wiki/Pietro_de%27_Crescenzi

29 „Zeit-Kultur“ im Natur-Takt der Schöpfung

Der linearen Zeitvorstellung beim Menschen tritt eine zyklische zur Seite, wenn wir den Blick eng auf den Jahreslauf richten, wie zumeist auf dem Land: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (Gen 8,22). Die Worte „solange die Erde steht“ brechen aber zugleich das zyklische Ordnungsgefüge auf ein lineares hin. Der jüdisch-christliche Glaube denkt irdische Ordnung nie absolut. Scheinbare Zyklen in denen wir leben, sind nicht ewig. Wir leben auch in der schönsten Ordnung nicht „in einer ewigen Wiederkehr des Gleichen“ (Nietzsche), wie die griechische Mythologie sie denkt. Statt von Zyklen lässt sich eher von zeitlichen Spannungsbögen sprechen. Zwölf Situationen ländlicher Arbeiten im Laufe eines Jahres – vom Säen und Ernten bis zur Schafschur und Schlachten eines Schweins, (13.Jh.) wie auf diesem Bild ersichtlich, lassen sich im Sinne solcher Schöpfungs-Erfahrung und Natur-Zeit jeweils als einzelne zeitliche Momente bzw. Ausgangs- oder End-Punkte eines je spezifischen Spannungsbogens menschlichen Handelns betrachten.

Natürliche Rhythmen spielten für die einstigen Nomaden bzw. Halbnomaden der Stammväterzeit eine nicht unerhebliche Rolle. Das nomadische Zeitverständnis orientierte sich an den periodischen Vorgängen der Natur und den kosmischen Zyklen von Sonne und Mond. Nach der Landnahme richtete man in einer Ackerbau-Kultur den Blick auf Säen und Ernten. Der beobachtete Sonnenlauf war dabei maßgebend. Natürlicher Vorgänge und menschlicher Handlungen wurden in der Natur gefunden. Im überschaubaren Rahmen von Familie, Sippe und Stamm Maßstäbe und Bewertungen erklärte man sich mit Rhythmen der Natur Fragestellungen nach Leben und Tod, Tag und Nacht. Die Zeiteinteilung war aufgabenorientiert. So ließen sich die ursprünglich nomadischen Lebensformen mit den Erfordernissen der sesshaften Kultur verbinden. War die nomadische Ausrichtung eher linear, ist die sesshafte zyklisch. So spielten auch für die Hebnräer in Gottes Schöpfung natürliche Rhythmen eine nicht unerhebliche Rolle. Doch es zeigte sich später für Israel im Kontakt mit Gesellschaften der kanaanäischen und später dann der babylonischen Kultur, dass sich für das Volk Israel in der Verschmelzung bei gleichzeitiger Abgrenzung eine sachgemäße Anpassung ergab. Ihr Bundesverhältnis zu Jahwe dem Schöpfergott wurde bestimmend, und die ‚weltliche Sichtweise’ von Zeit, sei es eher zyklisch im Kreis einer naturbedingten, jahreszeitlichen Wiederkehr oder linear als geschichtlicher Pfeil waren dabei hilfreich. Man lebt stetig dem Morgen entgegen. Ein vielfältiger Umgang mit Zeit entsprach somit der Gottes-Beziehung Israels und seiner Geschichte als Volk Gottes. Die Zeit bestimmt zwar den Raum der Erde, auch im ‚Naturtakt der Schöpfung’, ist aber dabei selbst stets ‚relativ’ gegenwärtig, da beim Schöpfer-Gott selbst die ‚absolute’ Gegenwärtigkeit ruht und wirkt. Der Raum der Schöpfung ist dem Schöpfer zugeordnet, wodurch Gottes Gegenwart in seiner Schöpfung Zeit verkörpert und die Beziehung zwischen Gott Jahwe und Mensch letztlich auch einem abstrakten Zeitbegriff voranzustellen wäre. Konkret ereignet sich diese Vergegenwärtigung in der geschichtlichen Entwicklung Israels mit einer kollektiven Erinnerung an Kulturereignisse mit Jahwe als Führer, Gesetzgeber, Wasserspender, Landgeber u.a.

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Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb…

30 In der Zeit-Kultur> Kulturereignis: EXODUS

Mit Mose beginnt der Glaube und die Geschichte Israels, und mit dem der ‚Exodus’ (Auszug)

fangen die Stämme an, sich unter Mose Führung als Volk zu verstehen. Nach dem Verlassen Ägyptens wurde der Zug durch das Rote Meer und die Wüste zum identitätsstiftenden Volks-Ereignis. Und dass sie nach der Errettung im Bund mit Jahwe als sein Volk in das verheißene Land unterwegs sind, führte Israel auf seine Existenz und seine Sonderstellung im Kreise der Völker zurück. Der Auszug aus Ägypten ist so zum Urbekenntnis Israels geworden (Ex 15,1-18) und Keimzelle der schriftlichen Überlieferung in den fünf Büchern Mose.

Der beschwerliche Zug der Befreiung durch Meer und Wüste nach dem Sklavenhaus ist ein geschichtlicher ‚Kultur-Fakt’ in der Entwicklung zum Volk Israel. Er reiht sich ein in die Heilsgeschichte des Volkes unter Jahwes Beistand und Begleitung. Dieses Freiheitsverständnis von Befreiung wurde für das biblische Denken wesentlich und Freiheit wurde – wie bereits beim Gestaltungsauftrag für die Schöpfung geschehen – zu einem Freiheitsbegriff der Beziehung, nicht der Entwicklung wie im Hellenismus. Beim jährlichen Passafest feiert Israel dieses Urereignis der Befreiung aus Ägypten. Seitdem reihen sich historische Ereignisse des Volkes gleich Bundes-Gegenwarts-Scheiben linear zur Geschichte aneinander. Beim Deuten hat das menschliche Geschöpf ‚heutzutage’ in beiden Sichtweisen: glaubend im Bund mit Jahwe bzw. ohne Jahwe recht, da der Mensch in Freiheit deuten und entscheiden kann. Die Geschichte Israels als Heilsgeschichte zu bezeichnen, kann daher im zeitlichen Spannungsbogen aufgrund der Beziehung zwischen Gott Jahwe und Volk Israel nur aus der Sichtweise Jahwes dem Anspruch und der Hoffnung: Heil entsprechen, und ist für den Menschen stetig relativ im zeitlichen ‚Unterwegs-Sein’ mit Gott Jahwe. Dieses Geschehnis bewirkt, dass der Mensch persönlich mit seiner Lebensgeschichte, wie kollektiv mit seiner Zeit als Geschichte des Volkes Israel stetig in Gott gegenwärtig ist inmitten der linearen Zeitausrichtung: Vergangenheit und Zukunft.

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Mose erhält die Gesetzestafeln, Marc Chagall; Quelle:www.gaebler.info/kunst/nizza/11.htm

31 In der Zeit-Kultur> Kulturereignis: GESETZGEBUNG

Auf dem Berg Sinai/Horeb erhält das Volk seine Bundes-Ordnung und die Zusage von Bundes-Treue durch Jahwes Gesetzgebung. Das Bundesbuch leitet seine Gesetze vom Bundesschluss her (Ex 20,22) und schließt mit Verheißungen für das gegenseitige Bundesverhältnis ab. Das in ihm gesammelte Recht ist nicht vom König, sondern von Gott durch Vermittlung des Mose erlassen, unberücksichtigt, ob es sich bei Mose selbst um eine Legende handelt, wie es die historische Forschung gegenwärtig weitgehend annimmt. Man denkt von Jahwe her. Damit hat sich auch die Anfrage nach Gültigkeit des Dekalogs erledigt. Denn, um kollektiv als Familie, Sippe und Volk weiterhin auf der geschichtlichen Zielgeraden zu bleiben, offenbart sich Jahwes Willen in der Stellvertretung Mose im Dekalog und Bundesbuch und an ihm hat sich des Volkes Willen auszurichten, dem Jahwes Willen als dessen Heils-Willen für sein Volk entspricht. Der Dekalog ist somit allein am Verhältnis des Menschen zum Mitmenschen vor Gott orientiert, dem im Teil I (1. bis 3.Gebot) die Beziehung zu Jahwe selbst und im Teil II (4. bis 10.Gebot) das Miteinander in Familie und Volk entspricht. Gegenseitiges Zeichen des Bundes sind also die ‚Zehn Gebote’ als Bundesbuch und Heiligkeitsgesetz. Gesetzeserfüllung stand für menschliche Zustimmung zum Bund mit Jahwe und drückte das Wesen jüdischer Religiosität aus. Der Dekalog im Exodus 20 und Deuteronomium 5 verbindet verschiedenartige Elemente von Geboten und Verboten, um als Volk dem gemeinsamen Handeln Jahwes in der Geschichte Vorrang zu geben, wobei dem Wort eine Verheißungsfunktion zukommt und dem Ritus die Aufgabe zusteht, Raum zur Erinnerung und Verheißung zu ermöglichen.

Da der älteste Dekalog in Ex 20 weder Bilderverbot noch Sabbatgebot enthielt, ist davon auszugehen, dass die Herausführung aus Ägypten mit der Kundgabe von Gottes Willen am Gottesberg im Bundesbuch verknüpft werden. Dies unterstreicht die Annahme, hebräischer Alltag wird in der Gottes-Beziehung von Gott her gedacht und dem Verständnis, von Gott her zu denken entspricht auch, Gottes Tat allem menschlichen Tun und Lassen voranzustellen d.h. Gott ist und agiert primär, der Mensch agiert nachgeordnet. Demgemäß ist Jahwe Initiator von Welt-Schöpfung wie Erschaffung des Menschen, genauso wie Ursache der Befreiung Israels aus dem Sklavenhaus Ägypten und für das Zusammenleben im Volk für die Einführung des Ordnungsgefüges, einer Gesetzgebung, des Dekalogs maßgebend. Der erwarteten Vertragstreue bei dieser Grundsatzerklärung geht dabei in der Präambel des Dekalogs (Ex 20,2-3) ein Hinweis auf die Wohltaten des Herrn voraus, was traditionsgeschichtlich wie rituell zum Bestandteil israelischer Erinnerungskultur gehören soll, was durch das besondere Verhältnis zum angesprochenen Du und die daraus erwachsenen Verpflichtungen grundgelegt ist.

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Mose schlägt Wasser aus dem Fels, Domitilla Katakombe, 4.Jh.; Quelle:http://82.135.31.182/grotz/diasf/diasf/F03/f03_001.htm

32 In der Zeit-Kultur> Kulturereignis: WASSER aus dem Fels

Wasser gehört im Orient zur wichtigsten Voraussetzung des Lebens; es bedeutet Glück und Sicherheit. Es weist auf ein Grundelement in doppelter Weise für das Leben in ‚Gottes Gegenwart’ hin, das dem Volk materiell für den Leib und geistlich für die Seele verheißen ist und auch in der Wüste zur Verfügung steht. Das Wasser in der Wüste steht für den Willen und Mut, dass in der Beziehung zu leben Sicherheit bedeutet. „Geh dem Volk voran und nimm einige von den Ältesten Israels mit dir. Auch deinen Stab, mit dem du [auf] den Nil geschlagen hast, nimm in deine Hand und geh hin! Siehe, ich will dort vor dich auf den Felsen am Horeb treten. Dann sollst du auf den Felsen schlagen, und es wird Wasser aus ihm hervorströmen, so dass das Volk zu trinken hat, sprach Jahwe zu Mose“ (Ex 17,5f). Doch im Zweifel wird Mose auf dem Weg durch die Wüste zum Weg-Gefährten seines Volkes, ein Israelit unter Israeliten. Er leidet an seinem Auftrag, an seinem Selbstverständnis und seiner Berufung. Vergangenheit und Erinnerung werden verklärt und beherrschen die Gegenwart, nicht das Beziehungs-Geschehen. Im Zweifel steht Mose mit dem Rücken an der Fels-Wand. Im Schrei der Anklage und Verzweiflung erhält er die Antwort und in der Wendung fließt Wasser zum Leben.

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Fall Jerichos; S.Maria Maggiore, Rom; Quelle http://82.135.31.182/grotz/diasf/f04/f04_041.htm

33 In der Zeit-Kultur> Kulturereignis: LANDNAHME

Einzug ins Land der Verheißung, ins Gelobte Land. Die Landnahme ist für Israel ein berechtigtes In-Besitz-nehmen von Schöpfung. In Rechtfertigung des Bundes und in Erinnerung an Gottes Führung vollzieht sich diese Handlung von Einzelaktionen als eine Mischung aus kriegerischer Eroberung und friedlichem Einsickern. Der gemeinsame Bund ermöglicht die Einnahme von Jericho mit allem Wenn und Aber menschlicher Eroberung und Vernichtung. In der Landnahme-Überlieferung des Volkes spielt diese Stadt eine zentrale Rolle. Jericho -oder die erste Stadt, die von den Israeliten nach der Überquerung des Jordans eingenommen wird. Nachdem Spione ist im Haus der Hure Rahab die Lage vor Ort ausgekundschaftet haben, macht sich das Volk unter Führung Josuas auf, überquert den Jordan und nimmt die befestigte Stadt ein (Josua 6). Entsprechend einer Konzeption vom heiligen Krieg hebt die Erzählung hervor, dass es Jahwe ist, der die Eroberung wunderbar herbeiführt. Auf seinen Befehl hin ziehen die Kriegsleute und das Volk, vor allem aber sieben Priester mit Widderhörnern und der Bundes-Lade als Symbol der Gegenwart Jahwes, wie in einer Prozession an sechs Tagen jeweils einmal um die Stadt, am siebten Tag schließlich sieben Mal. Dann blasen die Priester ins Horn, die Kriegsleute erheben ein Geschrei und die Stadtmauer stürzt zusammen – Eroberung irdischer Bollwerke durch das Volk. Der passiven Befreiung im ‚Exodus’ folgte so eine aktive bei der Eroberung, Einnahme und Heiligung Jerichos, die als Heilstat Jahwes gedeutet und gefeiert wurde.

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34 Wirklichkeit ZEIT – RAUM Wirklichkeit

Dieser Abschnitt will nochmals zusammenfassen, was in den vorausgehenden Erörterungen zu den Sichtweisen der Wirklichkeit bei den Griechen, dann von den Hebräern bereits niedergeschrieben wurde und an dieser Stelle eine Zusammenfassung ist bzw. der Vertiefung dienen kann.

Zunächst sein nochmals auf die hebräische ‚Zeit’ selbst eingegangen. Es ist hilfreich im Blick zu haben, dass die Schöpfung selbst der Gegenwart Jahwes, d.h. der Zeit, zugeordnet ist. Ein Blick auf die uns heute gängigen drei Zeitsysteme Naturzeit – Ereigniszeit – Uhrzeit besagt, dass diese sich als modernes, gängiges Zeitverständnisse dem griechischen Zeitverständnis von Chronos und Kairos zuordnen lassen, auch nach ihrer Übernahme und Fortführung im Christentum. Denn die ‚säkulare’ Zeit ist folgerichtig dem Raum eingebunden und an ihm ausgerichtet, und die hebräische Zeitauffassung ist radikal eine andere, auch wenn gegenwärtige Zeit-Punkte und –situationen auf die hebräische hinweisen, wie dies in nachfolgender ‚Differenzierung’ zu Ausdruck kommt: Zeit versteht man a) nach ihrem Inhalt, der die Wahrnehmung der Rhythmen von Gegensätzen im Blick hat, die einander ablösen und alle Zwischenstufen einschließen wie Lichtzeit/Tag – Finsternis/Nacht; Sommer – Winter; oder b) der den zyklischen Kreislauf mit vergangen und zukünftig verbindet; oder dann c) der persönliches und kollektives Zeit-Ereignis linear aneinander reiht wie Kriegszeit, Friedenszeit, Notzeit, Trauerzeit, Festzeit, Gnadenzeit u.a. Diese Zeitzuordnungen lassen sich unterschiedlich pointieren als:

Naturzeit = Phasen der Natur, die in einem natürlicher Kreislauf abwechseln oder sich jahreszeitlich ablösen (Tag – Nacht, Trockenzeit – Regenzeit, Säen – Ernten); der Kreis ist Zeichen für den Zyklus;

Ereigniszeit = Etwas beginnt oder endet, wenn die Beteiligten ‚fühlen’, dass der richtige Moment gekommen ist;

Uhrzeit = Der Zeigerstand bestimmt den Beginn und das Ende des Handelns, einer Aktivität oder Veranstaltung (Erwerbsarbeit, Schule u.a.).

A Wirklichkeit: ZEIT-Kultur hebräisch – israelitisch

Zeit ist wie einZEIT-Behälter für den Hebräer, in dem das ganze Leben individuell und kollektiv in einem Strom von Begebenheiten von frühester Kindheit bis ins hohe Alter mit allen Erlebnissen und Handlungen aufbewahrt ist, und ein zusammenhängendes Ganzes bildet, und den Namen: „ein Leben voller Gegenwart“, trägt. Diese Zeit ist qualitativ, nicht quantitativ messbar, da bei solchem adäquaten Zeitverständnis ‚in Jahwe’ die Jahre mit sich selbst identisch bleiben. Stattdessen steckt hinter der ewig gegenwärtigen Zeit die kollektive Beziehungs-Qualität: Gott Jahwe – Volk Israel. Deshalb sind hebräische Verben zeitlos und das Geschehen wird als vollendete wie unvollendete Handlung gesehen.

Zeit-Inhalt ist Beziehung. Der Mensch steht in Beziehung zu einem ‚Gegenüber’, sprich Du: Jahwe (deshalb: ‚Zwischen’). Beziehung ist das alltägliche, immer gegenwärtige Geschehen von Gott und Mensch. Ein abstrakter Zeitbegriff ist dieser Denkweise fern. Denn stets bestimmen gegenwärtige Beziehungs-Ereignisse die Zeit und füllen diese inhaltlich. „Die Besonderheit des israelitischen Zeitverständnisses liegt allgemein betrachtet darin, dass Zeit nicht unabhängig von einem Geschehen wahrgenommen wird. Zeit kommt daher nicht als abstrakte, chronometrische zu berücksichtigende Größe in den Blick, sondern spielt vor allem als ‚gefüllte Zeit’ eine Rolle.“ „Ein Wort, das die Zeit als abstraktre, absolute Größe wiedergibt, fehlt im Hebräischen ebenso, wie es in der Bibel insgesamt keine abstrakte Auseinandersetzung mit dem Thema Zeit gibt“ (A.Hintz, S.170f). Alle Zeitmessung verschwindet, weil nur so die Zeit als Tag, und die Tage als Jahr, und die Jahre mit sich selbst identisch bleiben. Die Zeit selbst ist zunächst aufgrund der Beziehung für den Menschen subjektiv persönlich, und seine Lebens-Wanderung wird von seiner eigenen Lebens-Bewegung bestimmt. „Ich finde die Zeit in mir und bin nicht in die Zeit hineingestellt.“ Alle Erlebnisse bilden – von Innen gesehen – eine Einheit als Lebens-Zeit, die jeder Mensch erlebt. Diese Lebenseinheit kann nicht wie der Raum geteilt werden. Das innere Erleben verläuft jedoch in Rhythmen vgl. Koh 3,23-8 und so bleibt jede Person dem Naturkreislauf eingebunden und ist ein Leben lang mit sich selbst identisch, und verkörpert eine zusammenbindende Einheit: alles ist meine Welt, mein Dasein; sie hat im Zeitlichen ihre Existenz und Eigenart und sammelt darin Erlebnisse und Ergebnisse. Diese, so genannte „Psychologische Zeit“ hat als Inhalt eine sukzessive Reihenfolge persönlich erlebter Ereignisse und gemeinsam durchlebter Geschehnisse. Geht es in der Geschichte Israels um einen bestimmten Zeitpunkt, bestimmt man die Zählung von Jahren z.B. nach den Regierungszeiten der Könige. Semiten und Hebräer haben dabei ein adäquates Zeitverständnis.

Beziehungs-Zeit ist Geschichte, wobei menschliches Dasein stetig als Entwicklung und kontinuierliches Geschehen gegenwärtig ist und in der Handlung erfolgt. So offenbart sich den Israeliten Gott in der Geschichte, in der Jahwe handelt. Dies bewirkt aufgrund der Beziehung des Menschen zu Gott eine dynamisch-personalistische Welt- und Seinsauffassung. Der Hebräer erlebt vergangene wie zukünftige Ereignisse als gegenwärtig d.h. Vergangenheit und Zukunft vereinen sich zur Gegenwart im Heilsplan Gottes. Das Leben des Volkes insgesamt ist daher genauso zunächst ein ‚einheitliches’ und ganzheitliches Leben wie das vom einzelnen Israeliten, da das Volk während seiner ganzen Geschichte mit sich selbst identisch bleibt. Vorväter und Jetzt-Lebende sind eine Einheit und das Leben des Volkes wird analog mit dem Leben des Einzelnen als Ganzheit empfunden; so ist das Volk als Gesamtheit eine Person, die in Beziehung zu Jahwe steht.

Schlüssel zum Verstehen dieser Beziehungs-Zeit ist eine „temporale Bipolarität“ (Otto), die der semitischen Sprachfamilie zueigen ist und das Hebräische mitprägte. Daraus ist ersichtlich, dass es im Hebräischen keinen Zeitbegriff im engeren Sinn gibt, der mit unserem modernen Zeitverständnis begrifflich vergleichbar wäre. Und auch ein temporales Ordnungssystem, das eine Handlung in Bezug auf die drei Zeitphasen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wahrnimmt, gründet letztlich im Beziehungs-Geschehen und besagter Bipolarität. „Bezeichnet wird damit, ob sich etwas in seinem fertigen Zustand oder nicht in einem sich vollziehenden Status befindet. Eine formal und objektiv gegebene Zeitdauer, in die sich ein Geschehen einordnen ließe, ist damit nicht ohne weiteres darstellbar. Zeit wird vom Geschehen bestimmt, das beginnt oder endet und sich darin ‚zeitigt’. Die Identifikation von Zeit mit konkreter Zeit, die ihren Referenzpunkt in betrachtenden Menschen und nicht in einer abstrakten Zeitlinie hat, ermöglicht überwiegend ereignishafte Wirklichkeitserfahrung. Aus dieser Perspektive sind Handlungen entweder faktisch abgeschlossen, selbst wenn sie noch in die Gegenwart hineinwirken oder sie sind erst zukünftig, oder sie sind in der Entwicklung befindlich. (Hintz, S.171). Die Geschichte Israels ist daher ein Beziehungs-Geschehen von Gegenwart und bleibt lebendig im Handeln. Vergangenheit und Gegenwart sind eingebunden in die linear aneinander gefügten Gegenwarts-Ereignisse, die auf die lineare Zeitdeutung: Vergangenheit – Zukunft des Volkes Gottes mit Jahwe hin differenziert werden können. Wie beim Einzelnen ist diese Geschichte ein zusammenhängendes Ganzes, wo alles lebt und Sinn hat.

Beziehungs-Zeit offenbart Jahwes Handeln durch menschliche Deutung. Sie ist vonnöten, da das Erreichen von Zielen sich im erlebbaren zeitlichen ‚Spannungsbogen’ abspielt und mittels der Wort-Korrelate wie Verheißung – Erfüllung vermittelt wird. Die Handlung als Ereignis oder Zustand setzt aber das ‚Wort’ Jahwes als faktisch vorliegend voraus, ob in Vergangenheit abgeschlossen, oder in Gegenwart und in Zukunft hineinragend. Somit bedingt auch die Geschichte des Volkes Israel, dass sie eine beabsichtigte, zielbewusste göttliche wie menschliche Handlung ist und sich ihre Entwicklung final ausrichtet. Diese Geschichte ist eine Bewegung auf ein Ziel hin, das von Gott gesetzt ist. Mit einer Verheißung oder einem Segenswort setzte Jahwe gleichsam die Zeit in Bewegung, überwacht sie und greift handelnd ein. Bewegung ist dynamisch-qualitativ und als eine religiös-sittliche Handlung ist sie auf das Heil oder Unheil hin ausgerichtet und somit von Jahwe letztlich zielbewusst angelegt.

Beziehungs-Zeit beinhaltet Bundes-Treue und des Menschen Freiheit im Denken und Handeln. Der Mensch hat einerseits die Zeit als Ebenbild Gottes ‚eigenverantwortlich’ bei sich selbst – in der Zeitpunkte und Zeitabstände sekundär sind – in der Hand, kann aber auch durch sein Handeln aus der Beziehungs-Kultur, d.h. dem Bund ausbrechen, wenn er dem Willen Jahwes nicht entspricht bzw. entsprechen will. Den Bund kann das Volk ‚praktisch’ in Freiheit verlassen. Wenn ihm aber bewusst wird, dass es dabei vom Weg abweicht, d.h. dem Untergang entgegen geht, den Tod sucht, kann bzw. kehrt es zu Jahwe zurück und Jahwe verzeiht, da er Bundespartner ist. Daher umspannt Jahwes Leben und Bewusstsein a) jedes persönliche Menschenleben als den kleinen Teil von Daseins-Geschichte, b) das Leben des Volkes Israel als einen größeren Teil und c) das Leben der Menschheit als den noch größeren Teil, d.h. als Gesamtheit.

Jahwe, der Gott Israels, spricht als bewusste und sittliche Persönlichkeit seinen Willen durch Propheten als Deuter zu den Menschen. Das Wort Jahwes gehört dabei zunächst nicht der physischen, sondern der psychischen, der geistigen und geistlichen Sphäre seines Trägers an. Darin und dadurch kommt sein Wille zum Ausdruck und Jahwes Wort ist Offenbarung. Jahwes Wort setzt die Zeit in Bewegung, überwacht sie und Jahwe selbst greift ‚im Verderben’ handelnd ein. Diese Zeit der Verheißung, wie Erfüllung verkörpert die Geschichte des Volkes Israel, die durch göttliche, wie menschliche Handlung beabsichtigt, zielbewusst und final ausgerichtet ist und eine Entwicklung kontinuierlicher Geschehnisse offenbart. Im Welt-Bewusstsein des Hebräers ist daher alles Geschehen bei Jahwe auf ewig aufbewahrt und festgehalten. Gottes Worte und Taten sind ebenso ewig und unverwüstlich wie die ‚Materie’. Diese ist als Raum zielgerichtet zu gestalten und zu verändern. Denn so offenbart sich Gott in der Schöpfung durch sein Handeln: Welt als Wohnung der Menschen gilt es als Schöpfung zu gestalten. Natur und scheinbares Chaos sollen gemeinsam und verantwortlich in Menschenland verwandelt werden, d.h. Weiterführung und Herstellung dieser Weltschöpfung gleicht einem großen Wohnungsbau, in dem räumliche Vorgaben keine Unterscheidung zwischen Inhalt und Gestalt festlegen und Grenzlinien gleichsam als Gebiete, Bezirke, Flüsse dem Menschen dienen sollen.

Beziehungs-Zeit Jesu und die Anfänge des Christentums Die Beziehungs-Geschichte Israels setzt sich in Jesu Abba-Vater-Beziehung fort. Christus-Beziehung und –Bekenntnis wurden dann mit den ersten Christen zum Kennzeichen des christlichen Glaubens. Das lineare Zeitdenken der Hebräer mit entsprechenden Inhalten wurde der nun gegebenen ‚Beziehungs-Kultur’: Christus – Kirche eingebunden. Dem Volk Israel waren alle historischen Ereignisse als von Gott gewollt und gelenkt. Im Bekenntnis wurde Christi Heil und Erlösung zum immerwährenden ‚gegenwärtigen’ Bekenntnis-Gut. Man lebte in der ‚Verheißungs-Hoffnung’ zwischen Inkarnation und Wiederkunft des Messias und ‚Gottes Sohnes’. Von Zukunftshoffnungen beseelt, waren viele der frühen Christen auf die Wiederkunft des Gottessohnes und das unmittelbar bevorstehende Jüngste Gericht hin orientiert. Die Zeit hatte für sie daher einen Anfang und ein Ende; die Geschichte erhielt einen religiösen Sinn, schweißte die Christen zur Schicksalsgemeinschaft zusammen und steigerte den Wert der ‚gegenwärtigen’ Zeit. Für die Christen hieß dies, gut und gottgefällig zu handeln. Diese zunächst zeitlich ‚linear’ ausgerichtete Sehnsucht nach Christi Wiederkunft, diente dann der geistlichen Sehnsucht von Gemeinden und später dann in den Mönchsgemeinschaften, um dem wiederkehrenden Christus jederzeit begegnen zu können. Insbesondere für einen mönchischen Lebensrhythmus wurde dies zur Selbstverständlichkeit. „So wurde das monotheistische Denken zur Grundlage des linearen Zeitempfindens“ (Christian Staas). Das Mönchtum machte später daraus eine nach strenger Zeit-Rationalität ausgerichtete Lebensweise. Im Spätmittelalter vereinte sich dies mit einer strengen Lebenshaltung, um des Seelenheils willen keine Zeit zu verschenken. So galten z.B. der Kirche im Mittelalter auch die damals aufkommenden Uhren als „Sinnbild für gottgefälliges Maßhalten und fromme Disziplin“. Gepaart mit der Logik der Geschäftsleute ‚Zeit ist Geld’ konnte „die Zeitrationalität des Klosterlebens zum Grundmuster der modernen Leistungsgesellschaft werden. Im Protestantismus und Calvinismus des 16. und 17. Jh. sieht Max Weber diese Verbindung aus Askese und Leistungsstreben erstmals in voller Blüte aufsteigen“ (Staas, Die ZEIT, in GEO WISSEN, Nr.36 ,S 82-84).

Der Raum ist eine zeitliche Größe, da er Gottes Schöpfung ist. Im Raum handeln Gott und Mensch in beidseitiger Treue am Auftrag zum Heil des Menschen. Der Beweisführung dient die geistig-geistlichen Beziehung: Mensch – Gott. So erlebt der Hebräer ein Leben lang die Zeit in ‚Gottes-Schöpfung’ und dieses Beziehungs-Geschehen füllt den Raum der Schöpfung u.a. mit der Geschichte Israels. Für den Menschen ist dies eine qualitative lineare Bewegung auf ein Ziel hin, das von Gott gesetzt ist und begleitet wird; ebenso ist es auf Gott hin ausgerichtet und ruht in Gott als geschichtlicher Spannungsbogen von Verheißung – Erfüllung, ist eschatologisch angelegt, erfahrbar und deutbar. Dabei dienen bekanntermaßen dem Menschen beide Zeit-Erfahrungen, d.h. das Zeitsystem der Naturzeit als die vorgegebene Schöpfung und das der geschichtlichen Bundeszeit als stetig gegenwärtige Ereigniszeit: Gott – Mensch. In dieses Bundesverhältnis ist jeder Israelit eingebunden beim Fluch, wie beim Segen, bei Vernichtung, wie bei Verheißung und Erlösung, durch Jahwes ewiger Gegenwart in Nähe oder Ferne.

B Wirklichkeit: RAUM-Kultur griechisch – europäisch

Raum ist ein großes Behältnis, das alle Dinge aufbewahrt, ordnet und zusammenhält; Raum ist der Gegenstand griechischen Denkens als Inhalt und Form und bedingt ein Denken, das räumlich – quantitativ ist.

Inhalt des Raumes ist die Natur; das Dasein äußert sich als ‚Natur’ im Menschen selbst und in der ihn umgebenden Welt. Was den Menschen selbst betrifft, hat zunächst vorrangig seine Umwelt im Raum das Sagen: es sind reine Form/Raum-Eigenschaften, die durch Geometrie bestimmt werden können (Punkt, Linie, Dreieck). Ordnen und Systematisieren von Wirklichkeit ist daher dem griechischen Denken und Handeln hilfreich und maßgebend. Um zu trennen, zu differenzieren benötigt er eine Hilfslinie als Grenze/Grenzlinie und seiner Fähigkeit im Denken entspricht es, abstrakt etwas festzulegen. So ist die menschliche Erfahrungswelt Abbild der ewigen/übersinnlichen Welt (Platon), die als Ewigkeit etwas Seiendes, Ruhendes, Räumliches ist. Um diese Ideen/Ewigkeit mit der ihr verbundenen Erfahrungswelt zu erkennen, ist das Denken das dafür passende Mittel.

Zeit ist Lebensform der Naturwelt. Die Welt ist von Göttern geschaffen, die selbst im Raum der göttlichen Welt mit Ewigkeit als Lebensform ausgezeichnet sind. Die Unendlichkeit der ‚ewigen’ Götterwelt ist so vom endlichen Raum her gedacht. Der Raum bestimmte das Zeitdenken der Griechen. Grenzenloser Raum ist die Welt – grenzenlose Zeit ist Ewigkeit/Sein. Diese physikalische Zeit hat keinen Inhalt, sondern ist eine reine inhaltslose, fort-laufende Bewegung und obliegt einem naturwissenschaftlich-mechanischen Ablauf. Das griechisch Zeitverständnis war geprägt von der zyklischen Zeit der Tage, Monate, Jahreszeiten und Jahre und hatte eine wiederkehrende Abfolge von Ritualen, Pflichten und Vergnügungen, wie es der griechische Dichter Hesiod 700 v.Chr. in seinem Buch „Werke und Tage“ beschreibt: „Ein Begriff von Zukunft dagegen, als einem kommenden Zeitraum, der frei zu gestalten ist, war den Menschen fremd. Im zyklischen Denken war das Vergangene und Zukünftige nicht klar getrennt. Sie berührten sich einander im Kreislauf der Jahre – so wie sich Tod und Leben in der Gestalt des griechischen Zeitgottes Kronos berührten, der seine Kinder verschlingt, sobald sie geboren sind … Die Zeit selbst war bedeutungslos: In einer Welt, die bis in alle Ewigkeit immer wieder von vorn beginnt, könnte sie ebenso stillstehen“ (Staas, S.80).

Systematisiert man das griechische Zeitverständnis, lassen sich zwei unterschiedliche Sichtweisen festhalten: a) Chronos: Grundmodell ist dabei der Kreis, der eine zyklische Form, stete Bewegung und stetige Wiederholung hat. In diesem Ablauf ruht der Augenblick als b) Kairos = ‚gefüllte’ Zeit, rechter Augenblick, die Gewicht und Wert erhält durch ihren Inhalt, ihr Ereignis, Event, also und durch ‚zeitliche Ereignisse’, die für Vergangenheit, wie Zukunft gewichtig und bedeutungsvoll sind, z.B. Kriege, Spiele u.a. und als solche linear wie eine Kette aneinandergereiht werden können zu einer Geschichte: Doch in der Geschichte (linear) geschieht letztlich aber immer dasselbe (chronos), da das Werden seinen Grund im Sein hat. Die Geschichte ergibt sich aus der Reihenfolge der Ereignisse (kairos), die verräumlicht werden. Die Geschichte ist die Ganzheit der vergangenen Begebenheiten im kausalen Zusammenhang und verkörpert als ‚Zeit’ die Abstraktion der in ihr geschehenen Begebenheiten. Sie umfasst Chronologie historischer Daten (= chronologisch). Diese verräumlichte Zeit (= ‚tempus’) mit Zeitpunkt – Zeitlinie – Zeitstrecke und in/aus ihr gewinnt man Erkenntnis durch Rückblick. In seiner chronos-gemäßen Raum-Welt wird der Mensch einem Pfeile gleich (mit seiner ‚Götter-Vorstellung’) nach vorne bewegt. Unwiederholbar eilt so die Zeit vorwärts. Diese Zeit (als Zeit-Linie) stellt man sich räumlich vor: Aristoteles beschrieb sie als „einen Aspekt der Bewegung eines Gegenstandes im Raum“. Damit hatte er den Grundstein für unser modernes physikalisches Zeitdenken gelegt, das mittels der Uhrzeit in den Naturwissenschaften der Renaissance sich entfalten konnte, wird ‚räumlich’ in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geteilt.

Natürliche, zyklische und lineare Chronologie kennt die lineare Zeitordnung (Jahreszählung) als Zeitrechnung, die natürliche kosmische Zeitordnung (Tag, Mondmonat, Sonnenjahr), die zyklische Zeitordnung (Kalender) als Repräsentation des physikalischen Zeitkonzepts. Die bekannten Termini Kalender und Jahreszählung („Jahreszählung“ in der Bedeutung von einem linearen System von nummerierten Kalenderjahren) betreffen diese letzteren zwei komplementäre Grundbegriffe der Chronologie; die Astronomische Chronologie ist ein zusätzliches interdisziplinäres Fachgebiet zwischen der Chronologie und der Astronomie und ist als solche auch eine Hilfswissenschaft der Geschichtswissenschaft.

In beiden Wirklichkeiten und Kulturen lassen sich auf der Handlungsebene, die der heutige Mensch mit seiner geschichtlichen Betrachtungsweise erfassen kann, zwei Grundhaltungen und politische Zielsetzungen ableiten, die jeweils in beiden Kulturen -jeweils im umgekehrten Verhältnis- eine prägende wie identitätsstiftende Bedeutung hatten. Für die Hebräer war oberstes Anliegen im Streben nach Gerechtigkeit, das Gemeinwohl der Volks-Gemeinschaft zu ermöglichen. Freiheit als Befreiung ist dafür Voraussetzung. Jahwe hat sein Volk aus dem Sklavenhaus Ägypten befreit; eine primäre Befreiungstat Jahwes. Das Gerechtigkeits-Prinzip dient so als innere Kohäsionskraft und steter Auftrag dem Volk zur Bundes-Erfüllung. Der freiheitliche Schöpfungsauftrag, als Ebenbild Gottes ‚Herrschaft’ auszuüben, hat dem Willen Gottes im Zusammenleben wie im Umgang mit der Natur zu entsprechen und ist der Gerechtigkeit zugeordnet bzw. untergeordnet. Bei den Griechen hingegen ist die Freiheit oberstes Postulat, dem die Gleichheit der Individuen durch Gerechtigkeit nachgeordnet worden ist.

Freiheit und Gerechtigkeit wurden so kulturgeschichtlich zu wesentlichen Beweggründen wie zu Zielpunkten menschlichen Handelns. In beiden Kulturen waren Gerechtigkeit und Freiheit wesentliche Triebfedern im Zusammenleben wie für die Entwicklung, nur jeweils unterschiedlich gewichtet: Im griechischen Lebens-Raum war es das Gut der Freiheit, in der hebräischen Lebens-Geschichte war es das Gut der Gerechtigkeit. Den griechischen Philosophen diente der Geist, um durch Denken gleichsam frei und grenzenlos den Lebensalltag bis hin in seine Extreme persönlich wie in der Polis das Zusammenleben in Freiheit durch Gleichheit zu gestalten. Den biblischen Sehern und Propheten diente Gottes Wort von der Gerechtigkeit, um bei jedem seiner Volksgenossen eine richtige und gottgefällige Lebensweise einzufordern, von den Verantwortlichen wie Richtern, Königen und Priestern genauso wie von jedem zum Volk Jahwes gehörenden Israeliten. Gerechtigkeit war Gottes Wille und Maßstab für die Volks-Gemeinschaft und dem darin erfahrbaren Gemeinwohl. Freiheit hingegen war in der griechische Antike ein Privileg der freien Bürger, zu denen insbesondere Gebildete und die Oberschicht zählte. Freiheit und Gerechtigkeit sollten nach fast 2000 Jahren in einer Art Gleichwertigkeit ihren ‚säkularen’ Siegeszug durch die Französische Revolution bedingt, im Miteinander antreten.

Freiheit und Gerechtigkeit sind durch die Griechen und Hebräer mitgeprägte kulturgeschichtliche Grund-Werte, die sich der Gesetzgebung als Ziele vorgeben, mittels Gesetze dafür gesellschaftliche Rahmenbedingen setzen und Entwicklungen auf dieses Ziel hin zur Umsetzung und Einholung in Gang bringen. Doch letztlich sind sie, da einem dialektischen Prozess aufgeliefert, davon bedroht ins Gegenteil umzuschlagen d.h. aus Gerechtigkeit wird zunehmende Ungerechtigkeit und aus Freiheit Unfreiheit. „Der Staat“, so schrieb 1975 der spätere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, „lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Das bedeutet daher auch, dass, was die Antike auf die Füße stellte und heute in unserer demokratischen Staatsform maßgebend ist, ist letztlich kein Garant dafür, dass seine Bürger gute Demokraten sind, um die Entwicklung von einer ‚besseren’ Gerechtigkeit und ‚mehr’ Freiheit voranzubringen; ein Gesetz kann diese Werte nur bedingt festschreiben und einfordern. Das „System“ Staat scheitert am Menschen, wenn dieser selbst keine verinnerlichte und fördernde positive „Beziehung“ in Solidarität zum Gemeinwohl aufgebaut und entwickelt hat. Gerechtigkeit und Freiheit sind theoretisch komplementäre Werte, die in ihrer prägenden Kraft ein „System“ erstellen, für die Entwicklung des Staates und der Gesellschaft aber hat die „Beziehung“ des Menschen einen grundlegenden, nicht zu unterschätzenden Rang inne.

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Quellen:(Justitia-Symbol) http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Justitia1.jpg&filetimestamp=20060725143501;

(Gesetzestafeln)http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Codex_binding_Louvre_MR372.jpg&filetimestamp=20051223080934; (Salomos Urteil) commons.wikimedia.org/wiki/File:Sto%C3%9F_(Sc…; (Volk Israel) http://media.kunst-fuer-alle.de/ img/41/k/41_0034527…; (Kuss von Gerechtigkeit und Frieden) http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/e1/ Der_Ku%C3%9F_von_Gerechtigkeit_und_Friede.jpg

35 Bei den Hebräern: Gerechtigkeit

In Symbolen wie Weisheitskranz, Waage, Binde über Augen oder Schwert wird Gerechtigkeit versinnbildlicht als Prinzip einer ausgleichenden Ordnung in der Gesellschaft. Gerechtigkeit findet sich in allen Kulturen und lässt sich historisch weit zurückverfolgen. Ursprünglich wurde Gerechtigkeit als das Einhalten von sozialen Normen und Gesetzen aufgefasst, und stand für das gemeinsame Wohl in Volk wie Polis. Sieht man die gesellschaftliche Ordnung bei den Griechen primär als Naturprinzip an, ist diese Setzung in Gott Jahwe als einer transzendenten Macht gegeben wie im Volk Israel. Gerecht zu sein bedeutet daher für Israel, die Gebote Gottes (Dekalog) zu erfüllen. Im Dekalog steht an der Stelle der Könige Gott und Gott spricht, insbesondere dann durch Propheten, wenn die israelztischen Könige in ihrer Aufgabe, für Gerechtigkeit und Ausgleich zu sorgen, versagt hatten. Somit legitimierte nicht die Staatsmacht, sondern auch das Recht. Der Gott, der aus dem Sklavenhaus Ägypten befreite war somit nicht nur Ursprung des Volkes, sondern auch Quelle und Subjekt des Rechts, die durch die Propheten als der kritischen Instanz wider Staat oder Machthabern gleichsam geschützt war. Die als Gebote gewachsenen Lebensregeln, die sich in den Sippen bewährt, von Generation zu Generation weitergegeben hatten das Zusammenleben geordnet und erhalten. Zugleich schärften die Gebote dem Volk stetig ein, durch welche Verhaltensweisen die Existenz des Bundesvolkes Jahwes bewahrt bzw. gefährdet wird. Dabei waren die Prinzipien Gerechtigkeit und Lebensermöglichung als Volk maßgeblich. Demnach ist Gerechtigkeit den Hebräern ein Notwendigkeit zum Volkserhalt und somit zunächst ein Kollektivbegriff. Gottes Gebote sollten eine gottwohlgefällige Ordnung bewirken, die zur Gerechtigkeit im Volk führt und allen zugute zu kommen hat. Entsprechend wird im biblischen Volk dem alt-israelischen Begriff ‚sädäq’ (Gemeinschaftstreue) gemäß seit alters Gerechtigkeit prophetisch, wie königlich angemahnt und priesterlich gefeiert. Zur Gerechtigkeit Jahwes im und für das Volk wurden Jahwes Stellvertreter einst als Patriarchen, nach Mose als Richter, Könige und die jeweiligen Herrscher prophetisch dazu ermahnt und aufgefordert. Die vorgegebene Ordnung des jeweiligen Herrschaftsgefüges sollte dies nach Jahwes Willen dem Dekalog gemäß sichern und das Zusammenleben im Frieden ermöglichen; die alttestamentlichen ‚Jubeljahre’ hatten diesbezüglich ihren rhythmischen Einschnitt im Volksgeschehen, wodurch das Mehr an Gerechtigkeit stets von neuem durch Entschuldung im Volk um des Gemeinwohls willen angezielt und erreicht werden sollte.

Die alttestamentliche Vorstellung von Gerechtigkeit wurzelt so nicht in der Übereinstimmung von Taten mit bestimmten absoluten Rechtsnormen, sondern in der Angemessenheit des Verhaltens der Mitglieder des Volkes Israel in der beiderseitigen Beziehung Jahwe und Volk. Gottes Gerechtigkeit zeigt sich daher in Jahwes gottgemäßem Handeln an seinem Volk, also in seinem Retten und in seinem Heil, das somit von beiden Bündnis-Partnern abhängig war. Das Volk hatte sich dabei am eigenen Gemeinwohl mittels der Forderung von Gerechtigkeit zu orientieren. Jahwes Gerechtigkeit wurde gerühmt, ersehnt und in seinem Namen prophetisch eingefordert. Israel baute als sein auserwähltes Volk auf die Teilhabe an Gottes Gerechtigkeit, auch beim Umgang und Eingreifen gegenüber anderen Völkern. Denn für Israel ist per se Gottes Gerechtigkeit stets ein Heilsgut, in dem es zu handeln und zu bleiben galt, um so Teilhabe an Gottes Gerechtigkeit zu haben, d.h. die Beziehung von Volk und Einzelnem erfordert dieses Verhalten und gewährleistet durch Streben danach und Einhalten gerechter Handlungsweise das Heil. Vorexilisch bewirkt daher das mitmenschliche Verhalten eine Art Gerechtigkeit, die der Mensch als Forderung Jahwes im Ausgleich zwischen arm und reich sieht, und die jeder Israelit zunächst im Volk selbst zu erbringen hat. In der Gesetzgebung Mose, im Urteilsspruch Salomons, wie im Zusammenleben als Volk war Jahwe somit stets zugleich der gesetzes-treue wie -schützende Bundespartner. Im späteren rabbinischen Judentum wuchs die Vorstellung, durch persönliche Gerechtigkeits-Verdienste Anteil am Gottesreich zu erhalten. Als besonders verdienstlich galten dabei Wohltätigkeit und Liebestätigkeit. Wobei Wohltätigkeit dann alles umfasst, was durch materielle Aufwendungen geleistet werden kann, wie Hungrige speisen, Nackte kleiden, Durstige tränken. Liebeswerke sind dagegen solche, zu denen eine moralische Überwindung gehört, wie trauern mit Trauernden, Unglückliche trösten, Kranke besuchen, Gefangene aufsuchen.

Bei den Griechen hingegen entstammt Gerechtigkeit der tugendhaften Haltung des Einzelnen, die insbesondere in der Polis zur tragenden Grundhaltung gehörte und zur Gestaltung des Zusammenlebens beitrug. Gerechtigkeit ist primär für Beziehungen unter Menschen relevant und gibt an, was wir einander wechselseitig schulden an Verhalten, an Gütern und Lasten, an Rechten und Pflichten. Da sie für den Einzelnen wie in der Polis ein stets anzustrebendes Ideal ist, ist der Diskurs gegeben und es gibt häufig keine Einigung darüber, was gerecht ist. Entscheidend wichtig war der Gedanke, dass Gerechtigkeit dann herrsche, wenn ein jeder das ihm Zukommende tue. Recht und gerecht war dabei, dass Menschen das Bestehende mit ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Vollmachten und Rängen als Vorgabe zu akzeptieren hatten. Den eigenen Rang galt es vorbildhaft und angemessen anzunehmen. ‚Dikae’, Gerechtigkeit nimmt daher den Rang einer vorgefundenen, unantastbaren Grundordnung im Dasein ein. Bereits in den frühesten Werken der Antike finden sich systematische Betrachtungen über die Gerechtigkeit wie in der „Politeia“ von Platon oder der „Nikomachischen Ethik“ von Aristoteles. Die beiden Grundbedeutungen sind, dass Gerechtigkeit eine persönliche Haltung darstellt, die zu gerechten Handlungen motiviert. Andrerseits wird sie als erforderliche Qualität von und damit als normative Anforderung an Institutionen konzipiert. Platon befasst sich mit Fragen der Gesetzesgerechtigkeit, mit der guten Ordnung der Polis und der inneren Harmonie der Seelenkräfte. Bei ihm bleiben die Beziehungen der Menschen untereinander ausgeblendet, denen dann Aristoteles zu ihrer Gewichtung verhilft. Er unterscheidet in seiner grundsätzlichen Differenzierung die universale Gerechtigkeit von der partikularen. Beide beziehen sich gemeinsam auf das Verhältnis der Menschen untereinander. Gerecht in univeraler Bedeutung agiert, wer die Gesetze achtet, seien sie natürlichen oder auch göttlichen Ursprungs sowie bei bewährten sozialen Konventionen, die der vollkommenen Gutheit des menschlichen Charakters entstammen. Die partikulare Gerechtigkeit realisiert sich hingegen in der gerechten Güterverteilung und beim Austausch der Güter im Sinn einer ausgleichenden Gerechtigkeit, wobei Aristoteles diese Verteilungsgerechtigkeit der Würdigkeit nach bzw. unterordnet. „Alle stimmen darin überein, dass das Gerechte bei Verteilungen aller Art von Würdigkeit entsprechen muss, doch nennen nicht alle dieselbe Würdigkeit, sondern die Demokraten nennen den Status des freien Menschen, die Oligarchen den Reichtum, manche auch die adelige Abstammung, die Aristokraten die Gutheit des Charakters“. (NikomanischeEthik 1131a) Aristoteles traf also die Unterscheidung zwischen personaler und gesellschaftlicher Gerechtigkeit als Bürgertugend. Diese personale, subjektive Auffassung bestimmte bis ins Mittelalter das (ge)rechte Verhalten eines Menschen als eine Tugendhaltung. Im objektiven Sinne diente das Prinzip zur Ausstellung und zur Beurteilung von Rechtsnormen: nach Platons Schichtenlehre war es eine Selbstverständlichkeit, sich als Einzelner wie als Staat der eigenen Schichtzugehörigkeit gemäß zu verhalten genauso wie sich die Schichten selbst zueinander zu verhalten hatten. Aristoteles engte Gerechtigkeit auf soziale Beziehungen ein, und hob die ausgleichende Gerechtigkeit beim Verhältnis zwischen Staat und Einzelnen hervor, was insbesondere die Einhaltung der Gesetze erforderte. Diese Gerechtigkeitseinschätzung der Antike ist also ein Ideal, das nur für die freien Bürger untereinander und in der Polis gilt, d.h. nicht im jeweiligen Hausstand, wo Herrschaft und Unterordnung Maßstab sind. Recht und Gerechtigkeit sind damals also noch nicht auf das Menschsein oder die Menschheit als solcher bezogen worden.

Mittelalter Das mittelalterliche Gerechtigkeitsdenken baut auf diesen antiken Vorbildern auf, unterscheidet sich aber durch den Einfluss des Christentums in ergänzender Weise, da es das ‚hebräische’ Beziehungs-Verhältnis zwischen Gott und Mensch in die ‚griechische’ inner-menschliche Beziehungsebene von Gerechtigkeit integriert und der Gottesebenbildlichkeit des Menschen einen Stellenwert verleiht. In den beiden Gegenbegriffen zu Gerechtigkeit, nämlich Ungerechtigkeit und Sünde gründet bei letzterem eine Rückverankerung des gerechten Handelns im Glauben und es wird somit zugleich der Verstoß gegen göttliches Gebot eingebunden. Nun geht es darum, wie sich der Mensch zu verhalten hat, um vor Gott als gerecht gelten zu können, was bekanntlich für Luthers einzigartigen Glaubensweg ausschlaggebend und existentiell wurde. Vor ihm hatte bereits Thomas von Aquin (1225-1274) in seinen Überlegungen an der Nikomachischen Ethik des Aristoteles angeknüpft und er hat die Tugend der Gerechtigkeit im Vergleich zu den anderen Tugenden insbesondere auf das Zusammenleben der Menschen untereinander bezogen. In der Unterscheidung dreier Arten von Gerechtigkeit als Tauschgerechtigkeit, im Verhältnis der Menschen untereinander, als Verteilungsgerechtigkeit im Verhältnis zwischen dem Gemeinwesen und den einzelnen Personen, sowie als legale Gerechtigkeit, einer allseitigen Tugend, ist somit stets das Menschsein im Blickfeld und nicht das Beziehungsverhältnis Gott-Mensch. Dass er bei Gerechtigkeit noch nicht von der Gleichheit der Menschen ausgeht, zeigt sich bei seinen Überlegungen zur Verteilungsgerechtigkeit. Was einer Person gebührt ist abhängig von ihrem sozialen und ökonomischen Status. Vaterrecht und Herrenrecht werden dem Verhältnis von Herrschaft und Abhängigkeit untergeordnet, auch wenn die christliche Auffassung bereits in der Beurteilung dieser Beziehungen mit einfließt. Mit den eigenen Taten und Werken anderen gegenüber befindet jeder Mensch sich im Bereich der Gerechtigkeit, wo immer äußeres Handeln gegeben und Ungerechtigkeit zunächst im Spiel ist. Die Sünde, die diesbezüglich des Menschen Ferne zu Gottes Willen von Gerechtigkeit entspricht, ist der Deutung übergeben und bekommt ihre persönliche Schuld-Qualität im Glaubensleben als Christ.

Gegenwart Für den Menschen des 21 Jh. sind Aufklärung und Säkularisierung zur bestimmenden und prägenden gesellschaftlichen Vorgabe geworden. Die griechischen Wurzeln und die Individual- wie auch die Staats(polis)-Zuordnung spiegeln sich bei den menschlichen Beziehungen und im Zusammenleben wider, wenn es um Gerechtigkeit geht. Meist wird heute unter sozial-politischen und wirtschaftlichen Aspekten von Gerechtigkeit gesprochen. Soziale Gerechtigkeit auf dem europäischen und amerikanischen Kontinent ist dabei ein heiß umstrittenes Ideal im Kontext der einst griechischen Spannbreite zwischen Verteilungs-Gerechtigkeit und Status-Gerechtigkeit, und all dem, was zwischen Steuerehrlichkeit und Sozialverantwortung beim Verhalten der Bürger gefordert wird. Gerechtigkeit scheint zur immerwährenden Sehnsucht von Idealisten und Moralisten geworden zu sein, und dient im Anspruchsdenken als eine rechtliche Forderung all denen, die in armen Verhältnissen leben und denen Wohlstand direkt oder indirekt lokal wie global zumeist nur mehr medial gegenübertritt. Bei uns scheinen Leistung und Herkunft, Glück und Freiheit ‚im Schatten’ von Gerechtigkeit die rechtmäßigen Zugpferde beim Streben nach Wohlstand und Reichtum geworden zu sein. Beim Erreichen entsprechender kleiner ‚gerechter’ Schritte und Ziele zeigt sich eine Veränderung in der Einstellung, die oftmals mit einer Neubewertung von Gerechtigkeit einhergeht. Je mehr man dann besitzt, umso überzeugter ist man, unmöglich mit weniger auskommen zu können. Man passt sich und seinen Lebensstil an das Einkommen an, und was zuvor für Luxus gehalten wurde, wird rasch zur Lebensnotwendigkeit. Treffend weist Jeremy Rifkin auf die Spirale dieser Lebenshaltung auf dem Weg von arm zu reich hin, die nutzorientiert ausgerichtet ist und eine materialistische Grundhaltung fördert. „Je materialistischer ein Mensch eingestellt ist, desto weniger großzügiger ist er im Umgang mit anderen, desto weniger versetzt er sich in sie hinein, desto geringer ist seine Achtung vor deren Standpunkten. Die Selbstlosigkeit weicht der Selbstsucht.“ „Zuletzt ist man von seinem Besitz besessen, das Streben nach Reichtum wird zum Teufelskreis und zum Selbstzweck“. (S.366) Rifkins Annahme entsprechend entwickeln „stark materialistisch orientierte Menschen weniger enge persönliche Beziehungen. Sie sind ihren Mitgliedern gegenüber intoleranter und kümmern sich weniger um deren Wohlergehen … Ihre empathischen Fähigkeiten sind weitaus weniger entwickelt“. Zum Erreichen von Zielen, die man eher –griechisch bedacht- im Wertmaßstab des Nutzens ansiedeln kann, dienen dem Materialisten „die Natur und die anderen Lebewesen der Erde, wie sich schon in ihrem Verhältnis zu ihren Mitmenschen zeigte, nur als Instrumente“. (S.368) Diesen Vorgaben lässt sich die Frage nach dem ‚Wie’ eines gerechten Ausgleichs zwischen arm und reich im Blickfeld von ‚Gemeinwohl’ und nach der Grundhaltung beim Streben danach stellen. Eine Gerechtigkeitserwartung, die in der westlichen Gesellschaft eher materialistisch ausgerichtet ist, bedarf einer stärker ideell wertorientierten Haltung seiner Bürger. Denn aus vielseitigen Studien geht hervor, „dass es Menschen, die dem Streben nach Reichtum einen hohen Wert beimessen, seelisch weniger gut geht als solchen, die andere Ziele im Leben verfolgen. Studien über Studien erbrachten, dass die Lebensqualität umso schlechter ist, je mehr unser Leben um materialistische Werte kreist“. (S.365, Jeremy Rifkin). Mit Recht kann in diesem Kontext auf die verbale Wortspitze Bert Brechts hingewiesen werden: „Die Armen brauchen Gerechtigkeit, die Reichen die Ungerechtigkeit“, um sowohl im kleinen wie im großen ökonomischen Geschäft diesem Trend und der zunehmenden Kluft zwischen arm und reich aus christlicher Verantwortung begegnen zu können und zu müssen.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der der Fortschrittsglaube dominiert. Humanismus und Anthropozentrismus der modernen Welt haben zu einer Überschätzung des Menschen in Bezug auf seine Fähigkeiten und seiner Macht geführt, die in den Zeitaltern der Menschheitsgeschichte ihresgleichen sucht. Atheistische Lebensentwürfe von Nietzsche bis zum liberalistisch-kapitalistischen Wirtschaftssystem bestimmen global die zusehends materialistisch geprägte Weltsicht des einstigen Abendlandes. Eine Grundspannung zwischen solchen Existenzvorschlägen und biblischem Gerechtigkeitsverständnis zwingen Menschen, die sich auf dieses Kräftefeld einlassen, zu einer Grundentscheidung zwischen ‚Geld‘ und ‚Geist‘. Spätestens seit dem Ende des 20. Jahrhunderts stößt der Mensch dabei immer öfter an die Grenzen seines ungebremsten Wachstums, die Luft wird knapp, die Ressourcen gehen aus und trotz allen Fortschritts der Wissenschaften bleiben am Ende immer mehr Fragen als Antworten. (siehe dazu in: Herwig Büchele: Gott finden, 2009) Die Erde darf daher nicht weiterhin der materialistischen Macht des Geldes und der ökonomischen Interessen ausgeliefert und unterworfen werden, sondern kritische Vernunft und Regulierungskräfte um der „Bewahrung der Schöpfung„ willen sind in der Kirche zu beheimaten und durch sie zu verstärken, damit gleichsam positive Worte und Zeichen der Stellvertretung Gottes auf Erden Glaubwürdigkeit und Zukunftshoffnung bündeln.

Gerechtigkeit ist somit für Griechen wie Hebräer einst, noch mehr aber für uns heute, in einer spannungsgeladenen Welt zwischen arm und reich, und bei einer weitläufig materialisierten Lebenseinstellung gesellschaftlich wie privat zu einem schwerlich erreichbaren Gut geworden. Das Zusammen-Leben in der ‚Polis’ wie im ‚Volk’ prägte einst beide Völker unterschiedlich. Doch ist beiden das menschliche Bemühen und Streben zueigen damals vor Ort in der Polis, heute in Staat und Welt-Gesellschaft und untereinander im Volk damals, heute Menschheit, Gerechtigkeit und Frieden bzw. im Frieden erfahren zu können. Im obigem Bild ‚Kuss von Gerechtigkeit und Friede’ (Antwerpen um 1580) kommt anschaulich diese Sehnsucht des Menschen danach zum Ausdruck. Beides lässt sich nicht statisch planen und konstruieren, sondern entspringt letztlich einer ‚wohlwollenden’, geschwisterlichen Beziehung und lässt sich im Miteinander, in der möglichen wie not-wendigen Rückbindung an den Geist eines Ideals wie im Geist Christi verankern. Dem Beziehungsgeschehen: Gott und Mensch entsprach einst das stetige Streben beim Hebräer als Volk am Gemeinwohl aller durch Gerechtigkeit zu schaffen; daran mitwirken und dass Wohlergehen nicht nur für Einzelne ein Gut ist, sondern ein erstrebenswertes Ziel für die Menschheits-Familie, obliegt heute jedem in Freiheit.

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Quelle:(Sokrates) de.wikipedia.org/wiki/Sokrates; (Agora) Foto: H.Weingartz, www.reise-wissen.info/index.php?id=pamakkale; (Handelsschiff) de.wikipedia.org/wiki/Diolkos; (Franz.Revolution) de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Eug%C3%A8ne

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36 Bei den Griechen: Freiheit

Sprechen wir von Freiheit, ist der Blick nach Griechenland gerichtet. Alle Rechte, aber auch alle Pflichten waren ‚nur’ den Bürgern vorbehalten, die in dieser Männergesellschaft Freiheit genossen. Bürger konnte nur der sein oder werden, der Grieche, frei und männlichen Geschlechts war. Entsprechend waren in Athen nicht nur die Sklaven rechtlos, sondern auch die Frauen politisch ohne Bedeutung. Dieses Freiheitsverständnis der Griechen, das durch das Zusammenleben freier Bürger in ihrer Stadt, in der Polis geprägt und maßgebend wurde, erhielt seine Bedeutung in der geschichtlichen Entwicklung des Abendlandes später bei kirchlichen Freiheitsbewegungen wie der Reformation oder bei politischen wie der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung oder der Französischen Revolution. Für die Menschheits-Geschichte wurden so Forderungen nach Freiheitsrechten von der Religionsfreiheit bis hin zu den Menschenrechten bestimmend.

Bei den Griechen erlebten die freien Bürger demokratische Freiheit in der Polis beim Zusammenleben durch Selbstverwaltung als höchstes politisches Gut. Folgerichtig versuchte man das Leben der Bürger in Freiheit zu bestimmen und zu organisieren. Der Bildungsstatus, den einzig der Mensch durch sein geistiges Denken erhalten konnte, war diesem Leben in der Polis eng verbunden und dienlich. Auf der Agora, auf dem Marktplatz (Bild: Agora in Hieropolis) sein Freiheitsverständnis öffentlich im geistigen Wettstreit zu vertreten und zu verteidigen, zeichnet im antiken Griechenland diesen Treffpunkt im Zentrum der Stadt aus, der vielfach zugleich als politische und juristische Versammlungs-Stätte diente, und so zur bedeutendsten gesellschaftlichen Institution der Polis wurde. Ein weiteres Kennzeichen im griechischen Freiheitsverständnis erwuchs dem wirtschaftlichen Handeln. So kann z.B. im Symbol eines Diolkos, einem Handelsschiff, diese Vernetzung zwischen Städten als Ausdruck für freiheitlichen Handel gesehen werden. Wirtschaftliche Freiheit verhalf zur Mobilität zu Land wie zu Wasser. Man kam zu Reichtum, insbesondere die am Meer gelegenen Handelsstädte. Agora und Diolkos können so zeichenhaft für das geistige wie wirtschaftliche Freiheitsstreben der Griechen stehen. Aussagestark wurde dieses Bedürfnis nach und das Recht von Freiheit insbesondere im menschlichen Selbstbestimmungsrecht über Leben und Tod bei Persönlichkeiten wie Sokrates mit dem Giftbecher oder durch Diogenes mit seinem frei gewählten Leben im Fass. Über dieses private Selbstbestimmungsrecht hinaus, wurde Freiheit bestimmend und prägend für das Zusammenleben. So hat bereits Aristoteles mittels des Studiums von 158 Polis-Verfassungen seine Staatstheorie erarbeitet, und macht einsichtig, dass die griechische Kultur u.a. beim Demokratieverständnis, beim individuellen Freiheitsverständnis und bei den Menschenrechten der abendländischen gesellschaftlichen Entwicklung sein Wirklichkeitssicht von Freiheit gab.

Bei Sokrates, Platon und Aristoteles wird die individuelle Freiheit definiert als Einsicht in das Vortrefflich. In der politischen Praxis und im theoretischen Lebensvollzug kann sie verwirklicht werden. Es ist eine Verfügungsgewalt über sich selbst, unabhängig von anderen, d.h. einzig dem Einzelnen obliegt das Nutzrecht für sich selbst. Der Bürger hat volles Mitspracherecht und kann innerhalb der Polis frei über sich verfügen. Dieses Freiheitsverständnis persönlicher Unabhängigkeit, auch wider Zwängen von Außen, sei es durch Menschen oder Institutionen, wie Staat, Gesellschaft, Kirche u.a., ist uns geblieben. Nach Innen richtet sich in der stoischen Philosophie der Blick, wenn es heißt: Der Mensch unterwirft die vernunftfeindlichen Triebe und Affekte dem Geist und ist innerlich frei. Dieses Verständnis verändert sich nach dem Verfall der Polis zu einer philosophisch-religiösen Freiheit: dem Menschen sind jetzt die äußeren Dinge wie Leib, Geld, Ehre, politische Freiheit letztlich nicht endgültig verfügbar. So erfolgt ein innerlicher Rückzug aus der äußerlichen ‚Scheinwirklichkeit’ dieser Welt. Man überlässt sich den Naturgesetzen des Kosmos, und fügt sich denkend, doch passiv handelnd dem Gesetz und Walten des Kosmos bzw. der Gottheit unter. Sich von diesen Zwängen zu befreien und durch Askese über seine Leidenschaften wie Sorge, Zorn, Mitleid, auch der Todesfurcht, Herr zu werden, wird nun zum Innbegriff von Freiheit. Der Mensch ist frei, wenn er in Ausgeglichenheit und Leidenschaftslosigkeit, in völliger Harmonie mit dem Kosmos lebt und darin sich selbst in die Hand bekommt, und so als Individuum Souveränität gewinnt. Diese Freiheit ist in einem dauernden inneren Kampf und in unendlicher Anstrengung immer wieder neu zu erringen und zu verwirklichen.

Im Volk Israel hingegen lässt sich Freiheit nur aus dem Beziehungs-Geschehen: Jahwe – Volk Israel verstehen. Von Jahwe wurde das Volk befreit. Freiheit war somit kein Individualgut, sondern stets ein Kollektivgut. Dieser Urerfahrung des Volkes gedenken jüdische Gläubige bis heute im jährlichen Pessachfest: Gott sah die Not seines Volkes, hörte sein Stöhnen unter der beschwerlichen Arbeit und befreite mit machtvoller Hand aus dem Sklavenhaus Ägypten. Als es beim Exodus ‚Manna in der Wüste’ und ‚Wasser aus dem Felsen’ gab, ist Jahwe der Initiator und seine Heilstat beinhaltet das Notwendige und das zum Leben bzw. Überleben Not-wendende. Solches Handeln Jahwes, das Israels Heils-Geschichte prägte, ist ein ‚freies’ Handeln Jahwes aufgrund seiner Beziehung. Taucht für das Volk Bedrängnis auf, Jahwe greift rettend ein und das Volk erhält das, was gerade vonnöten ist und was das Volk für sein Wohl braucht. Die Bundes-Beziehung bedingt Jahwes Handeln und Israels Verlass und Vertrauen darauf. Der Exodus mit seiner Freiheits-Erfahrung wurde so zum Leitmotiv für Israels Entwicklung. Aus diesem Freiheits-Verständnis erwächst Kritik an aller ungezügelten Machtausübung, wenn dadurch Israels Leben in Freiheit als politisches Grundrecht von Jahwes Volk ihm Zwang und Abhängigkeit brachte. Dies bezog sich auf das Zusammenleben mit bzw. neben anderen Völkern genauso wie auf seine inneren Strukturen. Wer herrscht soll Jahwes Freiheit als Gerechtigkeit zeigen und anstreben, was die Propheten stetig einforderten oder durch Jubeljahr und Entschuldung stattfinden sollte. Für Israel entspringt Freiheit der Beziehung und kann nach Jahwes ureigener freier Entscheidung niemals isoliert werden von Jahwes Erlösungs- und Rettungshandeln. Der Freiheit liegt daher bei Israel stets ein Befreit-sein zugrunde, was identisch mit Erlösung ‚von Außen’ ist. ‚Nach Innen’ verändert sich dieses biblische Freiheits-Verständnis im Neuen Testament durch Jesus Christus und erhält eine religiöse und anthropozentrische Qualität. Die Bestätigung menschlicher Freiheit in der Schöpfung erfolgt im Tod Jesu selbst, der sich in Gottes Schöpfung vollzog. „Aus diesem Grund ist das Christentum die Religion des Ursprungs der Freiheit geworden“ und bestätigt, „dass der Herr (der Schöpfung) in einer unendlichen Differenz zu unserer Welt steht“ (Linke, S.36). Der christliche Glaube vollzieht sich als Freiheitsakt im Bekenntnis zu Christus und erhält seinen personalen Charakter. Das Beziehungs-Geschehen: Jahwe-Volk wird zum Beziehungs-Bekenntnis: Christus-Christ. Im ‚Credo’, und im Freiheitsverständnis des Paulus wird das Bekenntnis mehr denn je zu einem Individual-Gut, was dann insbesondere die Reformation übernahm und zusehends zur ‚Individual-Kultur’ des christlichen Glaubens führte. Jahwes Begleitung gemäß AT und Christi Wort und Tat im NT prägte so ein christliches Freiheitsverständnis mit den beiden Aspekten: Heilstat Jahwes als göttliche Gabe und Christi Heilstat als menschliches Tun. Nach dem Dekalog gehört Freiheit wie auch Leben, Ehe, Ehre und Eigentum zu den Grundrechten des Menschen, die Jahwe seinem Bundes-Volk schenkt und jeden schützt. Von Jahwe her ist daher Freiheit alttestamentlich durch den Exodus zwar als Befreiungstat bewirkt, hat sich aber nach den Erfolgen von Freiheitsbewegungen und Freiheitsrechten seit dem Mittelalter neuzeitlich zusehends zu einem politischen Freiheitsverständnis säkularer Art entwickelt. Im 20. Jh. ist diese durch die sogenannte ‚Befreiungstheologie’ mittels der Exodus-Tradition gegen Ausbeutung und Armut, und wider bestehenden ungerechten Verhältnissen in der Welt, scheinbar zu seiner ursprünglichen Verbindung von Freiheitsbewegung und Gerechtigkeitsstreben nach biblischem Verständnis zurückgekehrt.

Heute: Freiheit im Widerspruch

Freiheit wird aufgrund seiner zweitausendjährigen Geschichte und seines Gebrauchs in Herrschafts-Systemen heute insbesondere mit demokratischen Regierungs-Systemen verbunden. „Als Demokratie (von griechisch demos: Volk und kratein: herrschen) bezeichnet man jene politischen Ordnungen, in denen sich die Herrscher auf den Willen des Volkes berufen. Der Volkswille soll in kollektiven Abstimmungen zum Ausdruck kommen, wobei die Mehrheit bestimmt, was zu geschehen hat. … Der Demokrat sieht in der Souveränität des Volkes das höchste Rechtsgut. Damit wird einem Kollektiv die uneingeschränkte Herrschaftsgewalt zugestanden. Im Gegensatz dazu ist für den klassischen Liberalismus die Souveränität des Individuums das oberste Ziel. Der demokratische Kollektivismus steht in Widerspruch zum freiheitlichen Individualismus. Für einen fremdbestimmten Einzelnen spielt es keine Rolle, ob der willkürliche Zwang, dem er unterworfen wird, von einem einzelnen Despoten, einigen hundert Parlamentsabgeordneten oder der Mehrheit einer Volksabstimmung ausgeht. Das Ergebnis, nämlich der Verlust der Freiheit, bleibt in jedem Fall das Selbe.“ (Wikipedia unter: „Demokratie-Freiheit“)

Ein Blick auf die Anfänge der Neuzeit und in die Gegenwart offenbart den kollektiven Ruf nach Freiheit mit einem Entwicklungsprozess von revolutionärem Potential. Nach Emmanuel Todd verursachen bei den Völkern diesen Prozess demographisch nachweisbare Indikatoren wie Bildungsniveau (durch zunehmende Alphabetisierung) und Geburtenrate (die dabei rückgängig verläuft) in ihrer Auswirkung auf das familiäre Beziehungsleben (Familienleben bei endogamer oder exogamer Ehe) und sind daher maßgebend für politische Umwälzungen und Revolutionen. Für ihn führten Luther und Reformation zur Alphabetisierung der Massen, wodurch sich in Westeuropa aufgrund des steigenden Bildungsniveaus vom 16. bis in das 20.Jh. die Englische Revolution, hundert Jahre später die Französische Revolution und schließlich die Russische Revolution ergaben. Auch die 1979 im Iran erfolgte Revolution und die seit 2010 erlebbaren Veränderungen durch den „arabischen Frühling“ d.h. Revolutionen in den arabischen Staaten (Tunesien, Ägypten, Jemen, Libyen, Syrien …) ordnet er dem Freiheits-Prozess zu. (vgl. Emmanuel Todd, Frei, Piper, 2011, S. 23ff) Diese ‚Revolutionen der Freiheit’ sind zugleich zurückgebunden an den industriellen und wirtschaftlichen Fortschritt. Sie führen zur Ungleichheit der Verhältnisse, wenn Freiheit und Gerechtigkeit nicht in Einklang d.h. zum Ausgleich wie auf einer Waagschale kommen. Es bewirkt nämlich sonst ein gesellschaftliches Arm-Reich-Verhältnis und bedingt in der gesellschaftlichen Weiterentwicklung gemäß einem ‚Scherenverhältnis’ bei den einen zunehmenden Reichtum, bei den anderen zunehmende Armut. Dies wurde von Marx und Engels als Kapital- und Arbeitskraft/Proletariat-Verhältnis analysiert und man versuchte das Missverhältnis im ‚Ostblock’ des 20. Jh. gesellschaftlich mittels Sozialismus und Kommunismus auszugleichen. In den Industrienationen des Westens begegnete man dieser Gefahr durch Liberalismus wie Sozialismus, insbesondere aber in Deutschland durch die soziale Marktwirtschaft. Doch der neo-liberale Kapitalismus calvinistisch-amerikanischer Prägung überzieht inzwischen mit seinem wirtschaftlichen (griechischen) Nutzdenken, das sich egomanisch zugespitzt und ausgebildet hat, das weltwirtschaftliche Denken und gewinnt zusehends global die Vormachtstellung. Weltwirtschaftskrise und Finanzskandale sind gegebene Folgen. „Wir leben in einer von der Wirtschaft besessenen Welt, einer der gewendeten Marxisten, die davon ausgehen, dass Wirtschaft alles sei. Ich denke an die Neoliberalen, die im Grunde gewendete Marxisten sind.“(E.Todd, S.21) Auch in den arabischen Staaten ist das Armuts-Reichtums-Verhältnis nicht auf sozial-politische Art im gesellschaftlichen Alltag entspannt, sondern aufgrund der (islamisch bedingten) Macht- und Herrschaftsformen vorgegeben. Demnach ist zu fragen, welche Zielrichtung obliegt dem „arabischen Frühling“? Entspricht er dem Freiheits-Bedürfnis der Massen oder ringt man letztlich um mehr Gerechtigkeit! Gewiss kann angenommen werden, dass es zunächst um die Freiheit von Despotie, von Meinungsäußerung und dem (weiterhin) allgemeinen Zugang zum besseren Bildungsniveau geht. Daraus haben aber Arbeitsplatzsicherheit bei Nutzung moderner Technologie und allgemeine Chancengleichheit zu erwachsen. Dies hat der Staat zu gewährleisten. Ob ihm dies verfassungsgemäß aber im geistesgeschichtlichen Kontext von UN-Charta oder der Kairoer (islamischen) Menschenrechts-Charta (1998) gelingen wird, wird sich in den arabischen Staaten bei den jeweiligen Verfassungen zeigen. Dass nach säkularisierter, westlicher Vorgabe dabei die Trennung von Religion und Politik selbstverständlich ist, steht dann aber auf dem Prüfstand. Den arabischen Revolutionen der Sunniten im Herrschaftsbereich des Islam heute ist die iranische der Schiiten 1979 vorangegangen. Ihr wohnt(e) ein demokratischer Wandel nach der Schahherrschaft inne, aber als islamisches Herrschaftssystem will es die Einheit von Religion und Politik verkörpern und mag daher bisweilen dialog-unfähig mit westlichen Demokratie-Systemen sein, deren Wertesystem anderer Prägung ist. Freiheit offenbart hier im Islam möglicherweise seine Tiefendimension von ‚hebräischer’ Urspünglichkeit, die global nur ‚griechisch’ d.h. ‚ent-islamisiert’ und westlich säkularisiert eine Zukunftsperspektive aufweist. Anzunehmen ist daher auch, dass regionales wie globales Arm-Reich-Verhältnis nicht durch den Ruf nach Freiheit gelöst werden kann, sondern durch praktische Verteilungssysteme ‚hebräischer’ Art, die zu mehr Gerechtigkeit führen. D.h. den Revolutionen des Abend- wie Morgenlandes mit dem Ruf nach mehr Freiheit bei absolutistischen und despotischen Gesellschafts- und Herrschaftssystemen werden sozial-politische Revolutionen folgen müssen, die Umwälzungen und Wandel zu mehr Gerechtigkeit bewirken z.B. durch Finanz-Ausgleich und Güter-Verteilung. Dass dabei die gegenwärtigen „Zelt-Aufstände“ und Massendemonstrationen Jugendlicher in Israel wie vorher in Spanien oder in den USA wider Banken und Börsenspekulation zeichenhaft für den Ruf und den Weg zu sozialer Gerechtigkeit stehen, ist ersichtlich. Genauso weisen in diese Richtung beim ‚“arabischen Frühling“ die in die Kameras gehaltenen Qualifikationen akademischer Zeugnisse und Abschlüsse bei anschließender Arbeitslosigkeit und mangelnder Aussicht auf Anstellung. Es scheint ein Aufschrei nach mehr Gerechtigkeit der Jugend zu sein wider ihrer Arbeitslosigkeit, der hohen Lebenshaltungskosten und einer existentiellen materiellen Zukunftsangst.

Eine Gefährdung westlicher, demokratischer Ordnung ist zudem von Innen her z.B. durch den der Freiheit innewohnenden Dialog gefährdet nach Art einer ‚Dialog-Demokratie’, worin es um den sich linear mehrenden Widerspruch mittels juristischer Rechtsmittel wie egozentrischer Rechthaberei geht oder durch die der Freiheit innewohnenden Vielfalt, die in der ‚Medien-Demokratie’ der Politikshow und Sensationsgier nachkommt. Beide Formen bestimmen indirekt und meist unbewusst unser gesellschaftliches Leben, dem ein Freiheits-Verständnis mit griechischem Kern zugrunde liegt. Dieses Verständnis zeigt sich im gesellschaftlichen Zusammenleben besonders beim ‚wirtschaftlichen’ Handeln. Die wirtschaftliche Freiheit hat durch Industrialisierung und Kapitalismus eine zukunftsbestimmende Prägung erhalten. Der Ökonom Adam Smith (1723-1790) geht bei der wirtschaftlichen Denkweise und beim Zusammenwirken der beteiligten Marktteilnehmer davon aus, es geschehe zum Nutzen der vielen, die ihre eigenen Interessen wahrnehmen und verfolgen. Das vernünftige Eigeninteresse sah er als moralische und wirtschaftliche Tugend an und sah es durch die Arbeitsweise teilweise verwirklicht. Doch die geschichtliche Entwicklung belegt, dass sich Eigennutz zur Eigensucht entwickeln kann und neuzeitliches Freiheits-Verständnis sich dabei ‚in der Willkür beim Subjekt’ aufzulösen droht. Zwei Hinweise auf die der abendländischen Freiheits-Geschichte eigenen Entwicklungen zeigen Dialektik und Widerspruch von demokratischen und wirtschaftlichen „Systemen“ in seiner Gefährdung und Zerstörung d.h. Umschlag ins Gegenteil, wenn das griechisch bedingte Freiheits-System des Westens nicht seiner hebräischen Ergänzung von „Beziehungs“-Verantwortung ergänzend einzubringen vermag.

Die komplementäre und dialektische Sichtweise wie Zuordnung von „Beziehung“ und „System“ bekommt durch die Veröffentlichungen und die Vorgänge um ‚Wikileaks’ Ende 2010 seine besondere Note von Allmacht und erfährt in der Preisgabe seiner Informanten ein halbes Jahr später seine Ohnmacht und eine moralische Selbstbestrafung ‚entgrenzter Willkür’. Der Widerspruch von Medien-Freiheit d.h. (persönlicher) Meinungs-Freiheit und (kollektiver) Rechts-Sicherheit erschüttert die weltweit vernetzte Kommunikations-Gesellschaft. Einer weltweit koordinierten Veröffentlichung ist die Frage nach dem Nutzwert für die Welt-Gemeinschaft zu stellen, letztlich auch von Wahrheit und Freiheit im demokratischen „System“. Eine Veröffentlichung der größten Sammlung vertraulicher Dokumente (251.287 US-Botschaft Kabel), die der Public Domain freigegeben wurden, gewährten den Menschen auf der ganzen Welt beispiellose Einblicke in die ausländischen Aktivitäten der US-Regierung. Dass es bei dieser Form von Wahrheitsverkündung auch um ein kommerzielles Geschäft geht und nicht um Werteerhalt und um Aufklärung, wurde in diesem Kontext oftmals geäußert und geschrieben. Doch ist sie moralisch zugleich dem Postulat von Wahrheitsfindung und Freiheitsrechten zugeordnet. Offen bleibt der welt-gesellschaftliche Nutzwert dieses medialen Schritt’s Ende November 2010.

Wahrheits-Bedürfnis wie -Findung in Verantwortung brauchen Freiheit im demokratischen „System“. Denn in „Systemen“ sind global politisches und wirtschaftliches Handeln vernetzt. Darin und damit sind wir weltweit aufeinander angewiesen, um Frieden und Gerechtigkeit -als übergeordnete Werte- der Welt-Gesellschaft gewährleisten zu können. Im demokratischen System bedingt aber die Dialektik von (griechischer) Freiheit zugleich auch die Gefahr einer Zerstörung des Systems. Dann nämlich, wenn das Grundgerüst demokratischer Rahmenbedingungen lähmt und verantwortliche Regierungsarbeit durch (persönliche) „Beziehung“ dem schriftlichen Zeugnis entzogen wird bzw. werden muss und einzig das Wort -hebräischer „Beziehungs“-Kultur- für Gültigkeit und Glaubwürdigkeit stehen. So ist der Preis für Veröffentlichung und Transparenz um der Freiheit willen zugleich der Gefährdung bis Zerstörung von Vertrauen ausgesetzt, was bekanntermaßen in der persönlichen Beziehung seinen Anfang nimmt.

Missbrauch und Selbstzerstörung durch Freiheit d.h. Freiheit im Widerspruch beherrscht im gesellschaftlichen Alltag wie bei weltweiten Vorgänge neben dem politischen insbesondere das ökonomische Geschäft. Denn seit der Industrialisierung, seit etwa 250 Jahren, hat sich insbesondere im Westen unser wirtschaftlich-technologischer Fortschritt mittels eines kapitalistischen Freiheitsverständnisses herausgeschält. War um 1800 Deutschland noch ein Entwicklungsland, beginnt mit dem Zerfall des alten Herrschaftssystems des Feudalismus der Aufstieg einer neuen Wirtschaftsordnung in Europa. Diese Revolution in der Wirtschaftsweise und im Denken hat Adam Smith, der schottische Aufklärer und Moralphilosoph, im Eigennutz als Motor des wirtschaftlichen Fortschritts gesehen: Der Einzelne werde immer versuchen, sein Kapital so gewinnbringend wie möglich einzusetzen, und zwar aus ganz egoistischen Motiven. Sein Hauptwerk „Der Wohlstand der Nationen“ von 1776 gilt bis heute als Grundsatzprogramm des Wirtschaftsliberalismus und einer effizienten Ökonomie. Produzent und Kunde werden sich im freien Spiel der Kräfte wie Märkte finden, beide profitieren vom Egoismus des anderen, und die gesamte Volkswirtschaft profitiert von den so zustande kommenden Geschäften. Allein, die „unsichtbare Hand des Marktes“ entscheidet, welche Investition sich lohnt, welches Produkt zu welchem Preis einen Abnehmer findet, welche Firma überlebt. So wurde neben dem „Schwungrad“ des allgemeinen Egoismus das Geld zur zweiten Voraussetzung für das neue, kapitalistische Wirtschaften. Adam Smith hatte das Eigeninteresse dem Gesellschaftsinteresse untergeordnet. Den Eigennutz sah er in vielfacher Weise begrenzt: a, durch die ökonomische Konkurrenz; b, durch das Mitgefühl und den Sinn für Gerechtigkeit; d, durch die Anerkennung von ethischen Regeln und e, durch die positiven, staatlichen Gesetze. Nach S.Lämmer haben sich „in der Praxis die ökonomische Konkurrenz und die staatlichen Gesetze als wirksame Zügel bewährt“.

Im Laufe der europäischen und später der amerikanischen Wirtschafts-Entwicklung bedingen sozialistische und kommunistische Bewegungen, sowie Christliche Sozialethik und Soziallehre unterschiedliche Gewichtungen und wirtschafts-politische Schwerpunkte und Gesellschafs-Systeme. In der Gegenwart jedoch, nach dem Zerfall kommunistischer Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme, orientiert sich Wirtschaften zusehends wieder an liberalen und kapitalistischen Zielsetzungen. Global führte dies zu einer neuen Form des Kapitalismus im „Kasino-Kapitalismus“. Darin ist Geld nur noch dazu da, mehr Geld zu schaffen, ohne den Umweg wie einst über Fabriken, Waren, Arbeitsplätze. „Das Geld arbeitet nicht mehr für die Menschen, sondern nur noch für sich selbst. Der Eigennutz nutzt niemand anderem mehr. Der Kapitalismus hat eine neue Stufe erreicht. Aber er droht auch seinen Sinn zu verlieren.“ So entwickelte sich Anfang dieses Jahrzehnts eine teils noch an der Realwirtschaft ausgerichtete weitere Spielart des Kapitalismus in den ‚Fonds-Geschäften’. Größtenteils mit geliehenem Geld werden komplette Unternehmen gekauft, um sie dann gewinnträchtig weiterzuverkaufen. Nach dieser Sharholder-Value-Philosphie bemisst sich „der Erfolg etwa einer Aktiengesellschaft allein an ihrem Marktwert, daran, ob das Eigentum der Anteilseigner (der Shareholder) gemehrt wird. Steigende Aktienkurse und Renditen sind alleiniges Ziel dieses Wirtschaftens. Andere mögliche Ziele wie etwa ein hoher Beschäftigungsstand zählen nicht.“ (Stern EXTRA, S.114). Das Zusammenspiel beider Spielarten des Kapitalismus: Aktienkurs und Rendite können so, fern der sogenannten ‚Realwirtschaft’ bewirken, dass vermutlich bis zu 90 Prozent der weltweiten Geldströme dem freiheitlichen Handeln bzw. Diktat der Kapital-Mächtigen als ‚reine Spekulationsmasse’ für Finanzgeschäfte dienen. Dies hatte im Jahr 2008 innerhalb weniger Monate die Weltwirtschaft in ihre schlimmste Krise seit den 30er Jahren gestürzt. Diesmal blieben Millionen Menschen auf der Strecke als ‚Billionen’ des globalen Finanzmarktes außer Rand und Band gerieten und die Selbstheilungskräfte des Marktes versagten. Doch lassen sich inzwischen beim Geldmarkt im Strudel von Eigengesetzmäßigkeit und der Verpflichtung von Fondsmanagern einzig dem Geldgebern gegenüber, die Zwangsmechanismen und Sachgesetze scheinbar schwerlich bremsen und vieles ist zurückgekehrt: „Das Selbstbewusstsein der Investmentbanker, ihre utopischen Bonusforderungen, die riskanten Spekulationen, Milliardengewinne und der Champagner auf den noblen Partys“ (Michael Zehender) und „die Krise nährt (wieder) ihre Verursacher“ (Deutsche Presseagentur). Eine Allgemeinheit der Geschädigten und das Gemeinwohl von Gesellschaften wie auch der Menschheit scheinen auf der ‚Hypothek’ der Verursacher sitzen zu bleiben.

Der Hoffnung, in und durch Freiheit einem sozial geprägten Wirtschafts-„System“ einen Finger zu geben und ihren Verfechtern die Hand, kann in Krisen Zukunft eröffnen. So gewann nach der Industrialisierung im 18. und 19.Jh. die Frage nach der sozialen Verantwortung an Bedeutung und wird seit Jahrzehnten zwischen den Extremen von Kommunismus und Kapitalismus der ‚Dritte Weg’ gesucht. In Deutschland wurde ypothek

Mitte des letzten Jahrhunderts die „Soziale Marktwirtschaft“, eine spezifisch deutsche Spielart des Kapitalismus erarbeitet. Ihre christlichen Wurzeln lassen sich in einzelnen Persönlichkeiten der beiden Kirchen finden, in der Sozialgesetzgebung des 19. Jh. unter Federführung protestantischer Sozialethiker und in der sozialen Verantwortung Mitte des 20.Jh. mittels der Katholischen Soziallehre ein Grundkonzept der freiheitlichen und sozialen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu entwickeln. Man bemühte sich um einen Interessensausgleich und die Begrenzung wirtschaftlicher Macht mittels staatlicher ‚Fürsorge’. Im westlichen kapitalistischen Wirtschaftssystem versuchte man so zwischen liberalen Wirtschaftskräften mit ihrem primär am Eigennutz ausgerichteten Freiheits-Verständnis und der Gemeinwohl-Verantwortung des Staates einen ‚gerechten Weg’ zu finden durch Rahmenbedingungen, die dem Volk ‚soziale Gerechtigkeit’ bringen sollten. von „Sozialer Marktwirtschaft“ sprach 1947 Alfred Müller-Armack (1901-1978) und vier Kernideen sind diesem Weg gemeinsam 1) Der einzelne besitzt die Möglichkeit der freien Initiative; 2) Auf dem Markt gibt es Chancengleichheit, was nicht heißt, das jeder gleich viel besitzt; 3) Soziale Härtefälle werden durch das soziale Netz aufgefangen und 4) Der Staat sorgt für einen Ordnungsrahmen. Die Krisen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre bewirkten einen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik und hatten ihre Auswirkungen auf die Soziale Marktwirtschaft. Der Staat orientierte sich an der international vorherrschenden Wirtschaftslehre einer Nachfragesteuerung und bedingte 1967 eine Verschiebung von sozialer Absicherung hin zu einer Globalsteuerung und Einbindung in den europäischen Wirtschaftsmarkt durch Förderung von Stabilität und Wachstum der Wirtschaft, wie sie der Brite John Maynard Keynes erarbeitet hatte. „Das anfangs so umstrittene Modell der Sozialen Marktwirtschaft trug wesentlich zum Aufstieg der Bonner Republik zu einem der bedeutendsten Industriestaaten der Welt bei. Der Ausbau des Sozialstaates – ein großer gesellschaftlicher Fortschritt – brachte aber nicht nur mehr Sicherheit, sondern führte zu Kosten, die sich später nur schwer kontrollieren ließen.“ (S.85, in: Macht des Geldes, Aufstieg und Krise des Kapitalismus, Stern EXTRA, Nr3/2009) Dennoch ist mit Nachdruck auf die positive Beurteilung von Jeremy Rifkin hinzuweisen, einem Experten und Berater der EU und verschiedener Regierungen weltweit. Seiner Meinung nach fühlen sich von allen Ländern der Welt „die Mitgliedstaaten der Europäischen Union dem Modell der Sozialen Marktwirtschaft am meisten verpflichtet. Mit dem Ziel der Lebensqualität haben sie die Zukunftsfähigkeit zum Kernstück ihres langfristigen Wirtschaftskonzepts gemacht. Aber selbst die EU muss noch einen weiten Weg zurücklegen, um die Dialektik der Geschichte zu durchbrechen.“

In den USA haben bei der Besiedelung die „Pilgerväter“ mit ihrer reformatorischen und calvenistischen Grundhaltung eher eine materialistisch anmutende Spiegelseite griechischer Prägung mitgebracht. Nach Rifkin hat „der amerikanische Traum stets die Erfolgschance des Individuums betont und definiert, Erfolg war generell materiell. Der Traum der Europäer (hingegen) ist stärker auf ‚Lebensqualität’ ausgerichtet. Versorgung im Krankheitsfall, hochwertige Erziehung und Bildung, Freizeit, sichere Gemeinwesen und eine saubere Umwelt sind gesellschaftliche Kriterien, an daneben Erfolg gemessen wird.“ Dies ist „der entscheidende Punkt, den die Europäer erkannt zu haben scheinen, da sie Wert auf Lebensqualität der Gemeinschaft legen, in der sie leben“. (S.367, Jeremy Rifkin) Mit dem menschlichen Streben nach Glück lässt sich dies erklären, das dem sozialen Gleichheitsprinzip am ehesten gerecht zu werden scheint. Denn „bei der Umverteilung von Einkommen von Reich zu Arm gewinnt der Arme mehr an Glück hinzu, als der Reiche verliert. So steigt das durchschnittliche Glücksempfinden. Je gleichmäßiger das Einkommen verteilt ist, desto glücklicher werden die Menschen eines Landes im Schnitt sein.“(Layard) (zitiert S.367, Jeremy Rifkin) Mit Argwohn ist daher in Deutschland die Reduzierung und der Verlust der ‚Sozialen Marktwirtschaft’ zu bedenken. Denn national wie weltweit klafft in der gegenwärtigen Krise die Kluft zwischen arm und reich immer weiter auseinander. Man versucht zwar eine neue Balance zwischen Staat und Markt zu finden, in der die soziale Gerechtigkeit nicht zur Kostenexplosion in einem demokratischen Sozialstaat führt und der Bürger eine ‚liberale’, ethische Selbstverpflichtung annimmt. Es gilt, sich bei den liberalen Forderungen der Wirtschaft zu begrenzen und die soziale Absicherungen für einen ‚Kasino-Kapitalismus’ auszuschließen. Das könnte heißen: die drohenden Extreme einer sonstigen Selbstzerstörung von (griechischem) Eigennutz-Denken durch egoistisches Eigensucht-Verhalten und andererseits von (hebräischem) Gemeinwohl-Streben durch einklagbare Fürsorge-Ansprüche, können als Freiheit und Gemeinwohl zueinander unter christlichem Vorzeichen eine Brücke bauen d.h. als ein dynamisches Geschwisterpaar von ‚lebens-sicherem’ Nutzen und ‚wert-geschätztem’ Heil.

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37 Denkweisen der Hebräer und Griechen ergänzen sich komplementär

Menschliches Sein alsDasein’, wie als ‚Zwischen’ wird in Korrelations-Begriffen erlebt wie Sein – Bewegung, Natur – Kultur, Herz – Geist, Raum – Zeit. Es verschmolz gleichsam das hebräische Beziehungs-System mit dem griechischen Denk-System, die hebräische Zeit-Kultur mit der griechischen Raum-Kultur durch und in der Person Jesus Christus, der ‚hebräisch’ Menschen-Sohn und ‚griechisch’ Gottes-Sohn zugleich war und ist.

Um diesen Vorgang verstehen zu können, sei nochmals Detlef B. Linke zitiert, der darauf verweist: „Wenn man die Vielfalt der Welt ins Auge fasst, muss man Geist und Buchstabe von Kulturen etwas näher zusammen denken. Im griechischen Horizont des Neuen Testaments war dies der Fall. „Das Neue Testament entstand im Zeitalter des Hellenismus, und es war nicht ungewöhnlich, dass sich die Rabbis auf griechisch in Bildungsfragen unterhielten. Das war ein dramatischer Bruch in der jüdischen Kulturgeschichte. Die hebräische Schrift hatte aufgrund fehlender Vokale immer gefordert, den ganzen Geist in sie hineinzulegen, da man sie nicht entziffern kann, wenn man nicht mit kulturellem Vorverständnis und ihrem Geist entsprechender Kultur an sie herangeht. … Erst in der griechischen Schrift, in der alles ausbuchstabiert ist, kann der Geist sich vom Buchstaben trennen. Er ist hier nicht so eng an das Ausbuchstabieren gebunden. Im Hebräischen hatten die Schriftgelehrten eine hohe Funktion, da Geist und Buchstaben in eins zu bewahren waren.“ Dank des Deutens in hebräischen Lebenszusammenhängen konnten viele Meinungsverschiedenheiten diskutiert werden, „sie konnten sich aber nicht weit von der Schrift entfernen, wie dies beim griechischen Text der Fall ist, anhand dessen man einen völlig neuen Geist beschwören kann, wie dies Paulus mit seinem Bild von der Trennung von Buchstabe und Geist verdeutlichte. Erst im griechischen Horizont war eine Verachtung von Schriftgelehrten denkbar und die Vorstellung möglich, dass sie sich „geistlos“ verhalten könnten. Dies stellt jedoch eine Unterschiebung einer am griechischen Text entwickelten Denkweise dar, die mit der engen Abarbeitung des „Geistes“ und Textes in der hebräischen Thora nur wenig zu tun hat. So kam es, dass der Einbruch eines neuen Schrifthorizontes in eine Kultur eine tödliche Trennung von Geist und Buchstaben einführte, die nur zur Matrix für weitere Todescodierungen herhalten konnte“ (Linke, S.261f). Schriftsysteme, die sich unterschiedlich ausdrücken können, führen somit zu ‚verhassten’ Identitäten, die sich neu um eines Weiterbestehens wegen verbinden bzw. verbinden müssen, wie man es bei diesem Verschmelzungsvorgang zwischen hebräischer Lebenswelt und griechischem Wirklichkeitsverständnis durch Jesus Christus annehmen darf. Denn wie bekannt, liegen diesem Vorgang Widersprüche grundsätzlicher Art zugrunde:

– Raum-Kultur der Griechen Raum wird gemessen und gewertet > Lage-Plan; dabei offenbart sich als Raum-Paradox, der Raum ist zugleich begrenzt (hoch-breit-tief) und grenzenlos (Welt-Raum)

– Zeit-Kultur der Hebräer Zeit(inhalt) wird gedeutet, zugeordnet und erklärt > Sinn-Gabe;

hier zeigt sich als Zeit-Paradox: Wir sind in der Gegenwart und zugleich ist Gegenwart ein Zusammenstoßen von Vergangenheit und Zukunft; dauert aus naturwissenschaftlicher Sicht 3 Sek.

Das ‚räumlich’ griechische Denken mit klarem, logischen Erkennen und das ‚zeitlich’ israelische Denken mit tiefem, psychologischen Verstehen verkörpert auf einer Ellipse die beiden komplementären Weisen zur Wirklichkeitserfassung. Es sind zwei verschiedene, formal sich ausschließende, sachlich aber ‚komplementäre’ Denkweisen, die die beiden Altertumsvölker: Hellas und Israel, dank ihrer Einseitigkeit zum „geistigen und geistlichen Weltkulturerbe“ beitragen ließ. Thorleif Boman weist mit Recht darauf hin: „Wir, ihre geistigen Nachkommen und Erben, können sie nicht höher ehren, als beider Erbschaften gleich zu achten und zu bewahren, … wenn wir der ganzen Wirklichkeit treu werden wollen; denn beide Denkweisen sind unentbehrlich.“ Und im Sinne der Atomphysik sind „das hebräische und das griechische Denken komplementär. Die Griechen beschreiben die Wirklichkeit als Sein, die Hebräer als Bewegung. Wirklichkeit ist aber beides, und zwar gleichzeitig, was logisch unmöglich und doch richtig ist“ (Th.Boman, S.182).

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38 Vom Dialog zur Dialektik – Verschmelzung beider Denkweisen

Das hebräische Beziehungs-System ‚ewiger Gegenwart’ verschmilzt mit dem griechischen Denk-System ‚theologischer Deutung’ in und an Jesus Christus. Unter dem Blickwinkel des „Dialogs“ verbindet sich die Gesprächsebene von Gott und Mensch mit dem „Monolog“, der intrapersonalen Gesprächsebene des Menschen, der über sich und die Welt nachdenkt. Diese beiden unterschiedlichen und komplementären Dialog-Stränge verschmolzen miteinander und setzen sich ‚christlich’ als dialektisches System fort.

Der Dialog ist eine mündlich oder schriftlich zwischen zwei oder mehreren Personen geführte Rede und Gegenrede. Im hebräisch-biblischen Verständnis ist es der Sprachgebrauch zwischen Jahwe und Volk Israel, der der Erkenntnis von Erfahrung dient. Im griechisch-philosophischen Verständnis ist es ein Art Monolog, das Gespräch mit oder vor sich alleine, der der Erkenntnis von Wissen dient. Als bewusst eingesetztes Gestaltungsmittel wurde der Dialog (griechische Wortwurzel διά diá „[hin-]durch“ und λόγος lógos „Wort“, „Rede“; διάλογος diá-logos = „Fließen von Worten“) zunächst von den Sophisten verwendet, welche ihn zur Vermittlung von Erkenntnissen oder zur Erörterung von Problemen im Sinne der klassischen Dialektik (These und Antithese) nutzten. Er findet in den sokratischen Dialogen von Platon einen ersten Höhepunkt und erlebt im Humanismus erlebt bei Erasmus von Rotterdam und Ulrich von Hutten eine neue Blüte. Seine intellektuelle Systematisierung als Dialektik erfährt der Dialog gewiss erst in der Neuzeit. Seine antiken Wurzeln im Denken wie seine prozessuale Entfaltung beim Erleben bedingen mit der Ergänzung, Vereinigung, Verschmelzung, oder wie auch immer genannt, in Jesus Christus einen zeitlichen Vorgang als geschichtliche Entwicklung.

Bezeichnete Dialektik (griechisch διαλεκτική (τέχνη), dialektiké (téchne) = ‚Kunst der Unterredung‘,) zunächst eine Methode der Gesprächsführung oder Argumentation sowie den Bereich, der heute mit Logik bezeichnet wird, setzte sich seit dem 18. Jahrhundert eine neue Verwendung des Worts durch: die Lehre von den Gegensätzen in den Dingen bzw. den Begriffen sowie die Auffindung und Aufhebung dieser Gegensätze. Schematisch kann Dialektik als ein Diskurs beschrieben werden, in dem einer bestehenden Auffassung oder Überlieferung als These ein Aufzeigen von Problemen und Widersprüchen als Antithese gegenübergestellt wird, woraus sich eine Lösung oder ein neues Verständnis als Synthese ergibt. Dieses allgemeine Schema kann sich unter anderem auf die Gegensätze zwischen Begriff und Gegenstand in der methodischen Wahrheitsfindung, auf Gegensätze zwischen den Diskussionsteilnehmern in einer Diskussion und auf reale Gegensätze in der Natur oder der Gesellschaft beziehen. Dialektik, ein Ausdruck in vielfältiger Verwendung kann daher einen technischen Terminus einer Methode oder Disziplin, um Wissen zu erwerben und zu überprüfen bzw. zur Bezeichnung einer Wissenschaft genauso dienen, wie zur Erklärung und Deutung von Christentum und abendländischer Geschichte als dialektisch, der die Idee des Guten als Heilsgeschichte Gottes innewohnt.

Mit Paulus wurde christliches Leben auf dialektische Art und Weise reflektiert, durchdacht und weiterentwickelt. Die Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse im römischen Reich und die Interpretation von „Zeit“ auf Christi Wiederkunft hin, d.h. im Horizont des christlichen Glaubens banden letztlich die vielen Völker ein und trieben eine3 bewusste Gestaltung der Zukunft voran. Wirklichkeit und Geschichte wurden dialektisch begriffen als (teils) dualistischer Prozess von Gottes Heils-Geschichte und Diesseits-Geschichte des Menschen und bestimmten zusehends das Leben im Römischen Reich mit christlicher Deutung und Gestaltung. Dank dieser dialektischen Denkweise entlieh man in der Naherwartung von Christi Wiederkunft die göttliche Zukunft der menschlichen Gegenwart. Es geht um ein Verstehen der Beziehung zwischen dem Endziel Gott und der alltäglichen Wirklichkeit als einer Gewissheit: Gott ist da und mit uns; „wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“(Mt 18,20). Somit wurden die Widersprüche erfasst und die unlösbaren Aspekte eingebunden. Die Wahrnehmung des aus dieser Widersprüchlichkeit hervorgehenden historischen Prozesses bestimmte Wirklichkeit unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der wahre Gehalt Gott d.h. seine Gegenwart in jedem Moment zum Vorschein tritt, wenn man Gott in der geschichtlichen Kontinuität sieht. Wer hier von Geschichte spricht, weiß um die Totalität des historischen Prozesses. Denn die verschiedenen Momente zeitlicher wie räumlicher Art, die sich eng verschlungen in beständiger Auseinandersetzung wie in einem endlosen Aufeinanderfolgen befinden, lassen sich nicht mehr künstlich (in der Zeit) voneinander trennen. So können die verschiedenen Gesichter der Realität nicht aus dem allgemeinen Zusammenhang gerissen werden, dessen Teil sie sind und in welchem sie sich einander wechselseitig bedingen und beeinflussen. Der Standpunkt der Totalität gilt, wann immer ein Phänomen oder ein Ereignis betrachtet wird. Totalität wird dabei stets konkret, da sie Ausdruck eines organischen Komplexes von Beziehungen ist, insbesondere zwischen Gott und Mensch, in denen jede Sache auf das Ganze bezogen ist und das Ganze über das Teil herrscht; freilich kein fixes, statisches und unbewegliches Ganzes, sondern ein Ganzes, das selbst sich in kontinuierlicher Veränderung befindet, und das zugleich in sich ruht und aus sich heraus bewegt. Jede Teilung oder Trennung des Ganzen in Politik, Wirtschaft, Recht, Moral usw. trägt daher Züge von Willkür, weil es sich letztlich um verschiedene Seiten ein- und desselben Prozesses handelt. Wer im Bewusstsein solcher Totalität steht, kann die verschiedenen Momente verstehen, in denen sie sich äußern, in ihren wechselseitigen Beziehungen, in ihren inneren Widersprüchlichkeiten. Der kann ihre Entwicklungslinie sehen und, da er keine willkürlichen Sperren des Denkens kennt, kann er die einzelnen Phänomene studieren und analysieren.

Biblisch war, der Gott-Mensch-Beziehung und demgemäß hebräischem Denken, der Widerspruch in Gott und auf Gott hin gerichtet, dem Geschichtsverlauf eingebunden. Der vormals alttestamentlichen Selbstwidersprüchlichkeit Jahwes -wie bei Abrahams Opferung- folgt nun in Jesus Christus eine den christlichen Glauben kennzeichnende Dialektik. Gekennzeichnet von einer Selbstwidersprüchlichkeit, die im Glauben gedeutet in der Gott-Menschlichkeit Jesu Christi genauso präsent ist, wie in seinem Opfertod, im Messiasverständnis oder im theologischen Himmel-Hölle-Disput. In Jesus Christus vereinigten sich Natur und Gnade, Schöpfung und Erlösung, griechische Philosophie und Jesu Botschaft, und bewirkten, dass Paradoxie zum Ursprung und Wegbegleiter christlicher Geschichtlichkeit wurde und ist. (siehe dazu Wilhelm Kamlah, Christentum und Geschichtlichkeit, 1951). Daran reiben sich seit Anbeginn christliches Bewusstsein und theologisches Denken. Ein leidender und gekreuzigter Messias war für das damalige Israel ein absurder Selbstwiderspruch, um so mehr als Jesus „sich niemals öffentlich als Messias offenbarte, sondern es aufs strengste verbot, ihn als solchen zu bezeichnen … Was immer Jesus von Nazareth auch für die kleine Schar der jüdischen Zeugen seiner Auferstehung, und später für die Heidenkirche geworden ist, für das jüdische Volk war er nicht der Messias Israels.“ (Pinchas Lapide) Auch die spätere Bilderwelt von Himmel und Hölle mit all seinen moralischen und pastoralen Konsequenzen birgt diesen Selbstwiderspruch Gottes in seinem Sohn Jesus Christus. Seit dem Mittelalter hat er sich mit dem Jüngsten Gericht im christlichen Denken bei der Vorstellung von Tod und Auferstehung festgesetzt. Zutiefst unchristlich erscheint diese Bilderwelt von Himmel und Hölle, um den Übergang ins Jenseits zu erklären bzw. zu regeln, wodurch gute Werke belohnt und schlechte Taten bestraft werden. Diese Gerichtsvorstellung ist schöpfungsfeindlich. Schöpfergott und Richtergott scheinen verschiedene Götter zu sein. Zerstört nicht der Richtergott die Treue des Schöpfers zu seinen Geschöpfen? „Egal, ob es sich um einen Selbstwiderspruch Gottes oder um verschiedene Götter handelt: Das biblische Gottvertrauen ist zerstört. Ebenso das Vertrauen in Jesus. Denn der richtende Christus mit dem zweischneidigen Schwert hat mit dem krankenheilenden, sündenvergebenden Bergprediger Jesus von Nazareth nichts zu tun. Die Vorstellung vom vernichtenden Strafgericht ist ein extreme gottloses Bild.“ (Jürgen Moltmann)

Eine neurobiologische Erklärung für diese Zustandsentwicklung paradoxaler Art und die Schritte beider vor der Verschmelzung, lässt sich einem Beitrag von Detlef B. Linke entnehmen: Im menschlichen Gehirn ist bekanntermaßen ein Gebiet für Sprache und Lesen mit einer gewissen Eigenständigkeit gegeben, die Schreiben und Lesen im Kopf verarbeiten und bei der Organisation von Gedanken eine entscheidende Rolle spielen. Dieser Bereich eröffnet „neue Verbindungen für die Kognition und kann sich in manchen Fällen von den Dimensionen und Verarbeitungszentren für Sprechen und Hören abkoppeln. Entscheidend ist, dass dies für unterschiedliche Schriftsysteme sogar unterschiedlich der Fall sein kann.“ So ist bekannt, dass vokallose Schriften wie das Hebräische von rechts nach links geschrieben werden. „Die kognitive Organisation des die Aussprache-suchen-Müssens erfordert die Aktivierung der rechten Hirnhälfte, sodass das beim Lesen und Schreiben vorauseilende Auge von dieser Hirnhälfte aus besser gesteuert werden kann. Dies führt zu einer Vereinheitlichung de semantisch-graphischen Leistungen in einer Hirnhälfte. Die Auswirkungen können kaum ausgerechnet werden. Nimmt man an, dass die griechische Schrift mit ihrer vokalisierten, von links nach rechts weisenden Organisation einen stärkere Aktivierung der linken als der rechten Hirnhälfte mit sich führt und deshalb bildliche Leistungen der rechten Hirnhälfte durch diese stärker als komplementäre Dimension eingefordert werden konnten, dann kann man sich vorstellen, dass rein im schrifttheoretischen Bezugsrahmen das Christusereignis als ein spezifisch hellenistisches Phänomen zu deuten ist. In der neuropsychologischen Diktionsweise wäre dann das Christusereignis ein Geschehen, der durch die griechische Schrift unzureichend ausgelasteten rechten Hirnhälfte, die bei der hebräischen Schrift, man denke an die einen Freudentanz aufführenden Thoraschüler, bereits begeistert mitaktiviert war. Dann ist Christus die Ergänzung einer jüdischen Tradition, die durch den Hellenismus griechische Momente in sich aufgenommen hatte? … Die jüdische und die christliche Religion kämen erst dann zu ihrer Entfaltung, wenn sie sich auf ihren eigenen (Thora-)Text oder auf ihren griechischen’ Christus bezögen. Erst dann wären sie in ihrer je eigenen Religion“ (D.B.Linke, S.264). Diese Überlegungen stützen die vorausgegangene Erörterung betreffs der beiden unterschiedlichen kulturbedingten Wirklichkeiten bei den Hebräern und den Griechen, den unterschiedlichen Prämissen von Zeit und Raum und können als Grundlage für die Annahme der entsprechenden Verschmelzungstheorie von beiden Denkweisen dienen, wie nachstehend im Überblick das komplementäre Ergänzen anschaulich gemacht werden kann.

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39 Christliche Wirklichkeit: Wirklichkeits-“Kern-Fusion“

Beide Wirklichkeits-Verständnisse verschmolzen bzw ergänzten sich komplementär in/durch Jesus Christus“ zur christlichen Synthese / Lösung / Chance:

Hebräisch wird von Gott her gedacht und griechisch vom Menschen her. Sind hebräisch gedacht Mensch und Gott eine Einheit, die als ‚eine Person’ in der Welt handelt, lässt sich dies bei den Griechen ‚nur’ auf den Menschen – aufgrund des Wegfalls der griechischen Götterwelt – beziehen. Zugleich erfolgt durch die Ideenlehre nach Platons Philosophie in Christus eine neue zeitlich-lineare Ausrichtung, denn die ‚Ideen-Lehre’ hält den Spannungsbogen zwischen auferstandenem Christus und den Christen als Auferstehungs-Gläubigen, in und als stete Gegenwart aufrecht, und man denkt und deutet christlich vom Auferstandenen her. Zugleich steigt man im ‚Kairos’ mit der hebräischen Jahwe-Volk-Beziehung durch Christus in die zeitliche Raumvorstellung der Griechen ein, und vermag die Schöpfungs-Welt als Beziehungs-Welt in Oben und Unten räumlich zu teilen, die einerseits gegenwärtig das Miteinander der Gott-Mensch-Beziehung menschlich zentrieren und diese persönliche Beziehung verändert sich zum Bekenntnis-Glauben. Menschliches Leben hebräischer Art als „Zwischen“ mit Herz in und mit Gottes Gegenwart, wird so in Christus, z.B. durch die Sakramente manifestiert, wie vergegenwärtigt, während der Mensch zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt. Aufgrund seines Geist-Vermögens griechischer Art denkt und handelt der Mensch irdisch folgerichtig in Systemen und nicht mehr in Beziehungen. Auf der Handlungsebene verschmelzen ebenfalls die beiden Grundausrichtungen hebräischer und griechischer Art, und es wird schwieriger zwischen Heilswert und Nutzwert zu unterscheiden, wobei im ‚menschlichen’ Heilswert – nach hebräischer Denkart – das menschliche Einzel- wie Gemeinwohl in der Beziehung mit Jahwe verankert ist und im Nutzwert die stärker materiell und ideell ausgerichtete Frage nach nützlich und sinnvoll. Für was oder wen das Handeln seinen Nutzen hat, steht nun im Mittelpunkt und es wird dabei – theoretisch gesehen – eher vom Individuum aus gedacht. Salopp auf heute übertragen, geht es beim Heilswert um die menschliche Wertschätzung und beim Nutzwert um die materielle Entlohnung, d.h. um eine gerechte, Daseinsabsicherung. Dass beides in einander übergeht und sich ergänzt, sei nicht das Problem, sondern einseitige Schwerpunktverlagerung auf ‚ideelle Wertschätzung’ und ‚materielle Entlohnung’ von Institutionen, was zum Missbrauch von menschlicher ‚Gutheit’ und zur ‚Ausbeutung’ führen kann.

Das christliche Denken ist somit Träger, wie Praktiker beider Sicht- und Verständnisweisen, kommt aus beiden Kulturen und ist dort jeweils selbst in Beziehung bzw. Leistung beheimatet. Der ‚Gläubige’ kann sich im Gegenüber zu dieser Tradition und Vorgabe entscheiden, ob und wie er in Jesus Christus verankert ist, wie er seinen Glauben an den „wahren Gott“ und den „wahren Menschen“ beheimatet hat und persönlich, wie kirchlich kultiviert lebt.

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40 Wahrer Gott – Wahrer Mensch

Der Grieche erlebte die Welt und sein eigenes Sein als „Da-Sein“ in einer Art von Selbstbeherrschung beim Denken, genauso wie beim Handeln voll Ruhe und Gelassenheit, sei dies in seiner ‚räumlichen’ persönlichen Welt selbst oder gedanklich neben der mythologischen Götter-Welt, die ihm nicht weh tut.. Doch er wird einem Pfeile gleich samt seiner ‚Götter-Vorstellung’ in einer chronos-gemäßen Welt nach vorne bewegt und die Zeit eilt unwiederholbar vorwärts. Diese Zeit (als Zeit-Linie) wird räumlich – griechisch gedacht – in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geteilt.

Hebräisch dient diese lineare Geschichtslinie, um das ‚immerwährende’, d.h. zeitlich statische Entwicklungs-Geschehen des Volkes Israel mit seinem Gott Jahwe als Heils-Beziehung zu ‚wissen’ und demgemäß als Heils-Geschichte ‚deuten’ zu können. Unter beiderlei Betrachtungsweisen, d.h. Wissen und Deuten, konnte so die Geschichte Jahwes mit seinem Volke Israel erfasst und christlich in Jesu Christus mit seiner Kirche fortgeschrieben werden. Dabei gingen zeitlich-geschichtlich das hebräische „Zwischen“ und das griechische „Dasein“ pfeilgemäß vorwärts, bisweilen paradoxal ‚Hand in Hand’. Der Raum bleibt und wird dabei hebräisch zeitlich (als Zeit-Punkt) in der Schöpfung Gottes eingebunden. Der Israelit, der in der Tiefendimension von Zeit stets um seinen Bund mit ‚Jahwe’ weiß, übergab dem Christen einerseits die Gottes-Beziehung mit bibel-geschichtlicher Deutung und Gewissheit, die dieser selbst dann in Jesus Christus als Verschmelzung deuten kann, und übergibt ihm andererseits – aus der griechischen Weltsicht – die Einheit von linearem Pfeil (chronos) und Gottes steter Gegenwart (kairos). Hebräisches Zeit-Geschehen von Gottes steter Gegenwart wird nun ‚abendländisch’ zum Beziehungs-Geschehen im Glauben und ist nicht mehr dem Raum zu- d.h. unterzuordnen. Durch diese Verschmelzung beider Denkweisen in Jesus Christus tritt die Zeit in ein komplementären Verhältnis zum Raum. Nicht mehr der (Schöpfungs-)Raum ist der (Jahwe-)Zeit unterzuordnen bzw. die (Chronos-)Zeit dem (Erden-)Raum. Hiermit beginnt das abendländische Ringen von Glauben (theologische Deutung) und Wissen (philosophisches System) und trägt je spezifisch zur richtigen, vernünftigen und einsichtigen Wirklichkeits-Erfassung bei. Menschliches Dasein und geschichtliche Entwicklung werden nun bis zur Aufklärung folgerichtig ‚griechisch’ vom Glauben her gesehen und gedeutet. Dabei entschwindet dem Glauben selbst zusehends der einstige Ausgangspunkt und die kollektive Bodenhaftung der Zeit-Beziehung: Gott Jahwe – Volk Israel, und es verankert sich ein neues persönliches Beziehungs-Geschehen am historischen Paradoxon: Jesus Christus, der als der vom Gott Vater geoffenbarte Sohn angenommen wird. Im Christentum wurden so die hebräische und griechische Denkweise miteinander verbunden und verschmolzen mittels Ersetzen, Ergänzen, Akzentuierung von Begrifflichkeit, Systematisierung und Inhalt. Entsprechend erfolgte eine Verknüpfung und Vernetzung statischer und dynamischer Wirklichkeit im zeitlichen ‚zugleich’, was sich, insbesondere an der Person Jesus Christus nachzeichnen lässt.

Denn es ist davon auszugehen, dass der Jude Jesu auf jüdische Weise glaubte und entsprechend in der alltäglichen Welt ihre göttliche Bestimmung zur Sprache brachte. Mit Blick auf die ersten Jahrzehnte danach, lässt sich mit Hubert Halbfas sagen, nach Jesu Tod überlebte seine Botschaft nur in der palästinensischen Welt, wovon die Spruchquelle Q und das Thomasevangelium zeugen. „Beide Schriften geben ausschließlich die Verkündigung Jesu weiter, kennen aber weder Wundererzählungen noch Passionsgeschichte und Osterbotschaft.“ Sie zeugen seiner Ansicht nach davon, dass in Palästina die Jesusbewegungen ohne eigene Gemeindegründungen das fortsetzten, was vorher der Wanderprediger Jesus tat und lehrte. Eine ganz andere Entwicklung ergab sich zeitgleich in den hellenistischen Städten. So fanden hier im Milieu des Diasporajudentums und des damit sympathisierenden Heidentums von Anfang an Gemeindegründungen statt. Aus ihnen ging ein Christuskult hervor, dessen zentrale Botschaft nicht mehr die Reich-Gottes-Programmatik Jesus war, sondern die Deutung des Todes Jesu und die Verkündigung seiner Auferstehung.“ Dieser hellenistisch geprägte Denk- und spätere christliche Bewusstseinsstrom orientierte sich an der (theologischen) Lehr-Botschaft und weniger am Lebens-Alltag. Während Jesus lehrte, wie man in dieser Welt mitmenschlich leben kann, wurde dieser Inhalt insbesondere durch Paulus ausgetauscht gegen die Botschaft von Jesus als dem Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen. „Das zentrale Programm Jesus trat zurück hinter die Deutung seiner Person. Während Jesus keine Lehre verkündete, die zu glauben sei, sondern eine Existenzform praktizierte, die gelebt werden will, entwickelte sich im hellenistischen Milieu die metaphysische Vorstellung von einem präexistenten Gottessohn, den Gott gesandt habe, um die Menschheit durch seinen Tod am Kreuze wieder mit sich zu versöhnen.“ Entsprechend hat demnach auch weniger die Lebensbotschaft und -weise Jesu in Lehrsätzen seinen schriftlichen Niederschlag gefunden als vielmehr die theologische Deutung. So greift z.B. auch später das Apostolische Glaubensbekenntnis alleine nur die Eckpunkte des Lebens Jesus auf –Geburt und Tod-, und richtet darauf hin seine Deutung aus, unterlässt aber jeden Hinweis auf Jesu spezifische Botschaft, so trat Jesu Botschaft von der Liebe Gottes hinter die Deutung des Todes Jesu als Sühnetod zurück. (siehe in Publik-forum Nr.6,2010: Hubertus Halbfas, Zurück zum Ursprung, S.42f)

Durch die beiden unterschiedlichen Wurzeln: Hebräer und Griechen bedingt, waren also in Israel und Hellas zeitgleich zwei voneinander unabhängige „Offenbarungszentren“(Eric Voeglin) für den christlichen Glauben entstanden und vorgegeben. Die Geburt des historischen Bewusstseins verankert Voegelin in der „pneumatischen“ Offenbarung Israels. Bei diesem unvermittelten Einbruch Jahwes aus einer schöpfungs-transzendenten Dimension in die menschliche Dimension, erscheint Mose ein rein menschlicher Empfänger einer göttlichen Selbstoffenbarung zu sein, der ‚sein’ Volk um sich sammelt. Unabhängig von diesem Prozess findet im antiken Griechenland die „noetische“ Offenbarung statt, in der der denkende Mensch als ein Gott-suchendes, auf Transzendenz hin angelegtes Wesen in Erscheinung tritt. Für Paulus symbolisiert sich in der Götterwelt eine Versinnbildlichung des unbekannten Gottes. Beide Offenbarungs-Weisen verschmolzen im Christlichen, da durch das Verhältnis: Gott – Mensch und umgekehrt, jeweils aus der hebräischen und griechischen Erfahrungs- und Vorstellungswelt Inhalte komplementär miteinander verbunden wurden.

In Jesus Christus, der zugleich Person und Beziehung verkörpert, erfolgte diese Verknüpfung und Vernetzung statischer und dynamischer Wirklichkeit in einem räumlichen und zeitlichen ‚Zugleich’. Führte das Nachdenken über Jesu Christi Menschlichkeit und Göttlichkeit mittels des griechischen Seins-Verständnisses zu Jesu Mensch-Sein bei der Geburt und zu Christi Gott-Sein in der Auferstehung, so diente das hebräische Bewegungs-Verständnis dazu, das Beziehungs-Verhältnis zwischen Gott und Mensch wie zwischen Mensch und Gott theologisch zu entfalten. D.h. dem statischen Gott-Sein und Mensch-Sein, die sich zueinander komplementär ergänzen, ist ‚zugleich’ das dynamische Beziehungs-Geschehen: Gott-Mensch und Mensch-Gott zueigen, das sich ebenfalls komplementär ergänzt. Vereinfacht gesprochen, wurde die Gott-Mensch-Beziehung durch den Erfahrungskontext des israelitischen Denkens inhaltlich gefüllt, ist die Mensch-Gott-Beziehung hellenistisch gefüllt worden. Beide (Seins-)Zustände dienten dazu, das „Christus-Mysterium“ mittels griechischer Denkweise inhaltlich zu füllen und theologisch zu systematisieren.

Vielleicht lässt sich diese Verschmelzung und Systematisierung veranschaulichen mittels einer Ellipse mit jeweils zwei statischen Polen: dem Gott-Sein (Glauben Israels als Beziehungs-Gewissheit + Glauben an die Auferstehung) steht das Mensch-Sein (Geburt Jesu als Jude/ Hebräer wie als Mensch) gegenüber; dazwischen (bzw. darunter bei einer zwei-schichtigen Vorstellung; beide jeweils auf einer Ellipse) erstrecken sich die beiden Beziehungs-Stränge von Gott > Mensch (biblisch tradiert und im hebräischen Denken beheimatet; dem Zeitstrang linear verhaftet und im Selbstverständnis als Heils-Geschichte gefasst; die Zeitdimension ist in Christus (Jesus) lebensgeschichtlich und prophetisch von Verheißung bis auf seine Erfüllung hin ausgerichtet) d.h. GottInMir und von Mensch > Gott (religionsphilosophisch ist Jesus ein Jude, der als Christus dem griechischen Denken verbunden ist, und durch Paulus begrifflich als Gott gesetzt wird: Der Auferstandene wurde erkenntnis-bestimmend durch die ‚Apologeten’ und die Konzilien zu theologisch-christologischem Wissen).

Eine dialektische Betrachtungsweise mit ihrem komplementären Reichtum beider Kulturweltenbestimmte von Anfang an die unterschiedliche Zugangsweise und Deutung Jesu Christi, und bedingte die theologischen Auseinadersetzungen um den rechten Glauben und das richtige Verständnis des christlichen Glaubens und der Gemeinschaft der Glaubenden. Der Streit zwischen den beiden großen Schulen der Theologie in Alexandria und Antiochia während der ersten vier Jahrhunderte und die entsprechenden Auswirkungen und Festlegungen in den Konzilien bezeugen diese Grundsteinlegung und ‚Ecksteinlegung’ in der Geschichte des Christentums. „Grundlegend für das Christentum ist das Bekenntnis: Jesus von Nazareth ist der Messias (oder griechisch: der Christos, der Gesalbte) bzw. der Sohn Gottes. Die eine große Schule der Theologie in der ägyptischen Stadt Alexandria legt den Akzent auf die philosophisch-systematische Spekulation. … Die alexandrinische Schule hebt im christlichen Bekenntnis das letztlich unfassbare Geheimnis (mysterium) des menschgewordenen Gottes und die Göttlichkeit Jesu hervor. Die zweite große Schule bildet sich in der syrischen Stadt Antiochia heraus, in der die ‚Christen’ zum ersten mal diesen Namen als eine neuartige Gemeinschaft von Juden und Heiden erhielten (Apg 11,26) In Antiochia wird besonders die Exegese gepflegt. … Das Grundthema der antiochenischen Schule in der Christologie ist die Verteidigung der biblisch begründeten wahren Menschheit Jesu von Nazareth. Beide Ansätze haben jeweils ihre spezifischen berechtigten Anliegen und Gefahren. Die trinitarischen und christologischen Streitigkeiten der ersten vier Jahrhunderte lassen sich auf diese Schulen zurück führen. Das Konzil von Chalkedon (451) vermittelt dann die Synthese zwischen Alexandria und Antiochia in der bekannten Formel: Jesus Christus ist wahrer Gott und wahrer Mensch „in zwei Naturen unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar“. In diesem Sinn kann man sagen, dass die Ansätze von Alexandria und Antiochia komplementär zueinander sind.“ (Klausnitzer, S.277)

Rund ein Jahrtausend später hat Martin Luther beide Sichtweisen, die sich in Jesus Christus ‚komplementär’ verbunden hatten und der Kirche zur dogmatischen Grundlegung dienten, neu ins christliche Bewusstsein gehoben. Er hat das komplementäre Ergebnis mittels beider Ursprungs-entwicklungen getrennt betrachtet und charakteristisch akzentuiert: Dem „Jerusalemer Menschen“ stellt er den „Athener Menschen“ gegenüber. Ist beim Athener das griechische Menschenbild bestimmend mit intelligent, jung, sportlich, belastbar, ist ihm der Jerusalemer Mensch zur Seite gestellt, der gemäß hebräischer Sichtweise von Jahwe erwählt, nach dem Sündenfall er dennoch im Bundesverhältnis bestehen bleibt als ein Bundespartner, auch wenn er seiner menschlichen Unvollkommenheit leidet, erhält er im Glauben Gottes Gnade und ist mit seinem unscheinbare Leben angenommen. Niemand wünscht sich selbst oder anderen wahrscheinlich heute noch im Sinne Luthers ein ‚Jerusalemer Menschsein’. Denn mit der religiösen, positiven Aufladung des ‚Athener Modells’ durch Luther wird das andere Menschsein eher einem negativen Menschenbild preisgegeben, dessen Folge anzufragen ist, und damit auch die Einseitigkeit das Jerusalemer Modells. In seiner neuzeitlichen Wertsetzung von Individualismus und Autonomie hat aber gerade durch ihn das Athener Modell seinen Siegeszug angetreten und erhielt durch die Aufklärung fast universale Geltung – frei seiner Welt-Anschauung und Gottes-Beziehung.

Zustimmung ist daher Benedikts XVI Worten über die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaates vor dem Bundestag in Berlin anlässlich seines Deutschlandsbesuchs am 22.Sept.11 zu erbringen, und es gebietet, die Bedeutung Roms für Kirche und Staat nachhaltig zu bedenken. „Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas. Sie hat das Bewusstsein der Verantwortung des Menschen vor Gott und in der Anerkennung der unantastbaren Würde des Menschen, eines jeden Menschen, Maßstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns in unserer historischen Stunde aufgegeben ist.“ Rom als den institutionalisierenden Ort der Begegnung von hebräischem Glauben und römischem Recht für die Kirche genauso wie von hellenistischer Vernunft und römischem Recht für den Staat zu platzieren, macht verständlich, warum sich die Kirche römisch-katholisch sakrosankt zu einem eher absolutistischen Herrschaftsgebilde und der Staat aufgeklärt, wertneutral zu einem demokratischen Rechtsstaat entwickelt haben. Beide in unterschiedlicher Gewichtung und Glaubwürdigkeit ringen heute um eine zukunftsfähige wie –trächtige Identität Europas im globalen Kräftespiel geistlicher wie weltlicher Mächte. Diese Identität hat den Worten Benedikts XVI gemäß „im Bewusstsein der Verantwortung des Menschen vor Gott und in der Anerkennung der unantastbaren Würde des Menschen, eines jeden Menschen, Maßstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns in unserer historischen Stunde aufgegeben ist.“

Seit neuzeitlicher rationaler Denkweise und Aufklärung hat sich das menschliche Ich -dank Investiturstreit (Wormser Konkordat, 1122) und Reformation (Luther: Freiheit des Christenmenschen)- in den Mittelpunkt menschlichen Denkens, Deutens und Reflektierens geschoben und das Ich ist –griechisch vernunftgerecht- zum Mittelpunkt menschlichen Bewusstseins geworden. Im abendländischen Kulturkreis verlagerte sich somit am Ende des Mittelalters infolge von Renaissance und Aufklärung menschliches Denken vom Glauben hinweg zum Wissen bzw. der Glaube wurde vom Wissen verdrängt. Wissen und naturwissenschaftliche Erkenntnis wurden zum denkerischen Handwerkzeug. Dem Ich und seinem Bewusstsein wurden Zuordnung und Gewichtung von Wirklichkeit überlassen. Freilich konnten und wurden Glauben und Wissen, Gottsein und Menschsein, im Laufe der weiteren geistes- wie kultur-geschichtlichen Entwicklung im kirchlichen und gesellschaftlichen Selbstverständnis unterschiedlich absolut gesetzt z.B. so in der Französischen Revolution die Vernunft oder beim Papsttum der Primatsanspruch von Unfehlbarkeit und Jurisdiktion im Glauben. Zeitweise standen somit und stehen Staat und Kirche miteinander im Wettstreit bzw. bisweilen im Kampf, obzwar sie eigentlich einander komplementär zugeordnet ‚relativ’ sind. Denn das Ich kann sich absolut setzen, egal ob anthropozentrisch oder christlich verankert. So weiß sich das ‚christliche’ Ich sich zum göttlichen Du als Gegenüber gesetzt -im Sinn von Martin Buber. Ich-Bewußtsein kann sich also selbst absolut setzen oder zugleich ist in ihm Gottsein und Menschsein präsent verbunden. Das bedeutet für den Christen: Ich als menschliche Person bin Voraussetzung für mein ‚absolutes’ Sein genauso wie für mein ‚relatives’ Sein im für mich persönlichen Gott, meinem Du; sekundär ist dabei die Frage nach der „Vergegenwärtigung Gottes“ und dem ‚vernünftig’ geglaubten „Wie“ -ob dreifaltig oder nicht. Und das „Wie“ hat bekanntermaßen im Christentum seine unterschiedlich religiöse und theologische Entfaltung in den verschiedenen Konfessionen erhalten.

Die Chance des christlichen Glaubens für zukünftiges menschliches Handeln ruht daher im Widerspruch: Jesus Christus und dessen gleichzeitiger Verankerung im Gott- und Menschsein. Es ist von der christlichen Selbstverständlichkeit des Widerspruchs auszugehen, dass wir als Christen in „zwei Welten“ beheimatet sind. Übertragen und konkretisiert könnte man z.B. sagen: Ich lebe in der Welt von Wissen und Technik mit einem Bewusstsein von Aufklärung und Mündigkeit und zugleich in der Welt von Glauben, Ritus und Moral mit einer (theologisch-verstehbaren) Beziehungs-Verantwortung für Menschsein und Schöpfungswerk. Darauf weist der Freiburger Fundamental-theologe Magnus Striet hin: „Viele Gläubige leben in zwei Welten, man denkt und handelt im Alltag nach dem, was alle für rational halten, und wird dann sonntags wieder fromm“. Dem gesellschaftlichen Mainstream entspricht ein Alltag ohne Gott und Glauben. Meist ist man sich dessen auch bewusst, aber man vermag nicht demgemäß bisweilen die ‚Wirklichkeiten‘ -widerspruchsfrei- verbinden und verstehen. Im ‚abgetrennten’ religiösen Bereich der Welt hat man dann den Glauben ‚aufgehoben’; wider aller weltlichen Hoffnung vertraut man aber auf Gott. Man verbindet nicht beide Wirklichkeiten miteinander und versteht nicht, mit beiden entsprechend gleichwertig umzugehen.

Der Widerspruch ist postmodern (?) Kennzeichen der abendländischen Gesellschaft, doch im evolutionären Prozess von Sein und Zeit, Materie und Geist, sind Gott und Welt, sind Religion und Kirche schwerlich noch zu vermitteln – weil sie eben vielen ‚aufgeklärten’ säkularen Zeitgenossen einen nicht mehr vermittelbaren Widerspruch verkörpern. Auch das einstige katholisch-brückenbauende „Sowohl als auch“ funktioniert nicht mehr und zerplatzt oft an der Realität des Widerspruchs. Das „Sowohl – als auch“, seit Anbeginn des christlichen Glaubens Aufforderung zum Dialog mit der Welt und Ausdruck geschichtsbestimmender Dialektik und kirchentragender Formen, birgt und bewirkt aber mehr als nur Gegensätze. Ihm ruht der Widerspruch grundsätzlicher Art inne, den es zu erfassen gilt. Dies ist mehr ein persönliches Entscheidungs- und Verständnisproblem, als ein Erkenntnisproblem. Denn im Verstehen „paradoxer Sprach- und Formelwelten“ ruht ein Weg zur Erkenntnis und zum Verständnis unserer „rätselhaften Welt“. Dies hat auch mehr mit Bewusstsein als mit Vernunft, Erkenntnis und (eindimensionaler menschlicher) Identität zu tun. Der Gottes-Beziehung jüdisch-christlicher Herkunft wohnt die Lösung für dieses Verstehen inne. Sind Leben und Sterben, Tod und Auferstehung im Mensch-Sein und Gott-Sein nicht nur punktuelle Gegensätze und Gegenpole, sondern verkörpert dies den Widerspruch selbst, dann gilt es diesen als Bewusstseins-System komplementärer Denkweisen von Glauben und Wissen zum einsichtigen Verstehen zu verhelfen. Diesem Verstehen kommt man näher, wenn man die Kern-Fusion von Gottsein und Menschsein in Jesus Christus, den dialektischen Vorgang von griechischer und hebräischer Weltsicht betrachtet.

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Geburt Jesu (Stephan Lochner, ca 1445, Kölner Dombild, Marienkapelle), Quelle: www.wikipedia.org; Taufe Jesu (Joachim Patinir, 1475-1524), Quelle://commons.wikimedia.org/wiki/File:Joachim_Patinir_006.jpg; Das Abendmahl (Leonardo da Vinci, 1452-1519) Quelle: www.oil-painting-portrait.com; Auferstehung (Ikone des 15 Jh, Moskau, Tretjakow-Galerie), www.st.stephan.at/beheimatet/taize

41 Kern-Fusion in/durch Jesus Christus

Mensch-Sein (Geburt) – Mensch-Gott (Taufe); Gott-Mensch (Eucharistie); Gott-Sein (Auferstehung)

– Geburt Jesu (Stephan Lochner, ca 1445, Kölner Dombild, Marienkapelle)

– Taufe Jesu (Joachim Patinir, 1475-1524, niederländischer Maler)

– Das Abendmahl (Leonardo da Vinci, 1452-1519, erstellte das Werk 1495-97 in Mailand)

– Tod/Auferstehung (Ikone des 15.Jh., Moskau, Tretjakow-Galerie)

Mittels dieser vierteiligen Bildfolge können die beiden Sichtweisen des christlichen Glaubens

‚hebräisch’ –konkret: jüdisch- unter Bezugnahme auf die bildhafte Darstellung von der menschlichen Geburt Jesus, der Umkehrtaufe im Jordan durch Johannes, dem letzten Abendmahl in Jerusalem hin zur Auferweckung hin betrachtet werden. Diese Reihenfolge kann sodann umgekehrt ‚christlich’ betrachtet werden im Sinne des Auferstehungs-Glaubens: ‚griechisch’: Auferstehung – Eucharistiefeier – Offenbarung des Sohnes bei der Taufe – Menschwerdung von Gottes Sohn.

Jesus, seine Mutter und alle seine Jünger lebten als Juden unter Juden im Land der Juden, und dass das NT auch ein jüdisches Buch ist, gehört zum Gemeingut unseres christlichen Bewusstseins. Es ist von christlich gewordenen Juden geschrieben, deren Bibel allein aus dem ‚Alten Testament’ bestand und die zunächst als Reformbewegung eine eigene Gruppe innerhalb des pluralen Judentums mit Pharisäern, Essenern, Sadduzäern u.a. bildeten. Viele standen dem wichtigen Zweig des hellenistischen Judentums nahe. „Es hatte sich seit etwa dem 4.Jahrhundert vor Chr. in der hellenistischen Welt ausgebreitet; seine Sprache war Griechisch. Hier waren zum ersten Mal die heiligen Schriften Israels, die später den Kanon der Hebräischen Bibel bildeten, ins Griechische übersetzt worden. Aus dieser ‚Septuaginta’ (LXX) genannten Übersetzung und nicht aus der hebräischen Fassung zitierten (später) die neutestamentlichen Autoren, wenn sie sich auf die heiligen Schriften des Volkes Israel bezogen. Alle neutestamentlichen Schriften wurden in Griechisch verfasst, der damaligen Verkehrssprache … Ihre Verfasser waren Griechisch sprechende und denkende Juden, die an ein neues Heilshandeln Gottes in Jesus Christus glaubten.“ Diese Pluralität im jüdischen (hebräischen) Denken wie Handeln, bildet dann auch den sozialen wie religiösen Rahmen für Jesu Wirken. Sein Leben und somit sein ‚ver-gegenwärtigtes Heilhandeln Gottes’ wird dann im NT im Licht der heiligen Schriften Israels gesehen: Was er sagt, wie er von Gott spricht, wie Tod und Auferstehung gedeutet werden, was seine Hoheitstitel wie Retter, Immanuel, Herr Messias betrifft. „Dasselbe gilt von den christologischen Aussagen wie der Präexistenz in den Paulusbriefen oder der Logos-Lehre im Johannesevangelium, die ohne ihre hellenistische Herkunft in jüdischer Deutung unverständlich bleiben.“(Werner Trutwein) Weder Jesus noch Paulus wollten eine neue Religion gründen. Doch in der zunehmenden Differenzen zwischen dem konservativen hebräisch-aramäischen Judentum und den griechisch sprechenden Juden, die als Christen insbesondere durch Tod und Auferstehung und mit Paulus einen neuen Glaubens- und Denksansatz gefunden hatten, entwickelten sich mehr und mehr eigene, mit dem traditionellen Judentum unvereinbare Bekenntnisse und Dogmen

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Erschaffung des Adam; Quelle: www.wikipedia.de

42 Zeit-Beziehung > Raum-Beziehung; Raum-Einheit > Zeit-Einheit

In anschaulicher Weise will dieses Bild die radikale epochale Veränderung von Gottesbild und Gottesverständnis durch das Christentum hervorheben, indem sich der ‚kollektive’ einst eher horizontale, hebräische Beziehungs-Bund: Jahwe – Volk Israel im Diesseits zu einem persönlichen, mehr vertikalen, griechisch-räumlichen Beziehungs-Verhältnis von Gott – Mensch im Diesseits-Jenseits, und dazwischen Christus als Vermittler veränderte.

Im Christentum wurde diese Vorstellung räumlicher Art prägend und bestimmend für das persönliche wie kirchliche Gottes-Verhältnis und –verständnis. Der zeitliche Aspekt von Gottes Gegenwart wurde dabei auf die persönliche Beziehung zu Christus lebensgeschichtlich ausgerichtet und kirchlich auf die Glaubens-Gemeinschaft, die durch Inkarnation und Eschatologie begrenzt, in Christi Sendung und Auftrag steht. Zur Verständigung diente dabei zunächst die griechische Sprache, die als Kultursprache zur Vereinheitlichung im Geistesleben diente und in das Latein des Römischen Reiches zur Beherrschung und Verwaltung überführte. Zum Denken mit Vernunft half Griechisch, zur Mobilität und Vernetzung im römischen Reich Latein. Für die Systematisierung von Glauben und Kirche wurden somit theologisch die griechisch-biblische Denkweise und ekklesiologisch das römische-kaiserliche Herrschaftsverständnis maßgebend. Die Kirche konnte damit ihren Ausbau zur Weltkirche weiterführen und Latein diente als einheitsstiftende Sprache, genauso wie vorher die hellenistische Denkform, die insbesondere seit Paulus mit ihren philosophischen Gottesspekulationen die christlichen Glaubensvorstellungen leitete.

Zwei Persönlichkeiten sind für diese Entfaltung und Entwicklung des christlichen Glaubens zur Weltanschauung des Christentum und zum Aufstieg zur Weltkirche maßgebend: die Apostel Petrus und Paulus. Auf sie wird zunächst eingegangen, um dann in Fortsetzung die geistige wie materielle Leistung des Christentums für die Entwicklung des Abendlandes hervorzuheben. Es geht dabei um die Umsetzung der vorausgegangenen hebräischen Zeit-Beziehung von Gottes immerwährender Gegenwart und griechischer Raum-Einheit im Erfassen durch den menschlichen Geist zur christlichen Raum-Beziehung und Zeit-Einheit, die auf Schritt und Tritt menschliches Denken wissenschaftlich beheimatet und menschliches Vertrauen gläubig mit Gott verbunden weiß. Heute dienen Raum und Zeit konstitutiv und kontemplär dem wissenschaftlichen Denken und haben den Glauben (verdeckt) als Axiom d.h. je nachdem wie man denkt und handelt ergänzen sich Raum und Zeit, wodurch menschliches Denken und Handeln lebens-zeitlich begrenzt ist durch Geburt und Tod, und bzw. oder transzendiert sich geistig im Kollektiv, was über den Menschen selbst hinausgehen ‚kann‘ und in Gott (weiter) lebt.

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Quelle: www.welt.de/kultur/article1983662/Apostel_Pau…; Missionsreisen; Quelle: http://scriptures.ids.org/de/biblemaps/13

43 Paulus, Zeuge und Apostel christlicher Identität

– geboren ist Paulus zwischen den Jahren 7 bis 10 n.Chr. in Tarsus. Als Jude kam er zur Welt. und besaß das römische Bürgerrecht. Er selbst erwähnt in seinen Schreiben den Geburtsort nicht, weist aber mit Nachdruck auf seine jüdische Herkunft hin (Röm 11,1). Paulus erlernte den Beruf des Zeltmachers und verdiente sich damit auch später als Missionar seinen Lebensunterhalt. Tarsus, wo er seine Kindheit verbrachte, liegt an der Schnittstelle zwischen griechischer und orientalischer Kultur. Dort erhielt er seine hellenistische Bildung. Paulus spricht griechisch, lateinisch mit den römischen Wachsoldaten, hebräisch und aramäisch, die Sprachen des jüdischen Volkes. Seine Kindheit verbrachte er in seiner Heimatstadt. Um seine Weiterbildung fortzuführen, wurde er wahrscheinlich durch seinen Vater nach Jerusalem in die Schule des Gamaliel geschickt, der zwischen 25 und 50 n.Chr. in Jerusalem gewirkt hat und ihn „nach dem väterlichen Gesetz“ unterrichtete (Apg 22,3). Als Jude geboren, schreibt er „Ich wurde am achten Tag beschnitten, bin aus dem Volk Israel, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer, lebte als Pharisäer nach der Tora – und war untadelig in der Gerechtigkeit, wie sie die Tora vorschreibt.“ Die Bildung als Pharisäer hatte er also nicht in Tarsus, sondern in Jerusalem erhalten. Durch seine strenge Befolgung des Gesetzes und der hebräischen Traditionen geriet er sehr bald in die Auseinandersetzung zu Menschen, die sich zu Christus bekannten und die er zu verfolgen begann (Gal 13-14). Im „Damaskusereignis“ kam es zur Begegnung mit Christus, zu seiner dreitägigen „Erblindung“ und zu einem Neubeginn in seinem persönlichen Denken und Handeln. Für den christlichen Glauben wurde er zum Apostel und Missionar, ging auf drei Missionsreisen, wurde zwischen 58 und 60 als Gefangener von Jerusalem nach Rom verschleppt und starb vermutlich gegen 62 in Rom den Märtyrertod.

– Tarsus in Cilicien im südlichen Kleinasien, einer Region, die seit Alexander dem Großen von griechischer Sprache und Kultur geprägt war, ist eine Provinzhauptstadt des Römischen Reiches gewesen und war Kreuzungspunkt von Überlandstrassen, mit großem Hafen und ein Sammelbecken von Waren, wie Ideen. Neben den Anhängern orientalischer und römischer Götter und den Eingeweihten in Mysterien, wie in den Kult des Mithras, gab es auch eine jüdische Kolonie, der die Familie des Paulus angehörte. Der Beruf des Vaters dürfte, wie der des Sohnes, Zeltmacher gewesen sein. Dieser Familienbetrieb wurde als Manufaktur betrieben. Man hat Segel und Zelte herstellte, die beide in einer Stadt wichtig waren, in der Schiffe ankamen, Kaufleute unterwegs waren und Soldaten auf Zwischenstation. Zelte nahm man mit ob Kaufmann, Offizier, Verwaltungsbeamter oder als Pilger nach Ephesus oder Olympia unterwegs. Sie waren komfortabler als manche Herberge. Der Betrieb dürfte soviel eingebracht haben, dass der Vater von Paulus vermutlich zu den reichen Männern der Stadt gehörte und er sich das begehrte römische Bürgerrecht erkaufen konnte, das auch sein Sohn seit Geburt hatte. „Ich aber bin römisch geboren“ (Apg 22,24ff).

Diese Stadt war berühmt als Bildungszentrum. Der Eifer, den man in Tarsus für die Philosophie und die allgemeine Bildung aufbringe, sei so groß, dass sogar Athen und Alexandria übertroffen würden, so Strabon. Rom selbst sei voll von Gelehrten aus Tarsus, unter ihnen Athenodoros, der Lehrer des Hofphilosophen des Augustus. Die stoische Philosophie hatte hier ihren Sitz, beschäftigte sich mit Astrologie und Kosmologie, also mit den „Mächten und Gewalten“, von denen Paulus spricht. Die Stoa war eine Popularphilosophie mit ihrer Ethik und Lebenslehre, die ihre Grundsätze in der leicht fasslichen Form der Diatribe vortrug, einer Rede mit Dialogcharakter und mit rhetorischem Stil.

– Paulus war umweltbezogen Hellenist und familiengemäß Jude. Als Pharisäer und eifriger jüdischer Gelehrter konnte er sicher weite Passagen seiner Heiligen Schrift mehr oder weniger auswendig. Er kannte die Heiligen Schriften im hebräischen Original, wie auch in der seit dem 2.Jh. v.Chr. vorliegenden griechischen Übersetzung der Septuaginta. Diese Übersetzung ins Griechische war für die Juden in der Diaspora, die kein Hebräisch kannten, die wichtigste Säule der jüdischen Religion. Er verstand die aktuelle Situation von Gottes Handeln her. „Seine Überzeugung, dass die Thora, die Propheten und die übrigen Schriften aus sich heraus klar und deutlich sprechen und zum Verstehen der jeweiligen Gegenwart helfen können, zeigt sich auch (später) daran, dass Paulus auf Schritt und Tritt das Alte Testament benutzt, um seine Gegner und Zweifler von der Richtigkeit seiner Theologie zu überzeugen“ (Jochen Flebbe).Zwischen Paulus und den orthodoxen Messianisten aus Jerusalem kam es daher während seiner Verfolgungszeit wie nach seiner ‚Bekehrung’ immer wieder zu Auseinandersetzungen, wenn gesamtrömische und jüdisch-christliche Perspektiven aufeinander prallten, so auch in Antiochia, der syrischen Metropole.

– Die Gemeinde von Antiochien wurde nach dem Damaskuserlebnis für den einst glühenden Pharisäer und dann christlichen Missionar, nach Flucht-Aufenthalten an verschiedenen Orten wie Jerusalem und Tarsus, zu seiner christlichen Heimat-Gemeinde. Von hier aus bricht er zum ersten Mal, mit Barnabas zur Missionsreise auf und kehrt hierher wieder zurück. Dasselbe geschieht bei seiner zweiten Reise (Apg 15,36-40) und er wird auch von hier aus seine dritte Reise beginnen (Apg 48,23). In Antiochien hatten Paulus und Barnabas die bekehrten Heiden nicht zur Beschneidung verpflichtet, während einige jüdische Christen aus Palästina auf deren Notwendigkeit bestanden. So kam Petrus selbst hierher, und Paulus „trat ihm offen entgegen, weil er sich ins Unrecht gesetzt hatte“ (Gal 2,11). Diese Auseinandersetzungen führten dann zum sogenannten Apostelkonzil von Jerusalem (um das Jahr 48 n.Chr.) mit seiner grundlegenden Bedeutung für den christlichen Glauben und die Entwicklung zur Kirche grund der Zugehörigkeit durch Beschneidung und Speisevorschriften.

– Die frühchristlichen Gemeinden, die man häufig auch als paulinisches Christentum bezeichnete, konzentrierten sich auf größere Städte, in denen viele Kaufleute und Gewerbetreibende lebten. Außer in Rom gab es solche Gemeinden in Philippi, Petra, Gerasa, Beroea, Bostra, Philadelphia, Ephesus und Korinth. Viele Indizien belegen, dass die frühchristlichen Konvertiten aus einer relativ kleinen, aufstrebenden Mittelschicht kamen, freie Handwerker, Gewerbetreibende sowie ehemalige Sklaven waren und einen höheren Bildungsstandart inne hatten als der Durchschnittsrömer.

– Der Missionsstrategie von Paulus entsprach ein ständiger Ortswechsel und dann die spätere Wiederkehr (vgl. Röm 15,15-24). Paulus dachte griechisch-räumlich in Provinzen bzw. Landschaften. Seine Aufgabe sah er in der Erstverkündigung in zentralen Städten der Provinz. Gemeinden, die er dort gründete, waren dann für die Mission in ihrem Umland zuständig. Paulus Ziel war die Weltmission. Konsequent plante er entsprechend und verfolgte dies nach Thomas Schmeller mit eschatologischer Dringlichkeit (vgl. Röm 11,13-15). Orte dieser neuen jüdischen Frömmigkeit und Lebenspraxis waren die kleinen Gemeinden (maximal ca 100 Personen) als neue Zellen messianischen Lebens. Sie galt es aufzubauen oder die bestehenden zu betreuen gemäß der „Freiheit des Christenmenschen“: ‚Alles ist erlaubt, alles ist rein‘ – so wollte man dem Einzelnen wie der Gemeinschaft in Liebe dienen und Kirche als bunte Gemeinschaft über alle Begrenzungen hinweg lebendig sein lassen. Damit stand man im Gegensatz zum gesetzesgeprägten jüdischen Gemeindeleben. Paulus Traum war vermutlich (zunächst) ein nach hellenistischem Verständnis wirksames Judentum ohne Grenzen: Das auserwählte Volk hatte eine Aufgabe für die ganze Welt. Alle Menschen waren zum Glauben berufen. Mit seiner eigenen Berufung ist er so zum Missionar im doppelten Sinn geworden: Bemühen um Glaubensweitergabe mit jüdischer Denkweise und Sendung im Sinne des Matthäus: „Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern“ (Mt 28,19). „Paulus, Knecht Christi Jesu, berufen zum Apostel, auserwählt, das Evangelium zu verkündigen, das er durch seine Propheten voraus verheißen hat in den heiligen Schriften … um in seinem Namen allen Heiden zum Gehorsam des Glaubens zu führen“ (Röm 1,1.2.5)

Lehrtätigkeit: Paulus gab dem jüdischen Glaubensgehorsam gemäß den christlichen Glauben weiter mittels griechischer Begriffe seiner hellenistischen Umwelt, um das ‚Geheimnis‘ des Auferstandenen zeit- und kulturgerecht zu vermitteln. Diese griechische Begriffs-Vorgabe wurde später durch Theologie und Konzilien systematisiert, und so begann mit Jesus Christus in der Weltgeschichte eine grundlegende Wende, die zu einer neuen Gottes-Beziehung und –Erfahrung persönlicher wie kirchlicher Art führte. Zeitlebens führte Paulus voller Überzeugung gleichsam als ‚hellenistischer Handels-Reisender des Glaubens’ in den Städten des römischen Reiches fort, was Jesus als Wanderprediger in den ländlichen Regionen Palästinas begonnen hatte. Der Völkerapostel Paulus, Vordenker und Wegbereiter für die spätere dogmatische Festsetzung wie Systematisierung des Christentums. Paulus öffnete die christliche Sekte für Nichtjuden und verhalf dem Christentum zum Siegeszug im hellenistischen Kulturraum des Mittelmeers.

Auferstehungs-Botschaft: Durch die inhaltliche Füllung der biblischen Auferstehungs-Botschaft mit hellenistischem Gedankengut erhielt die christliche Botschaft ihre expandierende Kraft und Wirkung hinein in den hellenistischen Kulturraum und ins römische Imperium. Griechische Worte dienten Paulus, um jüdische Lehre weiterzugeben. Nach seiner ‚Bekehrung’ stand nicht mehr der jüdische ‚Gott Jahwe’ in Beziehung mit dem Menschen, sondern Christus als der Sohn Gottes zusammen mit seinem ‚Abba-Vater’. Theologisch gedacht, konnte nun jeder einzelne Christ mit dem ‚Abba-Vater’ in eine persönliche Beziehung treten und am ‚Himmel auf Erden’ mitarbeiten mitten im griechisch-römischen Alltag mit all seinen Tempeln und Kulturen. Mit seiner Existenz kann jeder Christ Zeuge sein für den einen und einzigen Gott Jesus Christus. Als Schriftgelehrter, wahrscheinlich auch als Pharisäer, war Paulus im Judaismus inhaltlich dem hebräischen Denken verhaftet und sah die Endzeit angebrochen. Jahwes Willen entspricht dabei, die Einheit zwischen Israel und den Völkern zum Lobe des einen Gottes herbeizuführen (Röm 3,29f) und dem übermächtigen Heilschaffen Gottes zum Erfolg zu verhelfen, oft benannt als ‚Gottes Gerechtigkeit’. Dieser Gott der Juden und der Heiden (Gen 1; Ps 47,3; Jes 19,21f) sprengt den bisherigen Exklusivitätsanspruch vom bisherigen ‚Volk Jahwes’ und zugleich schärft er den Unterschied zwischen Gott und Mensch, zwischen dem Schöpfer der Welt und dem menschlichen Geschöpf, dass niemand ihm mehr etwas raten, geben oder von ihm fordern könnte (vgl. Ijob 38-41). Die alttestamentlichen Gottesaussagen sind Paulus maßgebend, um seine teils ‚neue’, griechische Begrifflichkeit mit jüdisch-biblischem Inhalt zu füllen. Er weiß sich und seine Theologie von der hebräischen Bibel gedeckt. Was er aus dem AT über Gott weiß und selber aussagt, ist traditionell. Für ihn ist Gott der Jahwe Israels auch der Vater Jesu Christi. Damit vollzieht er eine kleine, aber grundlegende Neuakzentuierung, d.h. einen Paradigmenwechsel, indem er der bisherigen ‚kollektiven’ Beziehungs-Geschichte der Jahwe-Familie: Israel in Jesus Christus dessen ‚individuelle’ Lebensgeschichte als Beziehungs-Geschichte: Gott Vater – Sohn beigesellt und Jahwe ‚gleichstellt’ d.h. anstelle der ‚Familie Israel’ tritt nun der jüdische Zimmermannssohn Jesus, den Gott durch seine Auferstehung zu Christus erhöht hat.

– Der Menschen-Sohn füllt inhaltlich als Sohn Gottes die Menschwerdung Gottes christologisch, d.h. die Inkarnation Gottes auf Erden. Im Auferstehungs-Glauben an Jesus Christus wird der Mensch der Auferstehungs-Wirklichkeit (vgl. 1 Kor 15,1-58) gerecht und Gott schenkt dem Glaubenden – der hebräisch mit Gott Jahwe in Beziehung steht – durch Christus die Freiheit dazu (Gal 4,8-31). Jesus Christus als ursprüngliche Bekenntnisformel „Jesus ist der Messias“ wird, durch den Auferstehungs-Glauben bedingt, für den erhöhten Christus gebraucht. Durch seine Jünger wurde Jesus als der verheißene Messias anerkannt und sie fügten dem Namen Jesus den Titel ‚Christus’ (mit Artikel) hinzu (Mt 1,16; 27,17; Apg 5,42; 9,34; Mk 1,1; Jo 1,17). Als das Evangelium auch in der griechischen Welt verbreitet wurde, wurde Christus (ohne Artikel) zum zweiten Eigennamen Jesu (vgl. Apg 11,26), insbesondere bei Paulus (Röm 6,4.8f; 8,17; 9,3; 1 Kor 1,12f.17.23) wie auch in den anderen Briefen des NT (1 Petr 1,11). Durch die Liturgie mitgeprägt (vgl. 2 Kor 5,18; 1 Thess 5,9; Röm 7,25) gehen folgegemäß mehrere Gedankengänge ineinander über: 1. Der Gedanke des Anschlusses an den Christus, der das Heil brachte; 2. die Verbindung mit Christus, wie er heute noch fortwirkt und 3. dass Gott schon vor der Existenz der Welt durch Christus handelte (vgl. 1 Kor 8,6) und auch ihr Ende unter seinem Zeichen steht (vgl. Röm 2,16).

– Gewichtige neutestamentliche Begriffe wie Licht, Weg, Wahrheit, Leben, u.a. gewannen in seinen Briefen als christologische, wie ekklesiologische Aussagen ein teils neues Glaubens-Verständnis mit inhaltlicher Veränderung vom ursprünglich hebräischen Verständnis hinüber ins griechisch-hellenistische Bewusstsein. In der Anfangssituation der christlichen Nachfolge-Gemeinschaft ergab sich zwar in Differenzierung, wie in Abgrenzung zu den Juden eine entsprechende ‚sektenspezifische’ Entwicklung, die aber durch das Apostelkonzil eine neue, die hellenistische Strömung erhielt. Sich selbst sah Paulus darin gleichsam als ein ‚Treibholz’ von Gottes Gnaden. Seiner Selbsteinschätzung gemäß (1 Kor 15, 9-11) verankert er seinen Glauben und seine Identität allein auf den Auferstandenen, der ihm vor Damaskus erschienen war und ihn zum Zeugen und Apostel machte. Dem Handeln Gottes gegenüber war Paulus in seinem Leben radikal offen und er erwartete alles von der Wirksamkeit Gottes und seiner Gnade. Christus ist ihm der Urheber des Heils, er ist „die Erfüllung des Gesetzes“ (Röm 10,4) und ohne Liebe ist das Gesetz wie ein toter Körper, was er gewiss auf sich selbst, wie auf sein Gemeindeverständnis bezog.

Kirche als Leib Christi: „Seht wie sie einander lieben“, dieser Bewunderungsausdruck des röm. Schriftstellers Tertullian, sollte das kirchliche Antlitz prägen. Der Liebe schrieb Paulus im 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes die Wirkkraft für das Gemeindeleben zu: „Jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei: das Größte von ihnen ist die Liebe“ (V.13) und sie sollte als ‚paulinischer Imperativ’ „Trachtet nach der Liebe!“ (14,1) für die Kirche maßgebend sein. Die Liebe war gleichsam „der Weg“ (vgl. 1 Kor 12, 31) für die Glieder am Leib Christi: „Sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles“(V.7). Am „Leib Christi“ sollte dieser Geist wirken, der in seinen Gliedern miteinander in Liebe verbunden ist.

Alle christlichen Zeugen und Gemeinschaften gründen von ihrer Grundlage her gemeinsam auf ‚der Grundmauer der Apostel und Propheten’ und alle Mitglieder und Gruppen versammeln sich in einem Bauwerk, dessen Eckstein und Schlüssel das Antlitz Christi ist (Eph 2,20). Der Grieche Saulus dachte im ‚bekehrten’ Juden Paulus weiter. Der Geist Gottes, der für Paulus ein Geist von Gottes Liebe ist, sollte das Gemeindeleben durchströmen, wie es ‚familiengemäß’ dem biblischen ‚Volk Gottes’ zueigen ist. Dieser alttestamentlich familiär bedingte Volks-Begriff sollte nicht mehr durch Blutsbande, sondern sich durch die Vernetzung im Geist Jesu Christi auszeichnen. Die Verankerung dieses Geistes erhielt im Christus-Bekenntnis und durch die Taufe neue Bundes-Zeichen, um als ‚Erwählte’, ‚Heilige’ und ‚Herausgerufene’ im Volk Gottes ‚Ekklesia’ zu sein. Der Weichenstellung durch Paulus für die theologische Lehre mittels griechischer philosophischer Begrifflichkeit ist so letztlich dank der immerwährenden ‚hebräischen’ Gegenwart Gottes auch für die Heils-Gemeinschaft der Herausgerufenen als ‚Kirche’ und ‚Neues Volk Gottes’ ursächlich. Diese ‚Ekklesia’ strukturierte sich dann in Lehre, wie System griechisch als Glaubensgemeinschaft, aber es setzte sich nicht das paulinische, individuelle persönlich ‚Freiheitsverständnis des Christen-Menschen’ durch und auch eine funktionsorientierte Dienstgemeinschaft „Leib Christi“ erhielt nicht den Vorrang. Stattdessen diente die hebräisch hierarchisch strukturierte „Ekklesia“ als ‚Nachfolge-Organisation’ mit ‚Amts-Verantwortlichen’ der Weiterentwicklung vom christlichen Glaubensbekenntnis zum kulturprägenden Christentum der abendländischen Gesellschaft.

Paulus ist der geistige und Petrus der strukturelle Hauptverdienst zuzuschreiben, die entscheidenden Entwicklungsschritte in Gang gesetzt zu haben, wodurch griechisches Denken mit hebräischem Leben zeitgerecht verbunden und angefüllt werden konnten. Beide öffneten in unterschiedlicher Gewichtung jeweils geistig die christliche Sekte und vereinten kirchlich die christlichen Gemeinden und verhalfen somit dem Christentum zum Siegeszug im Mittelmeerraum.

Geistig standen zunächst in der christlichen Bewegung der ersten Jahrhunderte die paulinischen Christen den Gnostikern gegenüber die mit einem erwachenden Selbstbewusstsein in einer hochdifferenzierten urbanen Umgebung lebten. So gab es innerhalb der christlichen Gemeinschaft in der Anfangszeit bis über das 2.Jh. hinaus Stimmen, die eine völlig andere Lesart der Jesus- Geschichte vertraten. Für die Gnostiker (Gnosis > Wissen, Erkenntnis, Einsicht) galt, sich selbst zu erkennen und das Wesen der Bestimmung des Menschen. Sie sahen in Jesus nicht Gott, sondern einen erleuchteten Propheten und spirituellen Führer und zogen so manche christlichen Glaubenssätze wie etwa die Jungfrauengeburt und die körperliche Auferstehung Christi in Zweifel, wie es im Thomasevangelium niedergeschrieben steht. Auf ihrer Sinnsuche zur damaligen Zeit, die sich im Umbruch von Stammesbindungen zu individuellen Selbstbewusstsein, von ländlicher zur urbanen Lebensweise abspielte, bewegten sie sich auf dem Weg aus der Finsternis ins Licht durch Erkenntnis und Einsicht, der dem paulinischen Nachfolge-Glauben an den Auferstandenen konträr entgegenstand. Weg und Sinnsuche mit Paulus führten zur paulinischen Sicht von Erbsünde, Reue und Erlösung durch Christus im Jenseits, während die anderen sich stärker zu den Ideen einer Transzendenz auf dem Weg persönlicher Erleuchtung hingezogen fühlten. (vgl. Rufkin, S.174)

Das theologische Denken im Römischen Reich bewegte sich daher zusehend in den Gedankengängen des Paulus weiter und war Voraussetzung für den Aufstieg des christlichen Glaubens zur Weltreligion im Rom des 3./4.Jh. durch die Dogmatisierung christlicher Überzeugung mit griechischen Denkvorstellungen, und im 4.Jh. durch die praktische Assimilation heidnischer Bräuche. Die theologischen Überlegungen des Paulus, in den Fußstapfen eines jüdischen Schriftgelehrten, hatten mit ‚Damaskus’ eine neuen Sinn und Denkansatz gewonnen und entfalteten eine christliche Sichtweise der Wirklichkeit. Griechische Systematik und philosophische Gedankengänge vergegenwärtigen und verlebendigen die biblische Botschaft, die später durch christliche Theologen wie die Väter/Apologeten, durch Augustinus und Thomas systematisiert wurde. Zugleich waren sie meist als ‚Amts-Verantwortliche’ gleichsam auf dem Kirchen-Schiff hierarchisch eingebundene Steuerleute mit einem hebräischen Herz dank ihrer Christus-Beziehung, aber voll des griechischen Geistes, um das Schiff mit seinem theologischen, rationalen und dogmatischen Gerüst auf ‚griechisch’ zu Verstreben und Verankern. Dies ermöglichte die zweijahrtausendlange Fahrt auf dem Weltmeer der Geschichte. Oder mit einem anderen Bild ausgedrückt: man vergleiche das Christentum mit einer hebräischen Karawane unter hierarchischer Leitung des Petrus-Amtes, die einen griechisch-‚göttlichen’ Kultur-Schatz von Gottes-Gegenwart gemäß Paulus mit Gottes-Sohn und Dreieinigkeit durch die Welt-Zeit im Reich Gottes d.h. für die Menschheit voranbringt. Gegenwärtig ist aber mehr denn je zu fragen, ob der Kirche das bisherige hierarchische Modell noch dienlich ist, oder ob unserer Hoffnung und Zukunft willen nicht eine Umgestaltung auf das Communio-Modell eines Paulus vonnöten ist. „Aus der Beschäftigung mit Paulus können wir den Mut gewinnen, unsere Kirche immer wieder jenen Spiegel hinzuhalten, der unübersehbar zeigt: Überall dort, wie eine Gemeinschaft hierarchisch strukturiert und auf eine patriarchalische Tradition gestützt ist, erweist sie sich noch nicht ‚in Christus’ gemäß und gehört der ‚alten Welt’ und nicht dem neuen Sein in Christus’ an“. (Silvia Letsch-Brunner) Bei Paulus dient der Auferstehungs-Glaube und der Geist Christi der ‚Communio’ im „Leib Christi“ (vgl. 1 Kor 12,13), und nicht einer jüdisch-hierarchischen Tradition der Nachfolge willen.

Der spätere Übergang des christlich-abendländischen Denkens in das neuzeitliche Denken mit seiner anthropozentrischen Verankerung in der Aufklärung, verbirgt bereits in Rene Descartes (1596-1650) selbst, den Menschen als ‚Glaubenden im Zweifel’, den er gleichsam zu einem ‚gläubigen’ Axiom gemacht hat für sein menschliches Wissen. Sein berühmter Satz: „Cogito ergo sum“ – Ich denke, also bin ich, überlässt es jedem Menschen letztlich in Freiheit, ob er im Sinne des christlichen Glaubens glaubend oder nicht glaubend lebt, und ob er der ‚Ratio’ die Berechtigung für Welterfassung und –erkenntnis zuschreibt.

Paradoxerweise gab so der Pharisäer und Theologe Paulus, um es mit einem Bild auszudrücken, dem ‚griechischen’ Glaubens-Schiff: Kirche eine ‚hebräische’ Besatzung hierarchischer Art. Die Zwölf und die Apostel, zu denen er sich selbst zählte, verkörpern die Spitze dieser Ordnung im Sinne von Führung und Leitung. Es war eine Nachfolge-Gemeinschaft all derer, die sich zu Jesus Christus bekennen und auf ihn hin taufen lassen. Dem Alten Bund gemäß wird so das Volk Gottes als ‚neues’ Volk Gottes durch das Sakrament der Taufe weitergeführt und wandert durch die Erdenzeit.

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Sarc von Perugia, ca 360 n.Chr.; Christus zwischen Petrus und Kirche;

Quelle: http://82.135.31.182/grotz/diesf/f03/f03_0390.htm

44 Petrus – Christus – Kirche

Dieses Bild kennzeichnet auf anschauliche Weise das ekklesiale Erscheinungsbild der christlichen Glaubensgemeinschaft: Jesus Christus, der, als Jude ein Hebräer war, dann aber, griechisch bedacht, im Glauben Gottes Sohn war d.h. für den Christen dem hebräischen Beziehungs-Verständnis gemäß in die göttliche Vater-Sohn-Beziehung eingebunden wurde. In seinem Vertrauen und Glauben auf seine Beziehung zu Jesus wurde Petrus, der Hebräer, seinem hebräischen Gottes-Beziehungs-Verhältnis gemäß in dieses neue ‚göttliche Beziehungsnetz’ von Vater und Sohn einbezogen und somit im Glauben zum Christen. Die ‚Beziehung’ zum Vater bei Jesus, die zum Auferweckten bei Petrus waren die Voraussetzung für den christologischen Grundstein. So ist Petrus Hebräer in der persönlichen menschlichen Beziehung zu Jesus und Christ im Glauben an Jesus Christus. Mit diesem Wanderprediger war Petrus einige Jahre seines Lebens in Galiläa und Judäa unterwegs. Zu Ostern ereignete sich dann durch die Auferweckung des Vaters (als ‚inner-göttliches’ Wort Jahwes griechischer Art erfolgt ein Beziehungs-Geschehnis beim Handeln hebräischer Art) und die Auferstehung Christi (die menschliche Gottes-Beziehung Jesu handelt hebräisch und beweist die inner-göttlichen Logos-Identität Christi). Auferstehung des Sohnes und der Glaube des Petrus daran bedingen sein Christ-Sein. So ist er Petrus, der Fels für die Glaubens-Gemeinschaft und zugleich Mit-Garant für das kirchliche ‚Beziehungs-System’. Er steht für das ‚neue’ Volk Gottes zugleich mit seinem ‚Amt der Stellvertretung Christi’ an der Hierarchie-Spitze und in Dienst-Funktion.

‚Israels Zeit’ der bisherigen Jahwe-Beziehung wird nun zur ‚Zeit der Kirche’ in ihrer Christus-Beziehung. Die Heilsgeschichte, die im engeren Sinn mit dem Stammvater Abraham beginnt, soll nun durch die Kirche fortgesetzt werden. Das Verhältnis Jahwes zu Abraham, das in Gen 15,7ff als ‚Bund’ bezeugt und in Gen 17,1-14 betont diese Selbstbindung den ‚Bund Gottes mit Abraham’ auch die Bindung des Abrahamvolkes an Jahwe mit dem Bundeszeichen der Beschneidung. Die ‚Beschneidung’ wurde später, insbesondere im babylonischen Exil zum sichtbaren Unterscheidungszeichen der Jahwe-Gläubigen gegenüber den Unbeschnittenen, den ‚Heiden’ und es wird zum Bundeszeichen für den von Gott gestifteten Bund. Im Gottesvolk des Neuen Bundes wurde das ursprüngliche jüdische Zugehörigkeitszeichen: Beschneidung abgelöst durch „Glaube und Taufe“ bei den Christen (vgl. Gal 3,26-27). Waren anfangs die Empfänger und Träger von Jahwes Offenbarung und seinem Wort noch ohne besondere Namen benannt worden, und es wurde vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs gesprochen, so folgte den Überlieferungen der Vätergeschichten, der Gesetzgebung und der Landnahme eine heilsgeschichtlich orientierte Darstellung des Zeitablaufs, und die Geschichte Israel wurde so eingearbeitet, dass sie sich auf die ganze Menschheit bezog und entsprechend gedeutet wurde. Nun konnte angenommen werden, „dass grundsätzlich die ganze Völkerwelt vom Heilswillen Gottes umschlossen ist … Die Heidenvölker sind nicht einfachhin der Nacht des Verlorenenseins anheimgegeben (vgl. Am 9,7). Darum sind selbst ihre Religionen nicht durch und durch negativ zu werten (vgl. Apg 17,22ff)“ (siehe Alfons Deissler, Biblisch glauben, S.73-83). Die Kirche übernahm das biblische Verständnis der Heils-Geschichte und band sich dem Bund mit Jahwe als ‚Neuem Bund’ an, ‚Israels Zeit’ wurde zur ‚eschatologischen Zeit’ Christi (bis zur Wiederkunft) und schließt so durch Fortführung der alttestamentlichen Heil-Zeit auch die ‚Zeit Christi’ in Jahwes Gegenwart mit ein, die für die Christen zur Gegenwart des lebendigen Gottes Jesu Christi werden konnte. In dieser Gegenwart und Vergegenwärtigung Christi hat die Christenheit ihre Sendung erhalten und ihren Auftrag zu erfüllen.

Zum ‚neuen’ Volk Gottes wurde die Ekklesia (Kirche), für Petrus eher ein ‚System’ für Paulus ein ‚Leib’. Nach Paulus stellt die Gemeinschaft all derer dar, die Gott durch freie Erwählung (Röm 8,28) herausruft. Diese organische Gemeinschaft der Christen mit Christus und untereinander verkörpert die Einheit des ‚Leibes Christi’ und prägt sich in bzw. durch Einzelgemeinden aus, wie es die Anfänge der Paulusbriefe (1Kor 1,2) hervorheben. Paulus selbst mag die Kirchenordnung ‚horizontal’ vom Geist Gottes durchströmt verstanden haben, die als Communio und ‚Leib Christi’ funktional agierte: Durch den Auferstehungsglauben ist unser Leib geist-durchdrungen und ist Teil des Leibes Christi, aus vielerlei Gliedern gebildet wie ein Leib (vgl. 1 Kor 12, 12-27). „Denn wie wir an dem einen Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder denselben Dienst leisten, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, als einzelne aber sind wir Glieder, die zueinander gehören.“ So haben wir „unterschiedliche Gaben, je nach der uns verliehenen Gnade“ zur prophetischen Rede, zum Dienen, zum Lehren, zum Trösten, Ermahnen, zum Geben. (Röm 12, 4-8). Für Petrus aber sind Hirtenamt und Nachfolge wesentlich. Die Verhältnisbestimmungen in der Christologie und jene in der Ekklesiologie „sind haarscharf identisch. Wie man den Jesus der Geschichte und den Christus des Glaubens einander zuzuordnen hat, so auch die Kirche vor und nach Ostern. Kirche überhaupt ist die Versammlung des Volkes Gottes, vor Ostern in Jesus, nach Ostern in Christus. Wo Jesus Menschen um sich und seine Botschaft versammelt, da ist Kirche, sei es in Häusern, sei es im Freien. Die Versammlung des Volkes Gottes in Korinth wird von Paulus daher zu Recht Kirche Gottes in Christus genannt“(Klinger in: Bucher/Klinger, S.191). Petrus verkörpert somit – griechisch gedacht – als Individuum den heutigen Mosaik-Menschen des Glaubens, und weiß sich zugleich der Kirche als Frau – communio-gerecht und anima-gemäß mit seinem Herz eingebunden. Sie steht für das Kollektiv und die Einheit der Christen und verkörpert die Beziehungs-Tradition von Gottes Volk und Bund. Vielleicht mag die Kirche als Frau die verdrängte wie vernachlässigte Anima-Kompetenz (nach C.G.Jung) im kirchlichen Alltags zwischen bzw. von Amt und Charisma in der Nachfolge Jesu Christi ‚symbolisch’ verkörpern wie verdrängen.

Beim dialektischen Prozess des christlichen Glaubens entspricht diese Dreiheit: Petrus – Christus – Kirche dem Spannungsverhältnis, dem jeder Christ in seiner persönlichen Gottes-Beziehung wie sozialen Kirchen-Beziehung ausgesetzt ist: In der Beziehungs-Spannung Christ/in – Kirche ist Christus in beiden Polen ‚hebräisch’ stets zugleich gegenwärtig. Beziehung umfasst das persönliche, individuelle Glaubensverhältnis zwischen Mensch und Gott nach hebräischem Verständnis, und die Kirche ‚um-mäntelt’ als christliche Glaubens-Gemeinschaft das neue Volk Gottes mit seinem ekklesiologischen ‚Gewand’ von katholischer Tradition und Sukzession. Dies erfolgte mit einer Dynamik des Anfangs von Sendung und Mission der Kirche Jesu Christi. Was mit Jesus Christus beginnt, was die Herzen der Jünger und Jüngerinnen im Pfingstsaal entzündet (Apg 2,1-4) und was die Zuhörer in Jerusalem an Pfingsten ins Herz trifft (Apg 2,37), entfaltet eine ganz eigene Dynamik: Es entsteht die Kirche und sie beginnt damit, das Evangelium in der ganzen Welt zu verkünden. Diese Mission der Kirche Jesu Christi war nicht mehr aufzuhalten. Die Dynamik des Anfangs entfaltet ihre Kraft über die folgenden 2 Jahrtausende hinweg. Der Anfang der Kirche gleicht einem Samenkorn, das aus dem Boden sprießt, das wächst, größer wird und dabei nicht aufzuhalten ist, das seine Samen wieder austeilt und immer weiter wächst. Damit ist der Kirche im Voranschreiten, Sich-entwickeln und Vorankommen stetig ihre Quelle und diakonische Verankerung gegeben. Diakonisch sind wir als Christen aufgefordert, ein Gespür dafür zu entwickeln, wo der Dienst der Kirche am Menschen noch nicht in ausreichender Form geleistet wird, wo Menschen in ihren Nöten und Bedürfnissen übersehen werden. Dies kann manchmal ein unbequemer Dienst sein. Aber er entspricht der prophetischen Dimension des diakonischen Auftrags und Amtes. Dieser Dienst am Nächsten, hat seine Quelle im Gebet, in der Feier der Sakramente, in der Liturgie. So heißt es schon in der frühen Kirche, dass der Diakon „Auge und Ohr der Kirche“, (In diesem Wortspiel sind zwei Quellen zusammengeflossen: Im Testament des Herrn – Testimonium Domini I, 35 (3. Jhd.) heißt es, dass der Diakon „in allem wie das Auge der Kirche sein soll“. In der syrischen Kirchenordnung (5. Jhd.) heißt es, dass der Diakon soll „das Gehör des Bischofs sein, sein Mund, sein Herz und seine Seele“. (Didascalia Cap. XI: TU 25,2,59), ja sogar des Bischofs, sein soll. Er soll die Nöte der Menschen sehen, ihre Sorgen hören und sie der Gemeinde sagen, damit diese darauf reagieren kann.

Dass diese Sendung und Mission unter hierarchischer Leitung mittels eines theologischen ‚griechischen Systems’ von Kirche erfolgt, ist anzunehmen. Im Laufe der ersten Jahrhunderte hatte sich dies mittels der Ratio durch Theologie und die Konzilien entfalten können. Dieser abendländische sozio-kulturell bedingte Entwicklungs- und Wachstums-prozess hat durch die Aufklärung zusehends eine materialistische Basis und säkulare Stoßrichtung erhalten. Bei Kirchenzugehörigkeit dürfte es künftig primär um eine individuelle und personengerechte Eingliederung, d.h. eine persönliche, ‚bewusstseinsgemäße’ Gottes-Geburt im einzelnen Menschen gehen. Genauso wie wir alljährlich die Geburt Jesus Christi zu Bethlehem feiern, geht es also darum, in sich selbst das göttliche Leben wach zu rufen (GottInMir) und kirchlich (IchInGott) zu kultivieren.

Im christlichen Bewusstsein sind seit Jesu Geburt und Tod die beiden Denk- und Verstehensweisen (hebräische) ‚Beziehung’ und (griechisches) ‚System’ theologisch entfaltet und entwickelt worden. Das Zusammensein und die ‚Einheit’ der Anhänger Jesu in seiner Nachfolge als Glaubens-Gemeinschaft, eröffnet in den drei Begriffen von Ekklesia, Leib Christi und Volk Gottes das, was im Laufe der Geschichte die christliche Botschaft dank Theologie und Kirche zum Siegeszug des Christentums führte. Für den Glaubenden wurden kirchlich Wahrheiten und Lehrsätze maßgebend, bis hin zu gemeinschaftlichen Bewegungen, zu kirchlichen Aufspaltungen und Konfessionen. Beide Denkwelten und Wirklichkeiten, unterschiedlich bis widersprüchlich, die theologisch – insbesondere durch Paulus – neu begründet, systematisiert und zusammengefügt, wurden seit zwei Jahrtausenden bzw. werden seit Jahrhunderten verwandt, einander ab- und auszugrenzen mittels ‚Schonhaltungen’ kirchlichen Denkens, wie Handelns und haben so zur Absicherung kirchlicher Identität beigetragen.

Der dialektische Vorgang, der dem christlichen Selbstverständnis seit Anbeginn in seiner ‚komplementären’ Wirklichkeitssicht konstitutiv ist, bewirkte die Entwicklung der abendländischen Gesellschaft. Vom Axiom Jesus Christus ausgehend zeichnet eine Vielzahl paradoxaler Muster seitdem das Leben und Leiden in und mit dieser Kirche bzw. Kirchen; dies um so mehr, je näher der Akteur, d.h. der Betroffene, sich bei seiner persönlichen Gottes-Beziehung zugleich in seiner Kirchen-Verantwortung weiß. Beide Pole sind ellipsenhaft und gleichen jeweils in den Polen Schwerpunkten, Sichtweisen bzw. Ergebnissen; zueinander können sie situationsbedingt unlogisch und ‚paradox’ erscheinen, stehen aber zueinander in einem inneren komplementären Verhältnis. Hierin spiegeln sich manche Wirklichkeiten unserer gegenwärtigen paradoxalen Kirchen- wie Weltverhältnisse wieder. Damit denkerisch umzugehen ist dem christlichen Glauben zueigen. Die Frage ist berechtigt, ob der ‚Christliche Glaube’ mit seiner persönlichen Christus-Beziehung, der mehr denn je zur privaten Angelegenheit des ‚petrinischen’ Herzens des Einzelnen zu werden scheint, und der sich andererseits im Alltagsleben ‚paulinisch’ der allgemeinen Rahmenbedingungen von Wissenschaft und technologischer und wirtschaftlicher Entwicklung bedient, ob dieser ‚Christliche Glaube’ nicht mehr denn je solch ‚paradoxaler’ und ‚komplementärer’ Sichtweise bedarf, da der Mensch der Moderne dem Lebens-Spagat zwischen Glaubens-Beziehung und Wissens-System ausgeliefert ist. Dies bedeutet eine Chance für das Christentum. Christlicher Glaube kann in der gegenwärtigen Gesellschaft seines ‚komplementären’ Ursprungs wegen jeglicher gesellschaftlichen, globalen todbringenden Entwicklung entgegenwirken und entgegensteuern. Gehen wir davon aus, dass wir Christen abendländisch geprägt auf ‚griechischem Boden’ unsere ‚hebräische Gottes-Beziehung’ suchen und finden, dann ist nach Aufklärung und Säkularisierung mehr denn je die Frage zu stellen, ‚wie’ und ‚wodurch’ offenbart sich Gott dem Menschen im ‚christlichen Glauben‘ unserer Zeit, ‚wie’ und ‚wo’ kann sich Gottes-Beziehung durch ‚kirchlich Lieben‘ wieder ins gesellschaftliche Leben glaub-würdig hineindrängen? Man kann annehmen, diese funktionale Zielsetzung für christliches und kirchliches Dasein wird künftig weniger selbstverständlich volksgemäß und volkstümlich verankert sein. Mehr denn je wird jeder Einzelne ‚mündig‘ sein durch sein persönliches „Credo“. War einst das ‚Altar-Sakrament’ die ‚räumliche’ Mitte zwischen Himmel und Erde, und ‚zeitlich’ die heilsgeschichtliche Bewegung, ist es morgen der individuelle, lebendige menschliche „Tempel des Hl.Geistes“ selbst, der Gottes „Vergegenwärtigung“ lebt, wie es einst als „Disputa del Sakramento“ im Bild anschaulich als ‚ewiger Anbetung’ der Kirche festgehalten wurde.

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‚Disputa del Sakramento ‚in Stanza della Sequatura Rom, Raffaelo Santi; Quelle: www.12koerbe.de

45 Irdische und himmlische Wirklichkeit

‚Disputa del Sakramento’ in der ‚Stanza della Sequatura’ von Raffaelo Santi (1509-1511) –

in den päpstlichen Gemächern von Julius II- stellt einen Höhepunkt der Renaissancekunst dar und vergegenwärtigt in diesem Fresco mit der Darstellung der Dreifaltigkeit das Wunder der Eucharistie.

Oben: Heiligste Dreifaltigkeit, Engel, Apostel, Propheten; Unten: Heilige, Päpste, Kirchenlehrer; dazwischen: Allerheiligste mit Monstranz als Mittelpunkt, was beide Wirklichkeiten verbindet.

Im dialektischen Prozess spiegelt der räumliche Spannungsbogen Himmel – Erde dieses Verständnis wieder, das sich auf die räumliche – nah und fern – wie raum-zeitliche – schon und noch nicht – Örtlichkeit von Gottes Reich genauso übertrug wie auf jegliche Beziehung zwischen Gott und Mensch, die nicht mehr diesseitig im Leben des Menschen in Gottes Gegenwart angesiedelt wurde, sondern sich als Beziehungs-Geschehen ‚zwischen himmlischer und irdischer Welt’ abspielte. Als durch Theodosius (380 n.Chr.) das Christentum zur Staatsreligion erhoben wurde, erfuhr das Bild Jesu einen Wandel, wie es Jeremias Rifkin zugespitzt formuliert: „Er war nicht mehr in erster Linie der Gott der Bescheidenen, der Wundertätige und Erlöser, sondern wurde zunehmend zum Himmelsherrscher. Die Kirchenoberen erklärten sich zu unmittelbaren Nachfolgern der Apostel und zu Gesandten Gottes auf Erden und beanspruchten das ausschließliche Recht für sich, die Beichte abzunehmen und die Absolution zu erteilen. Von nun an galten die Bischöfe in allen Heilsangelegenheiten als Mittler zwischen den Laien und Gott, die allein den Stand der Gnade verleihen konnten. Die Kirche inszenierte sich als unfehlbare Instanz und als irdisches Gefäß göttlichen Geistes.“ Damit war die katholische Kirche geboren und die abweichenden christlichen Gemeinden, die sich gegen die kirchliche Lehre stellten, galten als ketzerisch und waren der Exkommunikation ausgeliefert. (vgl.S.179,JeremiasRifkin)

Es kann angenommen werden, dass die ersten Christen, als der Anfangs-Druck eschatologischer Erwartung von Christi Wiederkunft nachgelassen hatte, die direkte persönliche Beziehung zeitlicher Art (auf Zukunft hin) sich in eine räumliche Verlagerung hinein entspannte. Denn das ursprünglich hebräische, wie griechische Denken und Wirklichkeitsempfinden war jeweils für sich durchaus positiv ausgerichtet. Im christlichen Denken ‚verdrehte’ sich beider ‚horizontale’ optimistische Ausrichtung in eine Räumliche zwischen Himmel und Erden. Bei dieser Verlagerung wurde dann meist dem Jenseits im Himmel eine positive Denk- und Handlungs-Dimension zugeschrieben, die negative der Hölle, und wer Christus nicht anerkannte war auf ewig dem Höllenfeuer verdammt. Im Diesseits auf Erden sind beide beheimatet und ‚kämpfen’ miteinander, was sich in den Schwankungen der abendländischen Geschichte nachzeichnen lässt. Die Kirche, auch als Kirche der Sünder, weiß sich im Auftrag Jesu Christi gesendet, dem Menschen und der Schöpfung Jesu Heilszusage und Reich Gottes-Botschaft gemäß daran zu arbeiten. Kirchliche Sakramente und Gelübde sind ihre religiösen Mittel, persönliches Leben und individuellen Lebensstil geistlich zu untermauern und der Beziehung: Christus – Mensch einzubinden, und um so auch gemeinschaftlich als Kirche die 2000jährige Geschichte der christlichen Glaubens-Überzeugung zu über-spannen und amts-verantwortlich zu gestalten.

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46 2000 Jahre Christentum Schaubild

links – der katholische ‚Volk’-strang von Urgemeinde bis zu den Konzilien

rechts – die ‚Polis’-orientierung mönchischer und dann evangelischer Art

Das innerkirchliche Verhältnis von Gottes Volk – Gemeinde Christi lässt sich mittels zweier Pole auf einer Ellipse darstellen. Werden beide jeweils mit ihrer Schwerpunktsetzung von ‚Volk‘ (als Einheit aller Getauften) und ‚Gemeinde‘ (als polisgemäße d.h. ortsbezogene Glaubens-Gemeinschaft katholischer, evangelischer Herkunft) angenommen, korrespondieren Volk und Gemeinde im katholischen Innenraum abermals auf einer weiteren Ellipse im Spannungsbogen von ‚Volk Gottes‘ (getauft und zur kath.Kirche gehörig) und ‚System’ (röm-kath., hierarchische Ordo-struktur). Beide Ellipsen entwickelten sich kirchengeschichtlich im Spannungsverhältnis von gläubigem christlichem ‚Volk’ und kirchlichem ‚System’ mit jeweils unterschiedlicher Vorrangstellung und Differenzierung, worauf die Darlegung dieses Kapitels fußt. Es wird davon ausgegangen, in der römisch-katholischen Kirche akzentuierte sich das kirchliche ‚System’ als stabile Amts- und Ordo-Institution, der gegenüber das ‚Volk’ Bewegung verkörpert. Beide bedingen sich gegenseitig, sind voneinander abhängig und offenbaren einen dialektischen Prozess komplementärer Prägung. Wurde das Volk Israel als „Volk Gottes“ des Alten Bundes in und durch Jesus Christus zum Kirchen-Volk des Neuen Bundes, wurde von den Gläubigen seit Anbeginn das Bekenntnis zum christlichen Glaubens-System eingefordert, sei es von den Gläubigen im (kollektiven) Volk Gottes oder in der (örtlichen) Glaubens-Gemeinschaft. Andererseits verband das Kirchen-System zusehends als Nachfolge-Organisation zugleich die Glaubens-Gemeinschaft zur Einheit von Klerus und Laien, und es kam im christlichen Gottes Volk weniger die charismatisch-griechisch geprägte „Communio-Ordnung“ der Gemeinde zum Zug.

Gottes „Kraft aus der Höhe“ (Lk 24,49) wirkt stetig und wunderbar als Gottes Geist im Sinne des AT vom Anfang bis zum Ende der Welt. Damit wird der immerwährenden Gegenwart Gottes mit den Menschen stetige Beziehung und Kraft zugeschrieben. Sie schafft und gibt allen Geschöpfen Leben. So führte sie einst das auserwählte Volk des Alten Bundes durch die Zeit, und offenbart sich besonders in den von Gottes Geist erfüllten Propheten, die von ihm ergriffen, unter Leiden und Verfolgung große Aufgabe hatten und haben, und Gottes Weisungen als Droh- oder Frohbotschaft jeweils gegenwartsnah verkünden, um einer besseren und heileren Zukunft willen. Das Amt der Leitung des Gottesvolkes hatten einst die Könige, Älteste und Priester inne. Im neuen Bund wurde dieses gewachsene Verhältnis zwischen Gott und Volk auf Jesus Christus und die Kirche übertragen, und begründete sich primär nicht mehr als kollektives, sondern als persönliches Beziehungsverhältnis. Axiom dieser christlichen Glaubens-Gemeinschaft ist der Auferstehungs-Glaube und das Beknntnis des Einzelnen dazu. Ihr entspringt die Lebens-Kraft des christlichen Glaubens und richtet den Blick, ausgehend von den alttestamentlichen Heilstatsachen in Deutung und Beweisführung, auf die Fortführung im Neuen Bund. In ihm wird die Verheißungslinie im christlichen Bekenntnis und durch die Lebenspraxis weitergeführt, gegründet in der ‚vollkommen’ Wirklichkeit: Jesus Christus, in Zuversicht endzeitlicher Erfüllung. Zu Lebzeiten sind wir seiner Nachfolge gemäß als Einzelne vom Geist Gottes zu besonderen Aufgaben in der christlichen Gemeinden erwählt und berufen, und sind dabei ‚Objekte‘ der Berufung, die eingebunden sind, sei es als Klerus oder Laie in das röm-kath hierarchische ‚System’. Zugleich aber sind wir auch im ‚Volk Gottes’ verantwortliche Subjekte des Glaubens, ausgestattet mit der Vernunft und der Freiheit des Christenmenschen, und stehen mit Jesus Christus im ‚Neuen Bund’. Auch wenn (geweihte) priesterliche Amts-Träger seit Anbeginn den Dienst und die Autorität zu lehren und zu leiten haben, in Stellvertretung stehen und mit Vollmacht ausgestattet sind, stehen doch alle gemeinsam als sein „Volk Gottes“ und seine „Kirche“ im stetig gegenwärtigen „Kristallisationspunkt Jesus Christus und im eschatologisch orientierten Sendungsauftrag Jesu. Diese zeitliche Vergegenwärtigung Gottes im Sakrament ist stetige Präsenz im „gemeinsamen Priestertum“ und ist/kann durch sakramentale Amtshandlung d.h. durch amts-kirchlichen Logos und kirchlich-sakramentale Handlungspraxis wirksam werden.

Jesu Reich-Gottes-Botschaft in Wort und Tat bedingten zunächst gegenüber den Juden eine Ab- und Ausgrenzung, dann aber erwuchs durch eine einheitsorientierte Kirche mit dogmatisierter Glaubenslehre für die christlichen Gemeinden zusehends ein Ausschließlichkeitscharakter im römischen Herrschaftsbereich. Über die verstreuten Einzel-Gemeinden hinweg wurde den Gläubigen eine vernetzte und identitätsfördernde Einheit und Sicherheit gegeben. Den richtigen Glauben zu haben und in der richtigen Kirche zu sein, bestimmte zusehends das macht-politische Interesse von Herrschern, die dies ihren Untertanen auferlegten. Andererseits versuchte man mittels Konzilien, beginnend mit dem Apostelkonzil zu Jerusalem, im Lehrsystem des Glaubens eine verbindliche Normierung zu erreichen mittels einer gemeinde-stiftenden wie -begründenden ‚Doxa’ (kirchliches Lehr-Gebäude). Die Systematik griechischer Philosophie war dabei zu Diensten, die christliche Theologie zu entwickeln und die Strukturen des kirchlichen Systems zu legitimieren. Dies wich aber vom hebräischen Glaubens-Verstehen ab, in dessen Bewusstsein der jüdische Glaube keine ‚Doxa’ kannte. Mittels griechischer Denksysteme verhalfen Theologen der Kirche mittels einer ‚Doxa’ zur theologischen wie ekklesiologischen Bildung und Systematisierung der Volk-Gottes-Einheit. In der notwendigen Hierarchisierung des ‚Leibes Christi’ spiegelte sich dies wieder und diente einer zielgerichteten Funktionalisierung des Sendungs-Auftrags Jesu. Persönliches Bekenntnis (Credo) und eine theologisch begründete gemeindliche Gottes/Christusbeziehung verhalfen von Anfang an dem Einzelnen, als Christ im Alltag gute Werke zu verrichten und christliche Lebensregeln zu befolgen.

Bei der ethische Umsetzung der Reich-Gottes-Botschaft und der Frage dass Gottes Gegenwart mitten im Alltag zu finden ist und nicht im Jenseits, führte im 5.Jh. zur Auseinandersetzung zwischen dem Iren Pelagius und dem Nordafrikaner Augustinus. Es ging um das Gute und Böse im Menschen und um die Gewichtung der Natur dabei. „Augustinus setzte das Konzept der Erbsünde durch und damit ein prinzipielles Misstrauen gegenüber der menschlichen Natur. Für Pelagius und (seine) keltische Kirche dagegen war der Mensch von Grund auf gut und in jedem Menschen leuchtet das göttliche Licht.“ Seine Kirche sah den Menschen verwoben mit der Schöpfung und einen Zusammenhang zwischen den Zyklen der Natur und der menschlichen Seele worin und wodurch Gottes Geist wirkt. In dieser keltischen Stammesgesellschaft waren für das Glaubensleben Klöster entscheidend, die dem Vorbild ägyptischer Wüstenväter nachstrebten. Sie entstanden überall und waren miteinander verbunden, waren bunter, beherbergten Ehelose wie Verheiratete mit ihren Familien und die Klosterregeln orientierten sich weniger an strengen Vorschriften wie auf dem Kontinent. Nicht Bischöfe und Diözesen bestimmten das Kirchenbild, sondern das wandernde Gottesvolk mit dem Ideal der Pilgerschaft. Wo sie sich als Glaubensgemeinschaften ansiedelten, blühte Leben auf. „Die keltische Kirche orientierte sich somit nicht an der Verwaltung und am Amt, sondern an der inneren Autorität, die aus religiöser Erfahrung erwächst“ (Hans-Joachim Tambour)(in publik-forum, S.33f, Nr.12,2010)

Für die römisch-katholische Kirche wurde Augustinus zum bedeutsamen Konstrukteur. Er bewegte sich weiter in der Tradition und Gewichtung der Pastoralbriefe, die zur rechten Unterweisung wie Korrektur in den Gemeinden voraussetzte, bei der Entwicklung der Kirchenordnung Pate standen. In der Tradition von Aposteln und Autoritäten der ersten Stunde, in Anlehnung an das jüdische Ordoverständnis hierarchischer Ausrichtung, erhielten dabei Presbytern und Diakonen als den ersten ‚institutionellen‘ Trägern jüdisch-christlicher Tradition ihre Bedeutung im kirchlichen ‚System’. So erklärt sich, dass sich die ‚Kirche’ als ‚Nachfolge-Organisation’ nach hebräischer Vorgabe aufbaute und nicht durch Gemeindevorgaben im paulinischen Sinn von ‚Communio-Gemeinschaft‘, oder wie es sich später bei den keltischen Christen offenbarte mehr am Einzelnen und seinem inneren Wachstum, mehr am Gebot der Liebe ausgerichtet, wie es Columban der Jüngere (+ 615) niederschrieb: „Liebe hält sich an keine Ordnung“. Man ordnete die Kirche den Pastoralbriefen gemäß an der hebräischen Ursprungsform, die im Laufe der Jahrhunderte ‚griechisch’ systematisiert und ausgebaut wurde. Die kirchliche Handlungsform tradierte sich ‚hebräisch‘, war im ‚Neuen Bund‘ legitimiert und ordnete sich hierarchisch gemäß dem Ordo.

Das alttestamentliche, hebräische Gottes-Volk veränderte sich so in ein neutestamentlich, durch den hellenistischen Kulturkreis geprägtes Kirchen-Volk, wobei eben der paulinischen, charismatisch geprägten Gemeinde die jüdische, hierarchisch geordnete Gemeinde petrinischer Art zunächst gegenüberstand. Die ‚Jüngere Tübinger Schule‘ Mitte des 19.Jh. geht davon aus, „die Entstehung der (Groß-)Kirche (entwickelte sich) als Synthese zwischen zwei ursprünglich in schroffem Gegensatz zueinander stehenden Richtungen in der Urgemeinde, nämlich der ‚Petruspartei‘, d.h. der Gruppe der Judenchristen mit einer judaisierenden Lehre und Struktur unter der Leitung des Petrus, und der ‚Pauluspartei’, d.h. der Gruppe der Heidenchristen, die sich auf Paulus bezogen hätten.“ (Klausnitzer, S.71f ) Es ist davon auszugehen, in der Gemeinde-Bildungszeit in Galiläa und Jerusalem hat es unterschiedliche Bewegungen und Akzentsetzungen gegeben. Der Herrenbruder Jakobus spielte dabei eine gewichtige Rolle und es gab ursprünglich im Judenchristentum selbst wieder zwei Gruppen, die Galliläer und die Jerusalemer, wobei ersterer die „Hellenisten“ unter Stephanus erwuchsen. Diesen Gruppen sind als weitere noch die Johannesjünger hinzu zu zählen, die sich primär den Heiden zugewandten. Man kann mit Ferdinand Christian Baur davon ausgehen, die judenchristliche Gruppe mit Petrus als Haupt lehrte die Rechtfertigung durch Glauben und besaß eine hierarchische Verfassung. Hingegen die heidenchristliche Gemeinschaft an Paulus orientiert proklamierte die Rechtfertigung allein aus Glauben und gestaltete sich an einem gemeindlichen Presbyterialsystem, was durch die Reformation bedingt, beiden ekklesialen unterschiedlichen Organsiationstypen nach ‚Petrus‘ und ‚Paulus‘ ihre Zukunft gab. Bereits seit Anbeginn der Kirchenbildung führten die beiden unterschiedlichen religiös-kulturellen Milieus hebräischer wie griechischer Herkunft zu verschiedenen Lehr- und Verfassungsformen. Im Laufe des 2. und 3. Jahrhunderts erfolgte dann eine allmähliche Angleichung. Am Ende dieses dialektischen Prozesses und als Kompromissform entwickelte sich dann als Synthese die ‚katholische’ Kirche heraus, die in Anlehnung und Einbindung von römisch-kaiserlicher Verwaltungsstruktur und dank eines römisch-juridisch ausgerichteten Rechtsdenken das ‚katholische’ Ekklesia-Verständnis und Kirchen-System dauerhaft verankern konnte. (vgl.: Klausnitzer S.74f)

Seit Anbeginn christlicher Gemeinde-Bildung vermischten sich Visionen von Kirchen-Bildern mit den realen Möglichkeiten und Notwendigkeiten gemeindlicher Gestaltung. Vision und Realität standen so stetig in Wechselwirkung bei denen, die an Jesus Christus glaubten und sich als Gemeinde zur ‚Ekklesia’ zählte. Kennzeichnend für diese Zeit des Anfangs ist, dass die Kirche eher gelebt und weniger reflektiert wurde. Denn das Nachdenken über sie geschieht auf den Spuren und in der Richtung der Bilder, die im NT grundgelegt sind wie Volk Gottes, Leib Christi, Haus Gottes u.a. (vgl.: Klausnitzer, S.174ff). Christliches Gemeinde-Leben und Kirchen-System bergen und beinhalten seit den Anfängen in der Urgemeinde die beiden unterschiedlichen Kirchen-Bilder im Kontext von Leib Christi und Volk Gottes. Man wusste sich in der Nachfolge Christi in Gottes immerwährender bzw. fortwährender Gegenwart bei unterschiedlichem Vorrangstellung und Wertsetzung von Volk und Leib –der sich aufgrund seiner organischen strukturellen Einheit im griechischen Verständnis zum System ausbauen sollte. Die jeweils örtliche kirchliche Glaubens-Gemeinschaft war so aufgrund Herkunft und Vernetzung eingebunden in die ‚Ekklesia‘ und bildete mit anderen im dialektischen Prozess von Wechselbeziehungen bis hin zum Erstarken als (Groß)Kirche nach Konstantin eine Einheit. Beim immerwährenden Streben ‚in und zur Einheit‘ war die Kirche auf die beiden komplementären Zielperspektiven von ‚Volk‘ -zeitgerechte Gottes-Beziehungs-Gestaltung- und ‚System‘ -Kirchen-Gestaltung ‚angewiesen und bedingte für Menschheit und Schöpfung zur steten Erhaltung, den (Selbst-)Anspruch eines heilsgeschichtlichen Selbstverständnisses. Die Kirche im hebräisch biblischen Verständnis verkörpert dabei die Weiterführung und Fortsetzung von Gottes Volk und wusste sich dazu mittels einer hierarchischen Ordo-Struktur im bzw. durch die Sakramente von Jesus Christus in Stellvertretung be-vollmächtigt. Sie wusste sich biblisch heilsgeschichtlich legitimiert durch die einstigen zwölf Stämme Israels, und führte als Kirche in Jesus Christus den ‚Neuen Bund’ mit Gott und in der Nachfolge und Sukzession der Zwölf Apostel die (neue) Heilsgeschichte fort, und verkörpert im Neubeginn das (neue) Volk Gottes. Damit einher ging ein Bedeutungswandel von „Volk Gottes“, das nicht mehr im alttestamentlichen Sinn ‚Familie Jahwes’ war, sondern im Geiste Jesu, Gottes geistliche und geistige Glaubens-Gemeinschaft all derer, die sich zu Jesus Christus bekennen, auf ihn getauft sind und ihm nachfolgen. Das innere Gerüst dieser Kirche bildet dabei ein durch Theologie und Klerus gestaltetes ‚System’, das die Christen bis zur Wiederkunft als das ‚neue‘ Volk Gottes und als Herde geführt in der Nachfolge durch die Erdenzeit bestehen wird bzw. soll.

Im ersten Jahrhundert geschah dies in den bereits erwähnten Parallelentwicklungen christlicher Gemeindebildung nebeneinander, deren eine sich auf Petrus mit verstärkt jüdisch-hierarchischer Ausrichtung berief und von Jerusalem ausgehend über Rom diese Form tradierte, die ihre Entwicklung in der katholischen Kirche dialektisch einerseits in der Nachfolge als Bischofs-Kirche (‚System’) oder als Kloster-Gemeinschaft (‚Communio’) erfuhr. Im ‚Volk Gottes’ der Christen trat durch die Reformation der Unterschied von katholischem Glaubens- und Kirchen-‚System’ und evangelischem Glaubens- und Gemeinde-‚Verständnis’ (orientiert an Communio) zutage und prägte sich zum konfessionellen Gegensatz aus. Zwar wurde katholischerseits im II Vatikanum das ‚Volk Gottes’ wieder zur Ausgangsbasis auch für kirchliche Funktionen und Ämter aufgrund des ‚gemeinsamen Priestertum’ gesetzt, doch diese konziliare, inner-katholische Vorgabe wurde auf der Bischofssynode 1985 der bestehenden hierarchischen Kirchenordnung des I. Vatikanums angepasst und somit die Chance einer ‚ökumenischen‘ Zukunfts-Lösung, um über das „gemeinsame Priestertum“ zur kirchlichen Einheits-Gestaltung als ‚Gottes Volk’ zu kommen, scheinbar ad acta gelegt d.h. ‚Volk Gottes’ (aller Christen) und ‚Papst-Kirche’ bestehen weiterhin nebeneinander. Das katholische ‚Volk Gottes’ ist entweder dem Ordo eingeordnet oder verharrt im strukturellen Dilemma: Volk-Gottes und Amts-Kirche (‚System’). „Die Ökumene selbst wird zur Gefahr, weil sie Beben verursacht. Übrig bleibt eine Ökumene der Unbeweglichkeit.“ (H.Häring, S.139) Ökumenisches Bemühen scheint daher gegenwärtig an dieser theologischen ‚Einbindung’ genauso zu scheitern, wie die Hoffnung (seit 1985) geschwunden ist, in der katholischen Kirche könne das ‚gemeinsame Priestertum’ von Laien und Klerus als Volk Gottes im Sinne des II Vatikanums gemäß dem CIC (Codex Juris Canonici/Kodex des kanonischen Rechts) die Kirche ‚von Unten her’ neu und ökumenisch gestalten d.h. in der evangelischen Parallele: ‚allgemeines Priestertum’ besteht dafür die gemeinsame Basis. Beide ekklesiologische Substanzen der Gläubigen (gemeinsames und allgemeines Priestertum) prägten seit fünf Jahrhunderte das christliche Volk und das konfessionelle katholische ‚System’ durch Abgrenzung und Ausschließlichkeitsanspruch. Entsprechend bestimmten kirchlicher Gegensatz und konfessionelles Gegenüber bis hin zu christlicher Fragwürdigkeit und konfessioneller Glaubwürdigkeit das interne Handlungsebene und die externe Präsentation von Gottes Gegenwart in dieser ‚Erdenzeit’.

Katholischerseits ist die „repräsentatio christi“ in der Erdenzeit klar gegeben und umrissen durch das Priestertum im System der Kirche. Es wurzelt in der Heiligen Schrift und ist hierarchisch dem gemeinsamen vorgeordnet. Theologische Arbeiten Joseph Ratzingers zeigen die biblischen Quellen auf und die Entwicklung des Weihesakraments in der kirchlichen Tradition auf. Es wird auf die besondere Vollmacht, die Christus dem Priester in der Weihe erteilt hingewiesen und der Priester sei nicht nur bloßer Amtsträger, dessen Rolle man erschöpfend beschreiben kann aufgrund seiner verschiedenen Funktionen. Priester sein bedeute vielmehr, „in persona Christi“ zu wirken, also zu handeln aus Seinem Geist und mit Seiner besonderen Berufung. Nachkonziliare Überlegungen zu neuen Konzepten, die Seelsorge und Seelsorger nicht von der Theologie, sondern von rein funktionalen Überlegungen her ableiten, werden bemängelt, da dabei das Verwurzeltsein des priesterlichen Amtes in der Heiligen Schrift und der Tradition der Kirche außer Acht gelassen wird. Männer, die den Dienst des Priesters für die Kirche und im Namen Christi tragen, haben insbesondere der Satz „Gott ist die Liebe“ mit Leben zu erfüllen, da sie als Priester „in persona Christi“ Zeugen dieser Liebe Gottes zu den Menschen sind. Ebenso kommt im Bekenntnis „Gott ist die Wahrheit“ beim Verkünden von Gottes Wort das paradoxale Phänomen zum Ausdruck, dass der Priester oft Größeres verkündet, als das, was er selbst zu verstehen vermag. Im Bewusstsein, „der Priester ist Zeuge der Liebe und Wahrheit Gottes im Wir der Kirche“, wie sich der Festakt zum 60. Priesterjubiläum von Papst Benedikt XVI. und seinen Mitbrüdern in Regensburg 2011 titelte, erhält dieser Zwiespalt seinen Ausdruck in der persönlichen Nachfolge wie im „Leib Christi“ selbst.

Das ‚System’/Leib Christi röm-katholischer Prägung erweckt den Anschein einer ‚geschlossenen‘ Nachfolge-Organisation mit hierarchischen Strukturen. Es hat sich zwei Jahrtausende gehalten und erhalten. Kirchengeschichtlich und dogmatisch wird dieser Sachverhalt nicht mit der soziologischen Begrifflichkeit ‚System’ bezeichnet, sondern ihm entspricht das Verständnis: Kirche als „Leib Christi“. Dem zugrunde liegt das Bild „Leib Christi“ nach 1 Kor. 12, 12-27 als das Miteinander von Menschen, die durch ein besonderes qualifiziertes Verhältnis zu Christus bestimmt sind. Doch der Epheserbrief ergänzt dieses Bild (Eph 4,12) bereits durch die Metapher von Christus als Leib und Christus als organisierendes Zentrum des Leibes, und erhält dann im Kolosserbief eine Art Auflösung in den Worten: Die Kirche ist der Leib; Christus ist das Haupt dieses Leibes (Kol 1,18). Die Verfasser der Paulinen verlassen somit das eigentlich griechische Grundverständnis von „Leib“ als einem einheitlichem Organismus, und sehen im Bild vom „Leib“ einen Zusammenhang zwischen Israel als Volk Gottes und der Kirche als (neues) Volk Gottes, wodurch eine ‚einseitige‘ Gewichtung oder eine Synthese zwischen beiden Denkweisen vonnöten war. Da der natürliche Weg der Umkehr des jüdischen Volkes zu Jesus Christus nicht erfolgte (vgl. Röm 11,23f), ist für Paulus jeder, der „in Christus“ Glied am Leib Christi ist, zugleich auch ein Nachkomme Abrahams. Damit musste ein Weg gefunden werden zwischen dem griechischen ‚Organismus‘ und dem hebräischen ‚Wachstum‘ der Ekklesia als „Leib Christi“. Dies hatte unterschiedliche Zugänge zu Christologie und zu Ekklesiologie zur Folge. Vom „Christusereignis“ ist die Kirche system-orientiert katholisch über das Volk Gottes ableitbar, bekenntnis-orientiert aber über Christus selbst evangelisch. „Im Epheserbrief steht die Kirche im Zentrum. Von ihr her wird das Christusereignis interpretiert. Friedrich Schleiermacher hat hier im 19.jahrhundert den Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten gesehen. Für die Protestanten sei das (individuelle) Verhältnis zu Christus entscheidend. Von daher entscheide und bestimme sich das Verhältnis zur Kirche. Für die Katholiken sei das Verhältnis des einzelnen Christen zur Kirche entscheidend“, resümiert Wolfgang Klausnitzer.(Klausnitzer, S.153) Steht der evangelische Christ in seiner Glaubens-Beziehung dem „Leib Christi“ gegenüber und ist ihm zugleich ‚unsichtbar’ eingebunden, ist der Katholik im ‚System‘ Kirche beheimatet und erhält sakramental das göttliche Heilshandeln wie auch seine Kirche, die in Stellvertretung Christi durch Handauflegung und Sukzession Gottes Geist im Volk Gottes empfängt und weitergibt.

Durch die Unfehlbarkeitslehre des I Vatikanums wurde dies kirchlich zeitlich so gesehen: in steter Gottes Gegenwart handelnd, und festgemacht in der zeit-überdauernden Ordnung des hierarchischen Ordo-Systems. Inzwischen besitzt ‚Gottes Gegenwart’ bei dieser Sichtweise: hierarchisch von Oben nach Unten die Leitung und das Recht, hat sich aber als „System“ inzwischen eine entwicklungsbedingte un-zweitgemäße ‚patriarchale‘ Wirksamkeit verschafft und entfremdet sich zusehends von der Basis des ‚mündigen’ „Volk Gottes“. Diese amtliche und hierarchische Gestaltungsform der Kirche war bisher, seit der Anpassung unter Kaiser Konstantin für zweitausend Jahre ‚vorteilsgelegen’ und schlagkräftig gewesen, wenn es um das gesellschaftliche Zusammenleben, um die (katholische) Verantwortung für Staat und Kirche, um die geistlichen und weltlichen Mächte und ihre Herrscher ging. Das ‚System‘ hatte eine Ordnung, die als gottgewollt verkündet, verstanden wird und so auch seine heilsgeschichtliche Bedeutung und Gewichtung erhalten. Diese Grundgestalt „ist und bleibt“ jedoch „nach katholischem Selbstverständnis für alle Kirchen normativ“. Sie gründet „in einer überzeitlich ruhiggestellten Überwelt, die der unsrigen gegenübersteht und als Weltkirche alle anderen überragt. Wie Ratzinger ausdrücklich betont, lautet die wahre Rangordnung der Wahrheitsfindung: (1) Glaube des Gottesvolkes, (2) Lehramt, (3) Bekenntnis/Dogma (4) Schrift, nicht umgekehrt. Denn die Bibel gelte nur als Buch der Kirche“ (H.Häring, S.133). In diesem Selbstverständnis kirchlicher Ordnung steht die Kirche als Herde seit zweitausend Jahren, wie es Anfang des letzten Jahrhundert Pius X in seiner Enzyklika „Vehementer nos“ (11.2.1906) niederschrieb: „Nur die Versammlung der Hirten hat das Recht und die Autorität, zu lenken und zu regieren. Die Masse hat kein anderes Recht, als sich regieren zu lassen, als eine gehorsame Herde, die ihrem Hirten folgt.“

Die Glaubensgemeinschaft ‚Kirche’ steht bei dieser Betrachtung als Synonym zugleich für das ‚Volk Gottes’ wie für das ‚System’, d.h. für die Organisation der Nachfolge, um ihrer Sendung gemäß der Lehre entsprechend effektiv zielorientiert handeln zu können. Wie selbstverständlich gehört jede/r Getaufte dieser Herde an und ist von Geburt an dieser Herde eingebunden; jeder Christ ist Teil von Kirche und Volk Gottes, doch einzig seine Zuordnung beim ‚Wie‘ offenbart die ‚Nachfolge-Organisation’ oder den ‚Organismus zur Nachfolge’ im Sinne von ‚Leib Christi’, ob dies eher gemäß den Sachgesetzlichkeiten des ‚Systems’ oder nach den Lebensbedingungen als ‚Communio’ erfolgen kann, sei es bei einer Bischofs-Kirche oder bei der Glaubens-Gemeinschaft, sei es in der Orts-Kirche oder einer Ordens-Gemeinschaft. Die Gretchenfrage ist dabei: Ist beim ‚Leib Christi‘ das Volk Gottes die Voraussetzung, oder verhält es sich umgekehrt. Katholisch lassen sich beide Ansätze wiederfinden. Das ‚Volk Gottes’ geht dem ‚System’ voraus, das als Kirche mit lehramtlichen, altkirchlich legitimierter Schriftauslegung ausgestattet ist. Denn im 2.Vatikanum wurde vom Volk Gottes ausgehend, allen Christgläubigen das Priestertum aller Gläubigen als „gemeinsames Priestertum“ zugesprochen, das bei Luther als Adäquat sich im „allgemeinen Priestertum“ wiederfindet. Wie bekannt ist Luther ein dem katholischen „System“ entsprechendes Kirchenverständnis fremd. In seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation (1520) bestritt er die Lehrautorität des Papstes und verwarf die Mittlerrolle der Geistlichen zwischen Gott und den Menschen. In Glaubens- wie in Kirchenfragen hat Luther die Menschen aus traditionalen Bindungen befreit –nicht jedoch im weltlichen Bereich. In seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit“ (1523) begriff er diese als von Gott eingesetzt, um den Bösen zu wehren, damit ‚äußerlich Frieden herrsche und sich unter diesem Schutz das Evangelium, das göttliche Regiment entfalten könne. Er widersprach der gängigen Auffassung, die geistliche Macht stehe über der weltlichen und legte mit seiner „Zwei-Reiche-Lehre“ die Grundlage, weltliche Gewalt unangreifbar zu machen. Von Paulus griechisch geprägtem ‚Leib’-Verständnis und seiner pastoralen Praxis von Gemeindeaufbau und –gestaltung ist Luthers Sicht beeinflusst und theologisch begründet. Paulus bürgt seiner Überzeugung gemäß für das ‚richtige‘ Glaubens- und Kirchenverständnis.

Aber bereits in der Alten Kirche sind viele Problemfelder nachweisbar, in denen sich das Bemühen um die Einheit der Christenheit manifestiert wie bei Osterdatum, bei der Sittenstrenge und Bußdisziplin oder christologischen und trinitarischen Streitigkeiten (siehe Klausnitzer, S 199ff) Auch heute ist dieses Problemfeld unterschiedlicher Kirchen und Konfessionen oftmals noch dem Minenfeld im Dialog oder Monolog bei der Wahrheitsfindung der jeweiligen Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft ausgesetzt. Die Frage ist daher berechtigt, inwieweit konfessionelles Glaubensverständnis und –gesetz ökumenisch ‚der Liebe’ um der Einheit willen bedürfen, wenn der Glaube letztlich um seiner selbst willen nicht nur zu Trennung und Spaltung führt und geführt hat, sondern diese auch nur bedingt beheben kann, wie dies z.B. beim Amts- und Eucharistieverständnis zwischen Luthertum und Katholizismus der Fall ist. Denn beim katholischen Verständnis von Transsubstantiation und apostolischer Sukzession bedarf die Kirche des authentischen Weihe-Priestertums, sonst kann es im eigentlichen Sinn keine sakramentale Eucharistie geben. Zur Gewährung eucharistischer Gastfreundschaft selbst gibt es eine ausreichende theologische Basis in den bereits vorliegenden Ergebnissen der ökumenischen Dialogkommissionen, doch entsprechende Memoranden fanden in Rom bisher kein Gehör, da eine Grundentscheidung für Ordnung und Stabilität, Tradition und Autorität in Rom eben vom katholischen ‚System’ ausgeht. (vgl dazu: H.Häring S. 126-142, in: Sommer/Seiterich)

Das ‚katholische System’ ist daher im „Volk Gottes“, das mehr dem Liebesgebot als der Glaubensnorm zugeordnet werden kann, wieder auf die Füße des „gemeinsamen Priestertums“ zu stellen. Die bisherige hierarchische, sakramental-feudale Verantwortungs- und Herrschaftsform der Papst-Kirche ist zu entzaubern und einzuschränken durch die Glaubens-Gemeinschaft aller Menschen guten Willens im Glauben an Jesus Christus: Volk Gottes. Der Verfestigung des I.Vaticanums mit der Lehre vom römischen Papst als dem unfehlbaren Oberhaupt der Kirche für eine Kirche, die beinahe ausschließlich juridisch-hierarchisch dargestellt wurde, ist ein katholisches Umdenken und Umstrukturieren angesagt.

Die beliebte Kirchenmetapher „Leib Christi“, die bei Augustinus eucharistisch ausgelegt wurde, weil die Eucharistie die Christen zum „wahren“ Leib Christi zusammenführte, sah man im 12.Jh. als zwei Wirklichkeiten an: Die eucharistische Gestalt als der „wahre Leib„ Christi und die Kirche wurde zum „mystischen Leib“. Dies ist heute wieder als ein „wahrer Leib“ der Einheit gemäß zu verstehen und das Liebes-Gebot (ver)eint die Kirche ‚funktional‘ und global-katholisch als „Communio“, um mit ihren vielen Gliedern konfessioneller Funktionen und Glaubens-Verständnissen im „Mystischen Leib“ zu leben. „Das Mysterium der Kirche“ (LG, Kap 1) ist Teil des „Mysteriums“ Gottes und birgt eine Souveränität des „Volkes Gottes“, die im „gemeinsamen“ bzw. „allgemeinen“ Priestertum verankert ist. Auf ihr basieren die hierarchischen Stufen des Ordo: Diakonat, Priester- und Bischofsamt. Aus einer ‚gehorsamen‘ Herde wird in der Nachfolge Christi ein einzig ‚mündiges’ Volk Gottes der „Kinder Gottes“ von Schwestern und Brüdern. Die Kirche ist nicht des Papstes Eigentum, sondern sie ist Eigentum und Instrumentarium von und für Gottes Volk. Eine missverständliche oder über-verantwortliche Selbstherrschaft des Papsttums bedarf der Erlösung durch das gläubige Volk. Die Stellvertretung Christi auf Erden ist dem Volk Gottes entsprechend im Geiste Christi zu erfüllen. Papst und Bischöfe sind Gottes Diener und Statthalter in Gottes Volk. Das kirchliche Herrschaftsgefüge ist stets neu durch Frauen und Männer im Geist Christi zu erbauen und eschatologisch ausgerichtet. Kirchliche Macht und Herrschaft sind so zu gebrauchen, die Kirche als Gemeinschaft des Glaubens in ihrer Beziehung zu Gott sakramental zu festigen, und um in Liebe zu leiten und Einheit zu schaffen.

Der Geist Gottes könnte dabei weniger dem ‚System‘ verpflichtet sein als vielmehr in der gemeindlichen und kirchlichen Gestalt von ‚Communio’ wirken. Diese bei Paulus verankerte eher hellenistisch-charismatische Art von Gemeindeleben diente ihm einst der besseren Anpassung von Glaube und Gemeinschaft an die hellenistisch geprägte Kulturwelt. So versuchten Gemeinden damals dem christologischen und missionsbedingten Sendungsauftrag im Sinne des Apostel Paulus gerecht zu werden. Die Theologie des Paulus orientierte sich am ‚Volk-Gottes’ – Verständnis des AT, das auch dem Communio-Verständnis des NT im ‚Neuen Bund‘ eigen ist. Es ist davon auszugehen, diese durch Paulus bedingte Form kirchlicher Glaubens-Gemeinschaft orientierte sich an Funktionen und Diensten gemäß dem ‚Leib Christi’, wie in 1 Kor 12,12-31 beschrieben. Nachfolge wurde hier als persönlicher, individueller Einsatz bei Aufbau und Gestaltung von Gemeindeleben gesehen mit den je eigenen, spezifischen Charismen, Fähigkeiten und Bemühungen. Gemeinde versteht sich demgemäß als eine ‚Dienst-Gemeinschaft’ im Miteinander und Füreinander auf dem Weg der Nachfolge. Doch dieses Communio- und Kirchenverständnis des Paulus ist alsbald der gemeindechristlichen Lehre angeglichen worden, die den Gemeinden das überlieferte Bekenntnis vor Augen stellte, das im Laufe der ersten Jahrhunderte griechisch systematisiert, verkündet und tradiert wurde. Menschen mit einer radikalen Lebensweise als Einsiedler, dann als Mönche und in Ordens-Gemeinschaften mögen im Sinne des Apostels Paulus versucht haben im Organismus kirchlicher Gemeinde und der Kirche selbst, so ihre spezifischen, differenzierten Aufgaben und Funktionen zeitgerechter Christus-Nachfolge zu gestalten. Ihrem Zusammenleben diente dabei das eher dem griechischen Verständnis entnommene Communio-Modell, um ihre Lebensweise gemeinschaftlich im Miteinander und Füreinander einzusetzen. (vgl. dazu die Regel des Benedikt) Das paulinische Communio-Verständnis hat wahrscheinlich aus praktischen Gründen dank seiner stärkeren charismatischen und funktionalen Ausrichtung für kleinere Gemeinschaften und Gemeinden eher der Lebens- und Glaubens-Praxis in mönchischen Gesellungsformen entsprochen und bot sich für eine radikale Lebensweise zur besseren Umsetzung und Beheimatung an. Nach Ursprung und Wirkung konnte dies sich beim Einzelnen stetig anpassen und reformieren, und bot sich als Garant für die Glaubwürdigkeit von Gottes Gegenwart an. Um der Lebensweise und zielgerichteter Funktionalität willen, wurden diese Gemeinschaften selbst streng hierarchisch geführt, und man versuchte als Gruppe, Teil, Kloster-Gemeinschaft so radikal Lebensformen in der Nachfolge Jesu Christ zu finden und umzusetzen.

Die Kirche selbst verstand sich dabei als Volk Gottes und sichtbarer ‚Leib Christi’. Sie wurde aber, durch Petrus und den Apostelkreis bedingt, wie bereits erwähnt, als Nachfolge-Organisation in die hierarchische Grundstruktur eingebunden. Die Hierarchieform katholischen Ämterstruktur und mit dem einheitsorientierten Papsttum setzte sich gegenüber der stärker an Bekenntnis und Einzelgemeinde ausgerichteten paulinischen Kirchengestaltung durch. Die Handlungseinheit erwies sich über fast zwei Jahrtausende als die beste und praktikabelste Weise für ein effektives und ‚zeitunabhängiges’ Umsetzen christlicher Sendung und Mission, was z.B. bei der Gegenreformation durch strenge Disziplin und straffe Organisation dem Jesuitenorden als einem durchschlagenden Instrumentarium zu verdanken ist. Die einstige ‚griechische’ Ausrichtung von Gemeinde-Bildung haben in dieser Epoche die Reformatoren übernommen, erneuerten die Kirche als Gesamtheit und verhalfen dem paulinischen Prinzip als ‚Volk und System’ neben dem petrinischen in der abendländischen Christenheit zu Geltung und neuer Beheimatung im Glauben durch die reformatorischen Bestrebungen des 15. Jahrhunderts.

In der Renaissance diente die griechische Antike der geistesgeschichtlichen Neufindung des Abendlandes, die mit der Reformation neue geistige und christliche Denker und Führer erhielt. Gottes Gegenwart erhielt in neuer Weise ihren geistig-geistlichen Einfluss dank theologischer Neuakzentuierung und eines kirchlichen Neuansatzes. Luther folgte auch bei seinen Überlegungen zu Glaube und Kirche den Gedankengängen des Paulus. Nicht dem katholisch hierarchischen Verständnis und Prinzip, sondern dem individuellen und synodalen galt sein Wort, wie bereits beschrieben. Glauben und Bekenntnis jedes Einzelnen gemäß der ‚Freiheit des Christenmenschen’ waren gefordert. In Konsequenz der Zwei-Reiche-Lehre lehnte er seine Kirche – als irdische Größe – an die staatliche Macht an und konnte so in Obhut der weltlichen Macht das paulinische Prinzip der Dienst-Gemeinschaft gegenüber dem eigenständigen hierarchischen katholischen Prinzip behaupten, neu beleben und entwickeln. Ihm und den anderen Reformatoren seiner Zeit, von Calvin über Zwingli bis später hin zur vielfältigen wie vielseitigen Verlebendigung durch evangelisch-reformatorische Glaubens-Gemeinschaften ist man dem ‚griechischen’ Kirchenverständnis und entsprechender Systematisierung in der Bekenntnisvielfalt ‚evangelischer Kirchen’ ein Teil von Gottes Volk und der Reich-Gottes-Botschaft Jesu treu geblieben. Im Geiste des ‚Leibes Christi’ nach Paulus bergen diese Kirchen einen lebendigen, weniger in Traditionen erstarten Organismus, der den Auferstehungsglauben im Geiste Jesu Christi situativer vergegenwärtigen und lebendig werden lassen kann. Die stete Sehnsucht und Hoffnung nach dem glaubwürdigen und handlungsfähigen ‚Wie’ kirchlicher Gesamtheit und Einheit von Kirche bleibt dabei freilich im paulinischen Kirchenbild aus strukturellen Gründen eine eschatologische Größe.

Mit der Aufklärung erfolgte dann für den abendländischen Menschen wie das kirchliche Volk Gottes evangelischer wie katholischer Prägung eine wachsende Kollektivierung im Glaubens-Verlust wie in der Glaubens-Rationalisierung. Führte der Glaubens- und Gemeinschaftsansatz bei Luther gleichsam ‚griechisch’ stärker zu einer Individualisierung des Glaubens und zur Kollektivierung im Bekenntnis, erfasste nun das individualisierte ‚griechische’ Ja oder Nein der Vernunft das persönliche Bekenntnis des Menschen zu Gott oder es lehnte diese Beziehung ab. Damit wurde aus einer ‚hebräischen’ Beziehung zwischen Gott und Mensch eine ‚griechische’ Entscheidung, ob Gott für den Menschen im Kosmos, in seiner Raum–Zeit auf Erden existent ist oder nicht. Die menschliche Freiheit entschied, an Gott zu glauben oder ihn abzulehnen. Katholischerseits stellte das Erste Vatikanum in einem Beschluss vom 24.4.1870 dieses freiheitliche Können und Vermögen der Vernunft heraus, aber zugleich in die Verantwortung der Kirche d.h. des Lehramtes, wenn es festhält: „Dieselbe heilige Mutter Kirche hält fest und lehrt, dass Gott, der Ursprung und das Ziel aller Dinge, mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus den geschaffenen Dingen gewiss erkannt werden kann.“

Diese persönlichste und privateste Freiheits-Entscheidung des Menschen verweltlichte sich als Aufklärung, kollektivierte sich in der französischen Revolution und gewann mittels der ‚Vernunft’ das bestimmende Sagen beim Gestalten der weltlichen Verhältnisse. Aufklärung und Säkularisierung wirkten wider der bisherigen abendländischen Prägung des Glaubens und einer Identifikation mit Kirche. Zugleich baute sich eine neue anthropozentrische Weltsicht wie Herrschaftsweise auf, die sich von der ‚Göttin Vernunft’ gleichsam ‚griechisch’ leiten und bestimmen ließ bzw. lassen musste. Die einst hierarchisch-monarchische Herrschaftsstruktur, die das Volk beherrschte, kehrte sich um und verwandelte das Herrschaftssystem von der Hierarchie hin zu einer Herrschaftsform des Volkes, zusehends demokratisch, was sich am griechischen Vorbild orientierte. Dass in diesem Prozess die Kirche strukturell nicht mitzog, bzw. noch nicht mitziehen konnte, kann als Mangel im aufgeklärten Geistesleben gesehen werden, aber auch als Verdienst, über die weiteren Jahrhunderte hinweg glaubenden Menschen eine geistig-seelische und kirchliche Beheimatung gesichert zu haben. Im ‚dialektischen’ Herrschaftssystem von Staat und Kirche gewährleisteten so in Europa die Kirchen, dass christlicher Glaube geistige Stabilität und geistliche Innerlichkeit anbot. Das gesellschaftliche Handeln konnte den Postulaten der Aufklärung von Freiheit und Gerechtigkeit nachstreben, und die den ‚verdeckten’ hebräischen und griechischen Ursprüngen gemäßen Werte wie Menschenrechte und Menschenwürde, persönliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit wuchsen zum künftigen globalen Menschheits-Gut an, obgleich das nationale wie kirchliche Volk damals geistig durch die Wirren und das Chaos der Aufklärung und materiell durch Industrialisierung und das Proletariat zutiefst erschüttert wurde, und vielen Menschen Kirche und Glaube wert- und nutzlos erschienen.

Für die katholische Kirche als ‚System’ und ‚Volk Gottes’ spitzte sich im Selbstverständnis und in ihrer Identität dies auf die Zukunft zu, da sie in dieser säkularisierten, ‚gott-freien’ Zeit des 19.Jahrhundert geistig, seit Luther konfessionell partiell geworden war, doch -gemäß tradiertem Selbstverständnis- sich für die kollektive Volk-Gottes-Beziehung verantwortlich sah und sich diese zeitbedingt inzwischen zu einer Bekenntnis- und Entscheidungsfrage d.h. zur persönlichen Entscheidung: Ja oder Nein gegenüber einem tradierten kirchlichen System geworden war, was sich dann bei der Unfehlbarkeitsaussage des Ersten Vatikanums zeigte. In der Säkularisierung waren bereits die weltlichen Systeme der abendländischen Gesellschaft von einer ‚gott-freien’ Weltsicht, wie Weltverantwortung erfasst worden und bestimmten zunehmend die staatlichen Herrschafts-Systeme. Diesen weltlichen Mächten gegenüber bedurfte die Kirche im Papsttum einer Leitungs- und Herrschafts-Legitimation, was sich durch das ‚System’, dem der Papst vorstand, einlösen ließ. Den weltlichen Herrschern gegenüber verkörperten Papsttum und Hierarchie die ‚irdische’ Stellvertretung Gottes, war darin legitimiert und bürgte zugleich für das Volk Gottes nach ‚hebräischem’ Beziehungs-Verständnis. Die katholische Kirche begann so folgerichtig mittels des Ersten Vatikanums ihr kirchliches System in der Hierarchie zu fundieren und zu festigen und gab dem Papsttum seinen Primatsanspruch in der Leitung und Entscheidungskompetenz bei Glaubens- und Sittenfragen. Das ‚System’ von Papsttum und Hierarchie hatten dem ‚Volk Gottes’ zu dienen; trugen ‚stellvertretend’ für Christus eine Fürsorgepflicht für das Denken und Handeln der Kirche und waren im katholischen Glauben ‚amts-verantwortlich’.

Dies änderte sich mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und seitdem bewegt sich das ‚Volk Gottes’ wieder in diesen beiden theologischen wie kirchlichen Strömungen von ‚System’ und ‚Communio’ vorwärts. So wollen die einen über die Neuerungen hinausgehen und verlangen mit Berufung auf den Konzilsgeist weitere Reformen. Die anderen beklagen die scheinbaren Missstände und Abwege des Konzils in Liturgie und Theologie. Zu pastoralen Negativ-Folgen scheinen sich Vorgaben der Amts-Kirche in unserer aufgeklärten und säkularisierten Gesellschaft mit den pastoralen Notwendigkeiten im katechetischen und diakonischen Bereich zu ‚verketten’ und im ‚System’ der bisherigen Nachfolge-Organisation selbst lässt sich das mündige Volk durch Vertreter der Hierarchie immer schwerer beheimaten, geht auf Distanz und läuft ungehorsam davon. Zugleich ‚verblutet’ das im Glauben mündige Volk von Laien und Klerus in einer ‚Dienst-Organisation’, die zusehends zum Dienst-leistungs-Betrieb in Sache Glauben ohne Nachhaltigkeit zu mutieren scheint. Das nachkonziliare katholische Dilemma verschärfte sich gegenwärtig nochmals mit der Rücknahme der Exkommunikation und durch die Haltung der Piusbruderschaft, die sich petrinisch in römisch-katholischem Recht und Verantwortung sieht. Dass die Hierarchie selbst scheinbar im ‚Teufelskreis’ dieses Dilemma und ihrer beiden Konzilien steckt, charakterisiert Guido Horst treffsicher: „Mit Begeisterung hatte sich der katholische Episkopat auf dem Konzil der Welt geöffnet – und die kehrte sich wenig später auf dem Absatz um, und ließ die Kirche im Regen stehen … Es galt als weltfremd, ein gläubiger Mensch zu sein. In einigen wenigen katholischen Medien schuf sich die Kirche Nischen, die sie noch für sich beanspruchen konnte.“ Johannes Paul II hatte dann seine Aufgabe darin gesehen medial und glaubwürdig bis zu seinem Tod „die Kirche aus dem schattigen Abseits, in die sie durch das Konzil geraten war, wieder in die Öffentlichkeit herauszuführen und an der Spitze einer weltumfassenden Freiheitsbewegung den Kampf gegen den atheistischen Kommunismus zu führen. Der Kirchenrechtlerin Sabine Demel ist zuzustimmen, wenn sie schreibt: „Das Hierarchiemodell steht für das Kirchenbild, wie es auf dem I.Vatikanischen Konzil (1870) vertreten wurde, das Communiomodell dagegen als Versuch des II.Vatikanischen Konzils, die Einseitigkeiten des Hierarchiemodells durch die Rückbesinnung auf die biblische und urkirchliche Tradition der Kirche als Gemeinschaft und als Volk Gottes aufzubrechen und zu korrigieren … Im sog. Hierarchiemodell des I.Vatikanischen Konzils ist der Papst der absolute Bezugspunkt für die kirchliche Gemeinschaft, und ausschließlich die geweihten Amtsträger sind die einzig Handelnden, gleichsam die alleinigen Protagonisten in der Kirche, während die übrigen Gläubigen reine Zuschauer, gleichsam Statisten sind, ganz und gar von den Aktionen und Entscheidungen der Protagonisten abhängig. Im Gegensatz dazu gibt es im neuen Kirchenbild, dem sogenannten Communiomodell (das im Vortrag teils auch als Dienst-Gemeinschafts-Modell bezeichnet wird) des II.Vatikanischen Konzils, keine Statisten mehr, sondern alle, die geweihten Amtsträger wie die Gläubigen, sind Protagonisten, die in einer lebendigen und wechselseitigen Beziehung zu- und miteinander stehen, so dass die Entscheidungen des Papstes wie auch alle weiteren Entscheidungen der geweihten Amtsträger nicht im Alleingang, sondern in Rückbindung an die Gemeinschaft und ihre Tradition sowie im Bemühen um einen Konsens getroffen werden“. (Sabine Demel, S.25f) Die Frage drängt sich auf, ob die Kirche, die im Hierarchiemodell schwerlich innerkirchlich dialogfähig ist, gerade durch das Communio-Modell die Chance zum Dialog erhielt, um im dialogwilligen Miteinander einen zukunftsfähigen Weg auch in der Ökumene zu finden, diesen aber inzwischen wieder verlassen hat.

Die eindimensionale kirchliche, hierarchische Handlungsweise der Amts-Kirche d.h. des ‚Systems’ für das Volk Gottes, was im II Vatikanum durch den Neuansatz ‚Volk Gottes’ als Kirche Christi der röm-kath. Kirche u.a. auch die anderen kirchlichen Gemeinschaften mit ein bindet, wurde wieder unterbunden wie Elmar Klinger schreibt. Zudem scheinen Papsttum samt Kirche, wie es in einem gleichnamigen Buch beschrieben wird, mit Papst Benedikt „eine Rolle rückwärts“ zu machen. (siehe: N.Sommer und T.Seiterich, Rolle rückwärts mit Benedikt) Der Fundamentaltheologe Elmar Klinger gibt zu bedenken, dass inzwischen „das Volk Gottes hinter der sogenannten communio nicht nur verschwunden, sondern mit ihr gezielt bekämpft wird“ (Klinger/Bucher, Mich hat an der Theologie immer das Extreme interessiert, S.71). Diese Kehrtwende im Umgang mit dem Zweiten Vatikanum macht er mit dem Jahr 1985 fest, mit der Bischofssynode in Rom, die sich ausdrücklich mit dem Konzil beschäftigt hat, und unter Federführung des von Ratzinger und Kasper ein Abschlussdokument erstellte. In ihm wurde die „Communio-Ekklesiologie“ zur zentralen und grundlegenden Idee der Kirche. „Im Staatsstreich von oben“ wurden maßgebende Konzilsdokumente dazu außer Kraft gesetzt. Aus einer ‚Communio-Theologie’ des II.Vatikanums scheint eine „Communio-Ekklesiologie“ gemacht worden zu sein, die der hierarchischen Ordnung des I.Vatikanums eingebunden wurde und nun keinen Standpunkt des II.Vatikanums, sondern eine Alternative, „ein Mittel zur Kastration“ darstellt, wie Klinger schreibt. Denn diese Ekklesiologie ist „ein Versuch, auf institutioneller Ebene nach institutionellen Maßgaben die hierarchische Ordnung in die kirchliche Landschaft einzubinden“. (Klinger/Bucher, S.24f) Die paulinische Synodal-Linie: Volk Gottes – kirchliches Amt, die im II. Vatikanum aufgenommen wurde, scheint wieder in die petrinisch-patristische Linie Kirchen-Amt für das Volk Gottes im Sinne und in der Tradition des I.Vatikanums zurückgeführt worden zu sein.

Damit stehen dann freilich auch zwei unterschiedliche Wahrheitsverständnisse unvereinbar sich gegenüber, das Lehramts-Verständnis von ‚Kirche als Volk Gottes‘ gemäß I Vatikanum und Kirche im Volk Gottes gemäß II Vatikanum. Denn die Wahrheitsfrage beim Wahrheitsverständnis –griechisch und hebräisch bedacht- ist eigentlich aus beider Sicht, jeweils unterschiedlich, ‚unvereinbar’ und entgegengesetzt. So ist davon auszugehen, dass Joseph Ratzinger als ‚Glaubenshüter’ in seinen Überlegungen konsequent richtig amts-kirchlich denkt und entscheidet –auch wenn dies die Kirche immer mehr die Kirche strukturell platonisch in eine Sackgasse hineinführen mag. Heinrich Kraft hat in einem Artikel über „die Paradoxie in der Bibel und bei den Griechen“ darauf hingewiesen, dass wir es in der Bibel bei der Wahrheit mit dem Handeln zu tun haben, weniger mit dem Wort/Logos, und deshalb Wahrheit in der Zeit verankert ist und so durch Geschichte d.h. letztlich auch als Heilsgeschichte verifiziert bzw. falsifiziert wird. Doch Kirche ist theo-logisch ein strukturiertes System und Lehrgebäude rationaler und logischer Art, d.h. sie ist gleichsam ‚geschichtsfrei’ bzw. letztlich im Handeln biblisch gesehen geschichtslos im Verhältnis von amts-kirchlichem Volk Gottes und erlösungs-sehnsüchtiger Welt auf der Handlungsebene. Denn bei den Griechen ist die logische, denkerische Vorgehensweise systematisierend, und der Wahrheitsprozess als Erkenntnisprozess ist, da geistiger Art, dem Wort/Logos zu- bzw. eingebunden, und somit kein Handeln, was der Geschichte zu eigen wäre. „So wird die Beziehung zwischen Wahrheit und Geschichte im biblischen Denken und im Denken der Griechen entgegengesetzt bestimmt. Für die Griechen ist die Geschichte der Bereich, in dem es Wahrheit nicht geben kann; in der Bibel gibt es Wahrheit ausschließlich in der Geschichte“ (Heinrich Kraft, S 266, in: Paul Geyer/Rolad Hagenbüchle, Das Paradox, Stauffenburg Verlag 1992). Daraus wird ersichtlich, warum Benedikt XVI sich in der Gedankenlinie: Geist Gottes im Volk Gottes bzw. als das Volk Gottes das Alten Bundes bewegt, was beim Volk Israel Aussagen prophetisch, geistbegabter Mahner zur Vorgabe für alle (Kollektiv) machte und sich durch die Väter in den ersten beiden Jahrhunderten im ‚Neuer Bund‘ des ‚Volkes Gottes’ primär in Kirche und Amt (System) verfestigte und nicht in Kirche und Charisma (Communio). Nur so konnte die Nachfolge-Organisation: Kirche hierarchisch strukturiert in einem zweitausendjährigen ‚elfenbeinernen Turm’ als Heilsgeschichte des ‚Neuen Bundes‘ Gottes Geist wider den Strömen der Zeit sakramental verkünden und spenden. Belegend lässt sich darauf hinweisen, dass ‚griechisch‘ gesehen, fürwahr der Relativismus den Zeugen-‚Stand‘ einer amts-kirchlich und lehr-amtlich geprägten römisch-katholischen Kirche, die ja ‚griechisch’ denkt und handelt, sich im Innersten in der biblischen-hebräischen Beziehung Gott-Mensch verankert und somit im Geist Gottes gleichsam im Heil wider allem Relativismus in der Wahrheit und Wahrhaftigkeit weiß. Dass dabei Geist Gottes und ‚Heilsgeschichte’ unglücklicherweise zugleich ‚eingepfercht’ wurden, ist ein anderes Thema. Im II Vaktikanum haben die Getauften im Volk Gottes als Kirche Christi scheinbar mit/über das Volk Gottes ‚Atem und Befreiung’ erspürt. Dieser Sprengsatz kirchlicher Wahrheitsfrage in einer heilsgeschichtlichen ‚Entwicklungsstufe‘ stand jedoch dem Wahrheitsverständnis der Amts-Kirche mit seinem Geist-Gottes-Verständnis entgegen. Denn diese wäre zunächst beim einzelnen Getauften im Volk Gottes verankert und nicht im Kollektiv von (Amts)Kirche, was vermutlich weder platonisch noch lehramtlich zu ‚bändigen’ wäre.

Nach dem II.Vatikanum offenbarte die Kirche sich im ‚dialektischen Prozess’ von ‚System’ und ‚Volk Gottes’, sowie ‚System’ und ‚Communio’ und offenbart den Widerspruch, theologisch eine neue ‚hebräische’ Gewichtung von Gottes-Beziehung und Gottes Gegenwart von ‚unten’ her über das ‚Volk Gottes’ wirksam werden zu lassen und ‚dort’ wie außerhalb der Kirche Gottes Geist wirken zu lassen, d.h. die heilsgeschichtliche Wirklichkeit und der Ort, wo kirchlich der Geist Gottes wirkt, was bisher in der römisch-katholischen Kirche nur dem ‚System’ vorbehalten war, trat in den Widerspruch bzw. Wettbewerb mit einer Art ‚Communio’ als System, in der Taufe und ‚gemeinsames Priestertum’ als Grundlage für kirchliche Mündigkeit und Mitverantwortung von Laien und Klerus dienten. Das ‚Volk’ oder säkular auch als ‚Wir sind Papst’ (2005) postuliert, forderte so sein Recht und seine Verantwortung ein, des kirchliche System zu gestalten bzw. um-zu-gestalten. Dank einer ‚griechisch’ aufgabenorientierten Weltverbundenheit, wie Weltverantwortung führte dies beim II Vatikanum bereits zur Gewichtung des Laienapostolats und zur Neuverankerung kirchlicher Mitverantwortung für den Klerus- wie den Laien-Stand. So standen in der Kirche neben dem hierarchischen Ordnungsprinzip der ‚Nachfolge-Organisation’ eine paulinisch geprägte ‚Dienst-Gemeinschaft’ (Communio) theologisch gleichwertig, wenn auch kirchen-politisch nachrangig im Ringen um die verantwortbare Leitung, um im Miteinander ‚Gottes-Herrschaft auf Erden’ durch eine neue Glaubens-Gewichtung beim Einzelnen und ein einsichtiges Glaubwürdigkeits-Streben als ‚System’ zu erlangen. Diese eher ‚griechisch’ agierende Kirchenform versteht sich zunächst nicht vom hierarchischen Amt her als vielmehr von ihren kirchlichen Diensten und Funktionen für die Einheit von Kirche und das Heil in unserer Welt-Gemeinschaft.

Ein Weg in die Zukunft: Jedem Christen, insbesondere dem Katholiken stellt sich heute die Gretchenfrage, wo und wodurch behindert seine Glaubens-Gemeinschaft durch ihr hierarchisch geprägtes System eine zukunftsfähige und hoffnungsvolle Kirchen- und Welt-(Mit)Verantwortung. Ist es bei der katholischen Kirche das sakramentale Heilsverständnis von Gottes Geist und stützt ihre Verwaltung und Gestaltung letztlich ein kirchliches ‚System’, das inzwischen bei den säkularisierten Vorgaben zur Erschwerung bis zur Verunmöglichung einer zeitgerechten und glaubwürdigen Reich Gottes Botschaft beiträgt. Und die Frage schließt sich an, wie lässt sich eine handlungsfähige kirchliche Form als/im/für das Volk Gottes aus einer gegenwärtigen vielfach ‚paradoxalen’ Wirklichkeits-Vorgabe beider Kirchenformen (petrinisch und paulinisch) denken, gestalten und verantworten.

Inzwischen sind das atheistische Herrschaftssystem des Kommunismus zerfallen, und durch die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise das materialistische Beherrschungssystem des Kapitalismus zu einer relativen Macht auf Erden geworden. Die Kirche aber dreht sich in Auftrag und Selbstverständnis gleichsam im ‚Volk Gottes’ um die eigene Achse zwischen ‚himmlischer’ Mündigkeit und ‚irdischer’ Mitverantwortung. Dem Volk Gottes scheint das passende ‚kirchliche Gefährt’ zu fehlen, Gottes Gegenwart zeitgerecht zu offenbaren und weltgesellschaftlich sichtbar werden zu lassen.

Die gegenwärtige päpstliche Verantwortung, in der Benedikt XVI steht, rückt gewiss die theologischen Tiefen von christlichem Auferstehungsglauben wie Liebeshandeln ins Licht kirchlicher wie weltlicher Öffentlichkeit, wie bei der „urbi-et-orbi-Segens-Ansprache“ zu Ostern 09 geschehen oder mit seiner weitweit begrüßte Enzyklika „Deus Caritas est“. Andererseits scheint er aber im system-bedingten Spagat zu stehen, das I. und II.Vatikanum miteinander zu verbinden, d.h. so zu vernetzen, dass folge-richtig das II. dem I.Vatikanum bruchfrei folgt: „Benedikt XVI hatte schon als Präfekt der Glaubenskongregation zu erkennen gegeben, dass er jenes einst als historischen Aufbruch und Umbruch bewertete Weltereignis Konzil nicht als Bruch sehen will, sondern als Kontinuität. Nach dem Zweiten Vatikanum ist für Benedikt XVI in diesem Sinne vor dem Zweiten Vatikanum. Getreu seiner platonischen Grundorientierung kann es nach Christus nichts substantiell Neues, Anderes im Glauben geben. Eine wahre Evolution des Christseins ähnlich dem, was wir seit Darwin als Evolution des Lebens kennen, ist für Benedikt XVI undenkbar. Er ist skeptisch gegenüber dem, was als, wie Küng es nennt, Paradigmenwechsel aufscheint. Dass es im Gottes- wie im Christusverständnis und damit im Kirchen-, Sakramenten-, Amtsverständnis Änderungen der Vorstellungsmodelle gemäß unserer Welterfahrung geben könnte – „Mutationen“, widerspricht Benedikts Auffassung. Wo andere Brüche feststellen und wünschen, sucht und verlangt er widerspruchsfreie Überlieferung, ein Sowohl-als-auch’ in diesen Grenzen, die gewiss seine theologischen, spirituellen, liturgischen Vorlieben spiegeln“ (CIG, 8.2.09, S 65). Die Versuche von Papst Benedikt XVI während seines Pontifikats scheinen darauf hinauszulaufen, gleichsam des I Vatikanum mittels seiner ‚Verantwortungs-Haut’ von theologischem Macht-Wissen und kirchlichem Herrschafts-Handeln über das II Vatikanum ziehen zu wollen bzw. müssen, d.h. das II Vatikanum muss dem I eingeordnet und angepasst werden. Dass bei diesem Bemühen sich manche Christ-Gläubige einem kirchlichen Erstickungstod ausgesetzt fühlen, dem weiß er sich als Theologe wie in seiner Verantwortung als Papst ‚ausgesetzt’.

Sein Verständnis bruchfreier Kontinuität und lehramtlicher Entschiedenheit zeigt eine Ansprache, die der Papst anlässlich des Weihnachtsempfangs für das Kardinalskollegium und die Mitglieder der römischen Kurie im Dezember 2005 hielt, als er von zwei Hermeneutiken des Zweiten Vatikanischen Konzils sprach, das heißt von zwei Weisen, das Konzil zu sehen und zu interpretieren: „Die Probleme der Rezeption entsprangen der Tatsache, dass zwei gegensätzliche Hermeneutiken miteinander konfrontiert wurden und im Streit lagen. Die eine hat Verwirrung gestiftet, die andere hat Früchte getragen, was in der Stille geschah, aber immer deutlicher sichtbar wurde, und sie trägt auch weiterhin Früchte.“ „Auf der einen Seite“, so fuhr Papst Benedikt XVI fort, „gibt es eine Auslegung, die ich ‚Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches‘ nennen möchte; sie hat sich nicht selten das Wohlwollen der Massenmedien und auch eines Teiles der modernen Theologie zunutze machen können. Auf der anderen Seite gibt es die ‚Hermeneutik der Reform‘, der Erneuerung des einen Subjekts Kirche, die der Herr uns geschenkt hat, unter Wahrung der Kontinuität; die Kirche ist ein Subjekt, das mit der Zeit wächst und sich weiterentwickelt, dabei aber immer sie selbst bleibt, das Gottesvolk als das eine Subjekt auf seinem Weg.“ Die erste Hermeneutik habe dazu geführt, das Konzil in eine verfassungsgebende Versammlung zu verwandeln, die dazu auch noch permanent weitergeht. Sie hat geglaubt, dass nicht so sehr die Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils zählen als vielmehr sein „Geist“, im Namen dessen jede Veränderung und jede Position, auch die willkürlichste, gerechtfertigt werden könnte. Die zweite Hermeneutik, die der Papst angewendet sehen will, ist dieselbe, die wir in den Worten Johannes’ XXIII. finden, der erklärte, dass das Konzil „die Lehre rein und vollständig übermitteln will, ohne Abschwächungen oder Entstellungen“, und der hinzufügte: „Unsere Pflicht ist es nicht nur, dieses kostbare Gut zu hüten, so als interessierte uns nur das Altehrwürdige an ihm, sondern auch, uns mit eifrigem Willen und ohne Furcht dem Werk zu widmen, das unsere Zeit von uns verlangt … Es ist notwendig, die unumstößliche und unveränderliche Lehre, die treu geachtet werden muss, zu vertiefen und sie so zu formulieren, dass sie den Erfordernissen unserer Zeit entspricht.“(siehe Paolo Rodari/ Andrea Tornielli, Der Papst im Gegenwind)

Diese Aussagen offenbaren den dialektischen Prozess und Konflikt der Kirche zwischen einer Kirche der Hierarchie oder der Communio im Sinne des Volkes Gottes, zwischen der Verantwortung im besonderen oder im gemeinsamen Priestertums. Kirchen-politisch drängt bisweilen das Amt wider dem Charisma zur Veränderung des tradierten katholischen ‚Systems’ und zielt eine andere Schwerpunktsetzung an. Als Dienst-Gemeinschaft geht diese Kirche von einer basisorientierten Organisationsform synodaler, demokratischer Art aus, in der die Hierarchie nicht mehr alleinige Herrschaft und Repräsentation, d.h. Stellvertretung beansprucht, sondern von einer für das Volk dienenden Funktion. Doch darin stehen sich scheinbar die beiden Kirchenformen: petrinisch und paulinisch unversöhnlich gegenüber. Dem komplementären Zusammenspiel von Amt und Charisma weiß sich aber ein alternativer Neubeginn aller in Gottes-Volks-Gemeinschaft verantwortlich. Diese Verbindung von Amt und Charisma, von ‚Hierarchie’ und ‚Communio’ ist komplemetärer Art und konstruktiv auf dem vor-gezeichneten wie bereits-bestehenden ‚Kirchen-Weg’ möglich! Was die Unterscheidung und entsprechende Zuordnung bzw. Nachordnung des Laien einst zwischen Klerikern und Laien zur Trennung führte, erhielte durch das Bewusstwerden und die theologische, wie rechtliche Dimension des „gemeinsamen Priestertums“ aller Gläubigen einen Kehrtwendung bei den gegenwärtig beobachtbaren, wie befürchteten kirchlichen Stornierungs- und Rückwendungsversuchen. Dieses Denken vom ‚Volk’ her birgt für das ‚System’ Zukunfts-Chancen und die Schubkraft zum Neuaufbau, bzw. zur Umgestaltung der katholischen Kirche im Volk Gottes. In der dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“(LG) ist dies bereits eindrücklich gesehen und bedacht worden. In den zentralen Konzilslehren ist die Gemeinsamkeit aller Gläubigen im Volk Gottes dargelegt beim „gemeinsamen Priestertum“ (LG 10) und im Glaubenssinn aller Gläubigen (LG 12). Beide Lehren stehen innerhalb des grundlegenden Kapitels über das „Volk Gottes“ (LG 9-17), das bewusst den Differenzierungen im Volk Gottes der Hierarchie (LG 18-29) und den Laien (LG 30.38) vorangestellt wurde und somit die Gemeinsamkeit „gemeinsames Priestertum“ einer Unterscheidung vorgeordnet hat. Unterscheidungen werden nicht aufgehoben, die Grundlinie ist aber nicht mehr eine Trennung zwischen beiden ‚Ständen’, sondern der Gemeinsinn im Geist Gottes soll maßgebend sein beim künftigem kirchlichen Handeln und Verantworten. Gemäß der vatikanischen Glaubensintension darf man den Mut haben, die Kirche als Laie wie als Kleriker mit umzugestalten. Das „gemeinsame Priestertum’“ aller Gläubiger birgt die Chance durch Laienapostolat und Priesteramt dem System ‚Kirche’ und dem Volk Gottes in Nachfolge und Sendung zu Diensten zu stehen. Zugleich vermag dabei die kirchliche Struktur ein entsprechendes Abbild von „Gottes Liebe“ gleichsam im „Leib Christi“ wiederzuspiegeln und erlebbar werden zu lassen. Das ‚Hierarchie-Modell’ der bisherigen Kirche würde im ‚Communio-Modell’ der Zukünftigen weiterentwickelt und –geführt werden. Kirchliches Amt und hierarchische Ordnung würden dann für Mann und Frau ihre menschenwürdige Wertigkeit wie Glaubwürdigkeit erhalten. Induktiv würden Laien, wie Klerus gemeinsam und miteinander den ‚Leib Christi’ vor Ort, wie global verlebendigen und könnten ihre kirchliche Mit-Verantwortung als Getaufte wahrnehmen.

Wolfgang Klausnitzer weist mit fundierter Kenntnis auf diesen möglichen Weg hin, wenn er als Resümee schreibt, es gilt „die Wahrheiten der verschiedenen ekklesiologischen Grundüberzeugungen im Sinne einer ekklesiologischen Kanonbildung (analog der Bildung des neutestamentlichen Kanons) aufeinander zu beziehen und miteinander zu vermitteln, also etwa das personal-primatiale Amtsprinzip der katholischen Kirche mit der orthodoxen (bischöflichen) Kollegialität und der synodalen Struktur (unter Einschluss der Verantwortung der Laien für die Kirchenleitung und Glaubensverantwortung) der Kirchen der Reformation. Ökumenisches Lernen wäre dann nicht eine Kapitulation, sondern ein gegenseitiges ergänzen und Bereichern.“ (Klausnitzer, S.273) Dieser Versuch ist erstrebenswert, um dadurch die Einheit der Glaubensgemeinschaft zum Gottes Segen für diese Erde und seine Schöpfung sichtbar werden zu lassen d.h. im Miteinander von Konfessionen und Religionen könnte gelingen, mehr zu sein und zu bewirken als nur die visionäre Illusion eines „Ökumenischen Konziliaren Prozesses“ mit seinem ‚inner-kirchlichen’ Streben nach der globalen Einheit und Glaubwürdigkeit als ‚Leib Christi’ und im gemeinsamen Apostolat für die weltorientierten Forderungen nach Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.

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Ökum.Kirchentag Berlin 2003, Collage von Jo Voit; Quelle: privat

47 Ökumene der beiden Kirchen

Beim Ökumenischen Kirchentag 2003 in Berlin vom 28. Mai bis 1. Juni zeigte sich Ökumene hoffnungsfroh und wurde konfessionsübergreifend zum selbstverständlichen Zeichen unserer Tage. Diese außerordentliche Großveranstaltung beider Kirchen war bemüht, im Geiste Jesu Christi das konfessionelle Glaubens- und Kirchengut beim Streben nach Gemeinsamkeit und Gemeinschaft einmünden zu lassen in eine sichtbare Einheit. Als geistliches und sakramentales Fundament dieses Ereignisses wurde von beiden Kirchen die Taufe herausgestellt und das ‚Wasser’ im Miteinander durch Ritus und Zeichensetzung gefeiert. Ebenso verabschiedeten im Rahmen des Ökum. Kirchentages Vertreter von 16 Kirchen in Deutschland eine „Charta Oecumenica“. Sie führt ökumenische Grundüberzeugungen an, und leitet daraus Selbstverpflichtungen der Kirchen im Verhalten untereinander, gegenüber der Gesellschaft und gegenüber anderen Religionen und Weltanschauungen ab, insbesondere der interreligiöse Dialog mit Judentum und Islam. Die „Charta Oecumenica“ hat keinen lehramtlich-dogmatischen oder kirchenrechtlich-gesetzlichen Charakter.

Die Begeisterung des pfingstlichen Aufbrechens der Kirchen hin zur Einheit, die unsere Ahnen bereits vor dem II Vatikanischen Konzil erlebten, wurde katholischerseits von Persönlichkeiten wie Kardinal Augustin Bea vorangetrieben und konfessions-verbindend von Frère Roger und seiner „Communauté“ im burgundischen Taizè vorgelebt, das in der Nähe des Mutterklosters der mittelalterlichen Reformbewegung von Cluny liegt. Weltweit knüpfte ökumenische Geisteshaltung Freundschaften, und man empfand in Deutschland tiefe Zuneigung füreinander und weiß sich auf dem Weg des christlichen Glaubens in die Zukunft. Ökumenische Vernetzungen vieler Kirchengemeinden vor Ort bewirkten, was sich dann bei den gegenseitigen Besuchen von Kirchentagen und Katholikentagen genauso finden lässt wie bei Fahrten Jugendlicher nach Taizè.

Dort legten vor sechzig Jahren die ersten Brüder ihr Gelübde zum Leben in einer Kommunität ab. Seitdem pilgern Jugendliche regelmäßig auf den Hügel und können bisweilen nur schwer auf eine Formel bringen, was sie bewegt und was sie dort erfahren: „In Taizè habe ich viele neue Erfahrungen gemacht, die auch meinen Glauben gestärkt haben.“ „Die Gemeinschaft ist einzigartig.“ „“In Taize findet man Zeit für sich, als auch für die Gemeinschaft.“ „Das Besondere an Taizé war für mich der internationale Flair des Gottesdienstes.“ – Blitzlichter, die eine religiöse Tiefe, wie christliche Weite gelebter Ökumene zum Ausdruck bringen. Der Lebensalltag dort beim Gespräch, bei der Arbeit, im Gottesdienst konzentriert sich auf das Wesentliche und auf den Verzicht alles Überflüssigen. Für viele Menschen, insbesondere die Jugend ist Taizè „eine Gabe des Heiligen Geistes an die Kirche von heute“ (Kardinal Walter Kasper) und „ein Ort, an dem mir die Schönheit des Glaubens besonders eindringlich entgegengetreten ist“ (Bischof Wolfgang Huber). Es ist ein christlicher Ort der Freiheit, an dem sich Jugendliche aus aller Welt treffen, „offen und gastfreundlich, wo Konfessionen keine Rolle spielen und alle kommen dürfen“, so eine Besucherin. Den theologischen und spirituellen Quellen dieses Ortes und Lebens in Gesprächen, durch Lieder und in Gottesdienstformen entstammen u.a. der „Brief aus Taizè“, die „Internationalen Jugendtreffen“ seit Mitte der sechziger Jahre, das „Konzil der Jugend“ (1974) und machten so diesen Ort zum pulsierenden Anziehungspunkt für Jugendliche aus aller Welt, das um seine verbindende Wirkung und Kraft weiß, und seine weltweite Mitverantwortung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung praktisch lebt.

Ökumene wagen und Einheit leben sind im ‚Land der Reformation’ gleichsam zum Ruf Jesu Christi wie zur christlichen Berufung seit Mitte des 20.Jahrhunderts geworden. Ökumenische Kirchentage als Laientreffen von Christen, denen das gemeinsame bzw. allgemeine Priestertum zueigen ist, sind zu Leuchtzeichen mit Hoffnungssignalen der beiden großen Konfessionen in Deutschland geworden. Ein erstes ökumenisches Pfingsttreffen hatte bereits im Jahr 1971 in Augsburg stattgefunden. Es stand unter der gemeinsamen Präsidentschaft der Verantwortlichen vom „Zentralkomitee der Deutschen Katholiken“ und vom „Deutschen Evangelischen Kirchentag“. In der Schlussversammlung legten damals vor 18 000 Besuchern Willem Adolf Visser ’t Hooft, der Ehrenpräsident des Ökumenischen Rates der Kirchen, Julius Kardinal Döpfner, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz sowie Hermann Dietzfelbinger als Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland gemeinsam wegweisend die Losung aus: „Nehmet einander an, wie Christus uns angenommen hat“ (Römer 15,7). 2003 fand dann in Berlin der erste „Ökumenische Kirchentag“ statt unter der Losung „Ihr sollt ein Segen sein“ mit über 200.000 Teilnehmern. Der zweite „Ökumenische Kirchentag“ wird 2010 in München stattfinden. Aufgrund des großen Erfolgs 2003 in Berlin und vieler offener Fragen zur Ökumene heute, scheint es manchen immer schwieriger zu werden, ob um die Ökumene im ‚Wettstreit’ um die Einheit zu ringen oder zu kämpfen ist. Inmitten vieler Selbstverständlichkeiten im ökumenischen Zusammenleben in Familien und zwischen Kirchengemeinden geht es um zeitgerechte und zeichenhafte Schritte von Einheit auf dem weiteren ökumenischen Weg. Das Leitwort 2010 in München: „Damit Ihr Hoffnung habt“ ist dem 1. Petrusbrief (Kapitel 1 Vers 21) entlehnt. In einer Zeit von Umbrüchen und einer tiefgreifenden Vertrauenskrise möchte das höchste Leitungsgremium mit Verweis auf die gemeinsame Hoffnung aller Christen ein Signal der Ermutigung geben. „Aus gemeinsamer Verantwortung suchen wir nach Formen gemeinsamen Handelns“, erklärt das Gemeinsame Präsidium in einer „Orientierungshilfe für den 2. Ökumenischen Kirchentag“. Das gemeinsame Zeugnis und Engagement in der Welt, so wird in der Erklärung hinzugefügt, könne „nur dann glaubwürdig“ gegeben werden, „wenn wir auf der Suche nach der sichtbaren Einheit aller Christinnen und Christen bleiben“.

Die Praxis in Diözesen und Gemeinden beim Streben um dieses selbstverständliche, wie glaubwürdige Miteinander der Konfessionen in Einheit lässt sich seit Jahrzehnten insbesondere im diakonisch-caritativen Bereich der Kirchen bei sozialen Einrichtungen und Diensten wie Begegnungsstätten, Familienzentren, Sozialstationen, Hospizdiensten, Telefonseelsorge u.a. reichlich nachzeichnen. Sehr präsent sind so auch die vielfachen Spuren im Ökumenischen Miteinander, z.B. in der ‚Metropol-Region’ Rhein-Neckar der letzten Jahre. In der regionalen Zusammenarbeit dreier katholischer Diözesen, wie dreier evangelischer Landeskirchen gehört Ökumene zur Selbstverständlichkeit im pastoralen Alltag und spiegelt die Erwartung der Bevölkerung wieder, wo Zwei-Drittel christlich ist. Von Bedeutung für das kirchliche Leben in dieser Region sind Schwerpunktsetzungen und Projekte durch die Kirchen selbst. So entstammen diesem gemeinsamen ökumenischen Bemühen u.a. Aktionen wie ‚Advent ist im Dezember’, ‚Sonntags-Feiertags-Heiligung’ oder die Erziehungsprämisse ‚Bindung kommt vor Bildung’, was dem christlichen Werteverständnis bei Kindern wie Jugendlichen gerecht werden will.

Im Kleinen wie im Großen gilt es, Wege zu finden, das ‚Ökumenische Miteinander’ zur Selbstverständlichkeit im pastoralen Handeln werden zu lassen. Dass dann das Reich Gottes nicht nur verbal nah, sondern im menschlichen Beziehungs- wie kirchlichen Verantwortungsnetz greifbar und sichtbar wird, ergibt sich daraus, und will auch global voranbringen, worum Christen sich im „Konziliaren Prozess“ bei Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung bemühen.

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Collage von Jo Voit; Quelle: privat

48 Der konziliare Prozess der christlichen Kirchen, 1989 in Basel, 1997 in Graz

Eine Form sichtbarer Einheit und weltweiter Verantwortung der christlichen Kirchen zeigt sich im „Konziliaren Prozess“. Als Antwort auf die Überlebensfragen ist in den Kirchen ein gemeinsamer Lernprozess für Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfungsbewahrung in Gang gekommen. Er hat seine Wurzeln in der christlichen Überzeugung, der Mensch ist zum Partner und Mitschöpfer Gottes berufen mit dem Auftrag, Geschichte zu gestalten.

An seiner Wiege stand die Idee eines Konzils, das durch die Grundlegung einer neuen ökumenischen Sozialethik zur Überlebensfähigkeit dieser Welt beitragen sollte. Pfarrer Dietrich Bonhoeffer rief Anfang der Dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts auf einer internationalen Kirchenkonferenz zu einem Friedenskonzil aller christlichen Kirchen auf. Bei der Tagung des Ökumenischen Rates für Praktisches Christentum und der ökumenischen Jugendkonferenz in Fanø/ Dänemark 1934, fünf Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg, verlangte er erstmals ein gesamtchristliches Friedenskonzil und sprach diesen Auftrag zur Ausführung zugleich den versammelten Vertretern der Ökumene zu. Seine Vorstellung knüpfte an die Tradition der altkirchlichen Konzilien an. Wenig später äußerte auch der katholische Priester Max Joseph Metzger die Idee eines christlichen Unionskonzils um des Friedens willen. Mit Johannes XXIII wurden dann auch in der römisch-katholischen Kirche. neue Möglichkeiten für den konziliaren Gedanken wach. Und das II Vatikanum wirkte als Reformkonzil in die Ökumene hinein und ließ die Aussicht als möglich erscheinen, Christen könnten sich in einem ökumenischen Konzil einmal zusammen finden. Verstärkt wurde dieser Grundgedanke vom Konzil durch die Bruderschaft von Taizè. Die Idee eines ‚Konzils der Jugend’ wurde verfolgt, um die Einheit der Christen für Gerechtigkeit und Frieden von der jungen Generation her wachsen zu lassen. Dann erörtere 1983 der Weltkirchenrat (ÖRK), – ein Zusammenschluss von über 320 christlichen Kirchen -, auf seiner Vollversammlung in Vancouver die Möglichkeit eines Friedenskonzils. In der Diskussion zeigte sich aber, dass für die Menschen des Südens die Frage der Gerechtigkeit die elementare Überlebensfrage ist. Deshalb wurde die Beschränkung einer Konzilszielsetzung auf die Friedensfrage obsolet. Stattdessen erfolgte die Einladung zu einem »Bund gegenseitiger Verpflichtung auf Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung«. Ein Konzil war für einige Kirchen nicht möglich. Doch ein »Konziliarer Prozeß« kam in Gang und verlief unter globalem Aspekt als eine ökumenische Lernbewegung – bedingt durch jeweils unterschiedliche Kontexte – ungleichzeitig.

1989 folgte dann auf europäischer Ebene in Basel die erste Europäische Ökumenische Versammlung „Frieden in Gerechtigkeit“. Erstmals in der Geschichte der vergangenen tausend Jahre kam eine repräsentative gesamtchristliche Versammlung zusammen. Dies geschah auf Einladung der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK, mit Sitz in Genf, darin vertreten die Orthodoxen, Anglikaner, Lutheraner, Reformierte, Freikirchen und Friedenskirchen) sowie des Rates der römisch-katholischen Bischofskonferenzen Europas (CCEE mit Sitz in St.Gallen). Ihre Ergebnisse spiegeln sich wieder in symbolischen Aktionen, als auch in einem ausformulierten Dokument der Übereinstimmung in Fragen der Analyse, der gemeinsamen Hoffnung und Theologie sowie von Handlungsperspektiven. In allen christlichen Kirchen setzte eine breite Diskussion und Neuorientierung ein. Sie folgte dem methodischen Dreischritt: Analyse, Urteil, Handlungsmodelle mit Selbstverpflichtungen. Und sie mobilisierte enorme Energien. So ist davon auszugehen, dass in der ehemaligen DDR, wo über zehntausend Eingaben von einzelnen Christen in die Vorbereitungspapiere der landesweiten ökumenischen Versammlungen zu Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfung einflossen, diese dazu beitrugen, die Positionen für den friedlichen Wandel mit zu formulieren. In der Bundesrepublik sind vor allem ökumenische Netze und Zusammenschlüsse von Menschen verschiedener christlicher Konfession auf regionaler Ebene, die sich praktischen Schwerpunkten verpflichtet haben, wie bei Fragen der Armuts- und Kriegsflüchtlinge, der Schaffung von gerechtem Frieden, Umwelt erhaltenden Formen des (ökologischen) Wirtschaftens und Fragen der Menschenwürde mit seinen Grundrechten, oder die Diskussionen über Gentechnik führten zur Einsicht in die Notwendigkeit einer Wissenschaftsethik. In den Postulaten nach Frieden, Schaffung von Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung fanden sich ureigenste biblische Zielsetzungen für und mit dem Volk Gottes wieder. Auch wenn jeder Mensch in seinem Lebensumfeld in Mit-Verantwortung steht, zeichnet den Christen insbesondere Ebenbildlichkeit wie Heilssendung aus. Der breite Lernprozess in den Gemeinden und Gruppen der Kirchen, vor allem in Europa ist seine Stärke. Es wurde kein hierarchisch von oben nach unten verlaufender Belehrungsprozess, – so hätte man sich ein Konzil gedacht – sondern ein in Netzstrukturen von unten nach oben sich durchsetzender Überzeugungsprozess in den Kirchen, der inzwischen einen selbstverständlichen Charakter erhalten hat.

Ähnliches geschah mit unterschiedlicher Intensität in den anderen Weltregionen. 1990 konnte im südkoreanischen Seoul in einer ökumenischen Weltversammlung unter Beteiligung der großen Kirchen und verschiedener konfessioneller Gemeinschaften ein erster Höhepunkt gefeiert werden. Der erreichte Konsens wurde in zehn Grundüberzeugungen zusammengefasst, dem Kern eines sozialethischen ökumenischen Katechismus. Bei allen Überlebensfragen ist die Sichtweise der Armen und Marginalisierten vorzuziehen und die Festlegung auf Gewaltfreiheit. Nach Seoul und nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ging die Motivation der Engagierten zurück. Den guten Worten waren zu wenige Taten gefolgt. Das paulinische Wort vom ‚Ausgleich in Freiheit’ zu einer ‚Gerechtigkeit im Ausgleich’ sollte sich am gegenseitigen Nutzen ausrichten und bedarf seiner globalen Umsetzung: „Es geht nicht darum, dass ihr in Not geratet, indem ihr anderen helft; es geht um einen Ausgleich. Im Augenblick soll euer Überfluss ihrem Mangel abhelfen, damit auch ihr Überfluss einmal eurem Mangel abhilft. So soll ein Ausgleich entstehen“ (2 Kor 9,13f). Selbstverpflichtungen in den Kirchen diesbezüglich sind vonnöten für einen neuen Lebensstil: bescheidener, solidarischer, gewaltfrei. Solch eine Haltung, die sich der Grundanliegen des „Konziliaren Prozesses“ annimmt, kann sich dabei am Gemeinwohl des ‚Volkes Gottes’ genauso orientieren wie an der Menschenwürde jedes Einzelnen d.h. griechische ‚Leistung’ und biblische ‚Wertschätzung’, sprich Menschenwürde haben sich hierin komplementär zu ergänzen.

Mit der Ermutigung, sich als Gestalter von Menschenwürde und Gemeinwohl zu sehen, nicht als ein Objekt gegenwärtiger Entwicklungen, soll die Kirche dem bleibenden Auftrag des II Vaticanums treu bleiben, wie gerecht werden, indem sie nach den jeweiligen ‚Zeichen der Zeit’ forscht und sie im Licht des Evangeliums deutet. Das im gesellschaftlichen Leben erstrebenswerte Gemeinwohl verweist auf verwirklichte Liebe und erweist sich als glaubwürdige Wahrheit. Alle Menschen guten Willens sind im Sinne der Enzyklika „Caritas in veritate“ von Papst Benedikt XVI (29. Juni 09) dazu eingeladen im Gemeinwohl das entscheidende Kriterium für ein Handeln aus Liebe zu entdecken. Es könnte im Sinne von „Deus caritas est“ (2006) und „Spe Salvi“ (2007) christlich gedeutet und gehandelt ‚Wunder wirken’. Die Gesamtgesellschaft soll dabei national, wie international die künftigen Generationen wie die ganze Menschheit im Blick haben. Eine Entwicklung der Völker unter Wahrung von Rechten und Pflichten hat dies, wie bei Beachtung der Umwelt und Bewahrung der Schöpfung zu gewährleisten. Gewiss, in dieser Sozialenzyklika wird Spitzenbankern, Politikern und Ökonomen ins Gewissen geredet, sie sind aber schwerlich in die Pflicht zu nehmen. „Der Enzyklika fehlt die Leidenschaft, die die Welt zum Besseren treiben möchte.“(Wolfgang Kessler) Dennoch, für Benedikt verpflichtet Liebe in „Caritas in veritate“ ökonomisch zu einer „menschenfreundlichen Ethik“, (45) und ökologisch ist eine „verantwortungsvolle Steuerung über die Natur“ (50) voranzubringen. Eine „echte politische Weltautorität“ ist notwendig, um die gegenwärtige Weltwirtschaft zu steuern, die von der Krise betroffenen Wirtschaften zu sanieren und einer Verschlimmerung der Krise vorzubeugen. Ihr schreibt Benedikt die Kraft zu „eine geeignete vollständige Abrüstung zu verwirklichen, die Sicherheit und den Frieden zu nähren, den Umweltschutz zu gewährleisten und die Migrationsströme zu regulieren“. Denn der globale Frieden hat eine ökologische und ökonomische Dimension. Der Kirche kommt hierbei eine besondere Verantwortung im Streben nach Gerechtigkeit zu. Denn im Ruf nach ‚Solidarität’ in einer gerechteren Zivilgesellschaft trägt nicht nur der Staat seine wirtschaftliche Verantwortung, sondern jeder Bürger, insbesondere der Christ, hat seine Rechte und Pflichten am Gemeinwohl und nicht am Egoismus auszurichten. Und bei den Forderungen nach Bewahrung der Schöpfung, geht es darum, „den Menschen gegen seine Selbstzerstörung (zu) schützen“ (51).

Ein engagierter Vordenker und Umsetzer entsprechender Konzepte für eine christlich verantwortbare Zukunftsgestaltung der Schöpfung ist gewiss Franz Alt, der seit Tschernobyl (1996) in einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft einen Lösungsweg sieht. Die bestehende Wirtschaft muss seiner Ansicht nach „durch ein soziales und ökologisches Regelwerk gezügelt werden“. In einer humanen Marktwirtschaft sieht er die Zukunft für die Menschheit gewährleistet, wenn er fast enthusiastisch schreibt: „Ich halte es für möglich, dass wir in der globalisierten Welt in den nächsten zwanzig bis vierzig Jahren in Deutschland, Europa und der Welt ein globales ökologisches Wirtschaftswunder schaffen. Dieses ökologische Wirtschaftswunder wird durch die Kraft einer großen Idee angetrieben. Wesentliche Komponenten dieses Wirtschaftswunders sind: 1. die solare Energiewende, 2. die ökologische Verkehrswende, 3. die biologische Landwirtschaftswende, 4. die nachhaltige Bau-Wende, 5. die ökologische Wasser-Wende, 6. die naturgemäße Nutzung der Wälder, 7. eine ökologische Steuerreform.“ Seiner Meinung nach gilt es, die lokalen und regionalen Wirtschaften zu stärken, Bürger-Aktions-Gesellschaften und Genossenschaften praxisnah zu fördern und durch ein praxisorientiertes Bildungswesen Menschen zu mehr Eigeninitiative wie Eigenverantwortung zu motivieren. „Ökosozial“ vermag „jene zwei Drittel der Menschheit zu integrieren, die bisher als Schmuddelkinder und Verlierer des Marktes ignoriert wurden“. Demgemäß weist er auf die wegweisende Enzyklika „Progressio Populorum“ von Papst Paul VI hin, in der dieser vor vierzig Jahren schrieb „Der neue Namen für Frieden heißt Entwicklung“ und nichts anderes will die von ihm proklamierte ökosoziale Marktwirtschaft bewirken. (in Publik forum: Nr.23-2010, S.13)

Diese Entwicklung ist national wie international, europäisch wie weltweit anzustreben. Denken wir an gegenwärtige nationale Haushalts- und Wirtschaftspolitik im Sog von Verschuldung und Finanzspekulation. Es zeigt sich, dass große Finanzkonzerne Regierungen zu treuren Rettungsaktionen zwingen und zugleich rechnen sie weiterhin mit überhöhten Gewinnerwartungen. „Das Leitbild der sozialen Marktwirtschaft kann nur zukunftsfähig werden, wenn es auf die ganze wirtschaftliche Großregion ausgedehnt wird“, worauf der Sozialwissenschaftler Bernhard Emunds, Leiter des Oswald-von-Nell-Breuning-Instituts hinweist. Jegliche Ausdehnung weist aber auch auf die internationale Verflechtung und Vernetzung hin, der jegliches Land eingebunden wie ausgeliefert zugleich ist. Am Beispiel Europa bedeutet dies: „Die Idee eines geeinten Europas, der wir die längste Friedenszeit des Kontinents, sowie die rasante Entwicklung des ‚Eisernen Vorhangs’ und eine erstaunliche Wohlstandsentwicklung in nur zwanzig Jahren verdanken, muss weiter gestaltet werden. Europa darf angesichts einer längst nicht ausgestandenen Finanzkrise nicht zum reinen Wirtschaftsraum verkümmern. Wir brauchen eine erneuerte Europa-Vision eines auch politisch und sozial geeinten Europas, in dem die Regionen mit ihren sprachlichen, kulturellen Eigenheiten den Menschen Heimat bieten und in dem grenzüberschreitend die Europäer solidarisch durch Lastenausgleich füreinander einstehen, um eine allen Menschen dienende Wirtschafts- und Weltpolitik vorzubereiten“ (CiG, Nr50/2010/S.561)

Gesellschafts-politisch scheint zum Erreichen eines notwendigen nationalen wie globalen Gemeinwohls im Schutzschirm von Frieden am besten ein subsidiär-föderales System geeignet zu sein. Ottfried Höffe sieht in der Subsidiarität nicht bloß für politische oder gesellschaftliche Strukturen Vorteile. Mindestens ebenso bedeutsam sei ihr „humanisierender Mehrwert“, da eine subsidiär verfasste Ordnung „aufgrund von Vertrauen“ funktioniert und der Staat aus „freier Zustimmung“ und in „hoffnungsvoller Erwartung“ lebt. “Die Subsidiarität erweist sich … als ein Prinzip von Humanität und Freiheit, überdies von Vermittlung.“ (vgl.CIG,Nr31/2009/S.339f). Es geht um die künftige Zusammenarbeit in der Menschheitsfamilie, wobei Solidarität und Subsidiarität in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit für eine nachhaltige Entwicklung weiter zu entfalten sind. Dass dabei eine lokale und regionale Verankerung besonders lohnenswert ist, bedeutet viele Brüche mit heutiger einseitiger ökonomisch-globaler Denk- und Handlungsweise. Denn rund um ihren Lebensmittelpunkt übernehmen Menschen am ehesten Verantwortung für die Zukunft, wenn sie mitplanen, beobachten und erfahren können, dass ihr jeweiliges Wirtschafts-System mit dem jeweiligen Beziehungs-Geflecht Waage halten kann, und nicht das eine auf Kosten des anderen verdrängt oder vernichtet wird. Dem Christen muss bei dieser Entwicklung insbesondere bewusst sein, dass alles Engagement für weltweite Gerechtigkeit letztlich im Gemeinwohl fußt. Das Miteinander von Gott und Mensch bedingen sich einander, und Menschenwerk findet in der Schöpfung seine Erfüllung als Gottes Geschenk.

Der Mensch steht dabei in seiner sozialen Umwelt-Beziehung und im gesellschaftlichen Wirtschafts-System in vielfältigen Bezügen. Setzt er Beziehung zu sich selbst oder im Glauben voraus, kann er sich als Schöpfer oder Geschöpf verstehen. Als Geschöpf verdankt er sich nicht einzig seinen eigenen Anstrengungen oder seinem Wollen. Versteht er sich als Teil der Schöpfung, steht er innerhalb des Schöpfungsaktes Gottes in einer einzigartigen und einmaligen ‚Funktion’ und entfaltet und entwickelt gleichsam sein Handlungs-„System“. Eine besondere Verantwortung hat er dabei für das Werk Gottes inne. Mensch und Schöpfung stehen in einer unmittelbaren Beziehung zueinander. Die Schöpfung bildet den „Möglichkeitsrahmen“ für die Entfaltung dessen, was in jedem Menschen individuell, als Gabe des Schöpfers, angelegt ist. Die daraus resultierende Haltung bringt Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika ‚Caritas in veritate’ treffend zum Ausdruck: „Der Umgang mit [der Schöpfung] stellt für uns eine Verantwortung gegenüber den Armen, den künftigen Generationen und der ganzen Menschheit dar. Wenn die Natur und allen voran der Mensch als Frucht des Zufalls oder des Evolutionsdeterminismus angesehen werden, wird das Verantwortungsbewusstsein in den Gewissen schwächer. Der Gläubige erkennt hingegen in der Natur das wunderbare Werk des schöpferischen Eingreifens Gottes, das der Mensch verantwortlich gebrauchen darf, um in Achtung vor der inneren Ausgewogenheit der Schöpfung selbst seine berechtigten materiellen und geistigen Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn diese Auffassung schwindet, wird am Ende der Mensch die Natur entweder als ein unantastbares Tabu betrachten oder, im Gegenteil, sie ausbeuten. Beide Haltungen entsprechen nicht der christlichen Anschauung der Natur, die Frucht der Schöpfung Gottes ist.“(Benedikt XIV, Caritas in veritate, Nr.48)

Den Verantwortlichen im freiheitlichern Rechtsstaat empfiehlt Benedikt XVI mit Verweis auf König Salomon „ein hörendes Herz“, um das Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Denn „die Politik muss Mühen um Gerechtigkeit sein und so die Grundvoraussetzung für Frieden schaffen“. Dabei ist auf die Ökologie von Natur und Schöpfung genauso zu achten wie auf die Ökologie des Menschen selbst. „Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht nicht sich selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auch die Natur achtet, sie hört und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat.“ (vor dem dt.Bundestag, 22.9.11) Für den Politiker und das Gemeinwesen sollten daher bei Gerechtigkeit und Frieden das „christliche Menschenbild“ maßgebend sein. Ein nachhaltiger Umgang mit den Ressourcen der Schöpfung gehört zum menschlichen Selbstverständnis und zur politischen Verantwortung. Raubbau und Ausbeutung, was in unseren Tagen oftmals zu Lasten der (wirtschaftlich) schwächeren Länder geht, entspricht daher genauso wenig Handlungsoption des christlichen Menschenbildes wie eine passive Haltung bei Klimakatastrophe und Hungersnöten. Hier liegt das christliche Korrektiv für jegliche Politik, die sich auf die säkulare Einbahnstraße im Ressourcenverbrauch und materialistischen Nutzdenken begeben hat und keine vom Glauben geprägte Umkehrbereitschaft mehr voraussetzt. Doch unsere Werte wie Freiheit und Gerechtigkeit, oder Menschenwürde bergen in sich säkulare wie religiöse Wurzeln und Ziele. Auch wenn zusehends die Selbstverständlichkeit und Übersetzungsfähigkeit des überlieferten christlichen Glaubens fehlt, um in den modernen Lebenswelten mit ihren Erfahrungen und ihrem Wissen über das, was die Welt im Innersten zusammenhält, ‚gehört’ zu werden, wohnt doch dem christlichen Glauben per se die Kraft des positiven, dynamischen Widerspruchs: Jesus Christus inne. Diesen gilt es subjektiv wie objektiv im menschlichen Bewusstsein neu zu integrieren, um mit ihm verantwortlich umzugehen und um ihn zielstrebig global dialektisch weiter zu entfalten und voranzutreiben.

Zeichenhaft kann dafür das himmlische „Neue Jerusalem“ stehen, das gleich einem Regenbogen den zeitlichen Spannungsbogen von messianischer Erwartung und abendländischer Heils-Hoffnung verkörpert, wie es Moira Rogers niederschrieb: „In der Vision des himmlischen Jerusalem, dem Inbegriff des Friedens, bilden die Schätze der Völker die Bauelemente der neuen Stadt. Natürlich ist diese Stadt nicht von Menschen errichtet, sondern von Gott selbst! Die in ihr wirkende Ordnung zeigt das schönste Ebenmaß menschlichen Miteinanders, nach dem sich jeder, der zu Christus gehört, ausstrecken sollte. Hier stehen die Völker beisammen, wenn auch nicht vermischt. Sie sind vereint – nicht um ihre Ziele effektiver durchzusetzen, sondern um Gott in Einmütigkeit nach ihren jeweiligen Gaben zu dienen. Diese kraftvolle Vorstellung eröffnet uns eine neue Perspektive und eine neue Hoffnung für unsere Länder und Städte. Sie macht Mut zum Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit zwischen Nachbarn und zwischen Nationen.“ Bereits 1537/1550 schrieb Menno Simons (1496-1561) diese auch heute noch aktuelle Hoffnung und Sehnsucht der Kinder Gottes mit den Worten nieder „Sie sind die Kinder des Friedens, die ihre Schwerter zu Pflugeisen und ihre Spieße zu Sicheln gemacht haben und wissen von keinem Krieg mehr und geben dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist (Jesaja 2,4; Matthäus 22,21). Ihr Schwert ist das Schwert des Geistes, das sie in einem guten Gewissen führen durch den heiligen Geist.“ Diese innere Unruhe zum immerwährenden Aufbruch der Völker in Frieden und Gerechtigkeit zum ‚himmlischen Jerusalem’ ist heute mehr denn je mit Vernunft und der geistigen ‚Waffen-Technologie’ einer aufgeklärten Gesellschaft voranzubringen, worin die „Menschen-Würde“ einen globalen und tiefgehenden gemeinsamen Wert darstellt und „im Widerspruch mit Geist und Herz“ ein sachgerechtes und menschenwürdiges Handeln möglich ist.

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Bürgerrechte der Franz.Revolution; Quelle: www.upload.wikimedia.org

49 Menschenwürde

„Den Menschen die Würde wieder geben“, dieser Forderung gemäß hatte vor gut einem Vierteljahrhundert die einstige Solidarnosc-Bewegung in Polen große Veränderungen in den europäischen Staaten des Ostens mit herbei geführt und das ‚friedvollen Erdbeben’ des ‚Ostblocks’ vor zwanzig Jahren mitbewirkt. Auch wenn kultur-soziologisch bedingt die ‚Menschen-Würde’ bisweilen eng an Freiheitsrechte angebunden ist, scheint dennoch die ‚Menschen-Würde’ die ausgleichende Waage zwischen persönlichen Freiheits-Rechten und kollektiven Gerechtigkeits-Pflichten zu beinhalten.

In der Bundesrepublik ist nach Art. 1 Abs. 1 des GG die Menschenwürde seit Mitte des letzten Jahrhunderts ein für unantastbar erklärter Bereich, der dem Menschen als Person zusteht und sie respektiert und das GG als Träger höchster geistig-sittlicher Werte die Fähigkeit eigenverantwortlicher Selbstbestimmung gewährleistet. Der Verfassungsschutz der Menschenwürde ist unabänderlich. In der Menschenwürde sind die Menschenrechte verankert. An ihr enden die Freiheitsrechte. Die Idee der Menschenrechte, in deren Mittelpunkt die menschliche Freiheit steht, wurzelt in der Naturrechtslehre der Antike, insbesondere der griechisch-römischen Stoa. Alle Menschen sind danach vernunftbegabte Wesen. Ihre Gemeinsamkeit besteht in der gemeinsamen Teilhabe am Reich des Geistes. Das Christetum nahm diese Lehre auf, vertiefte sie zugleich dadurch, dass es die allgemeine menschliche Würde durch die Gotteskindschaft und Zugehörigkeit zum Volk Gottes hervorhob. Thomas von Aquin (1225-1274), der bedeutsamste Kirchenlehrer des Mittelalters, war der Auffassung, dass die menschliche Vernunft teil habe am ewigen Gesetz Gottes. Deshalb anerkannte er in gewissen Grenzen ein Widerstandsrecht gegen staatliche Gewalten, die dem Gemeinwohl zuwiderhandelten. Dies bereitete den Weg zu den individuellen Freiheitsrechten vor.

Religiöse Freiheit seit der Reformation, wie zusehends politische Freiheit wider absolutistischen Machthabern und Dynastien und materielle Forderungen gegen den Staat selbst erheben zu können, zeichnete das 18. und 19. Jh. aus. Ihre erste praktische Auswirkung erhielten Freiheitsrechte durch die Idee der Menschenrechte in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776. In Europa entwickelte sich die Französische Revolution zur Triebfeder geistiger Aufklärung, wie gesellschaftlicher Säkularisierung. Mit ihrer „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ von 1789 traten die Menschenrechte in den Mittelpunkt einer revolutionären Bewegung. Diese ursprünglich auf die liberalen freiheitlichen Ideen des besitzenden Bürgertums gestützte Revolution, zeigte in ihrer Verfassung von 1791 eine Überbetonung des Individuums gegenüber dem Staat, was in der Entwicklung nachfolgender Verfassungsverfahren in Frankreich, Belgien, Deutschland u.a. dazu führte, das Staatsbewusstsein zu kräftigen, die Grundrechte des Einzelnen im freiheitlichen Rechtsstaat zu gewährleisten, bis hin zur Verfassung der Bundesrepublik Deutschland 1949, in der die Grundrechte zum positiven Recht geworden sind und der Menschenwürde ihre ‚einmalige Statthalter-Position’ verliehen wurde, wie im GG Art 1 festgelegt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ (Abs. 1). Dies beinhaltet, dass immer dort, wo im gesellschaftlichen Alltag Individualsphäre und soziale Sphäre aneinanderstoßen, stets neu zu definieren ist, ob und wie die Menschenwürde ‚greift’. Dieser Blick wird dann von der Würde hin auf die Konkretion im Recht präzisiert, wenn es im Abs. 2 heißt: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“.

Aus christlicher Sicht ist aber menschliche Freiheit immer fragil. Daher ist der Mensch immer auf unbedingte Hoffnung und Liebe angewiesen, die der Christ im Glauben gegründet weiß. So kann er nach Tiefschlägen immer wieder neu beginnen, da der Mensch durch Hoffnung und Liebe „zu einer Teilhabe in der Gerechtigkeit und Großzügigkeit Gottes gegenüber anderen führt.“ „Menschenrechte sind in einer Teilhabe Gottes verwurzelt, der jede menschliche Person mit Intelligenz und Freiheit ausstattete. Wenn diese solide ethische und politische Basis ignoriert wird, bleiben die Menschenrechte zerbrechlich, da sie von ihrem soliden Fundament getrennt werden“ (Benedikt XVI). In den Menschenrechten ist ein gemeinsamer universeler Ethos gegeben, dessen Spitze in der Menschenwürde gipfelt. Auf ihr basiert auch unser deutscher Grundrechtskatalog. Die Hervorhebung der Menschenwürde soll verhindern, dass der Mensch jemals mehr zum Objekt staatlicher Allmacht und Willkür herabgewürdigt werden kann. Die Grundeinstellung, den Staat nicht als Zweck an sich, sondern als Mittel zum Zweck zu betrachten, hat das Grundgesetz mit der amerikanischen Verfassung von 1787, wie mit der französischen Verfassung von 1791 gemeinsam. Die Unverletzlichkeit der Menschenwürde wird verbal gemeinhin nicht infrage gestellt, in der abendländischen Praxis situativ, insbesondere aber angesichts weltweiter kriegerischer Auseinadersetzungen und der Zunahme von Migrantenströmen sieht dies global anders aus. Stehen bei uns in der BRD die Verfassungsbeschwerden in der Spannung zwischen banalen Alltagsproblemen, die meist im Freiheitskontext eingeklagt werden, und einem hohen Anspruch verfassungsrelevanter Grundfragen zum Wie und Wo von Menschenwürde, so werden Menschenrechte und Menschenwürde in Kriegsgebieten und bei Diktaturen, genauso wie in großen Machtzentren und Herrschaftsbereichen nationaler wie ökonomischer Zwänge und Ordnungen, anderen Werten nachgeordnet, und nur bei Bedarf oder Außendruck findet Menschenwürde eine nutzorientierte Anwendung.

Das GG, das vor dem Hintergrund einer christlich geprägten Kultur entstanden ist, steht heute selbst in der weltanschaulichen Neutralität. Deshalb kann gefragt werden, ob mit Blick auf Europa die „Menschen-Würde“ diese Identität dauerhaft gewährleisten kann, wenn Deutung und Auslegung gleichsam in der jeweiligen ‚Landeswährung’ erfolgen. Zwar gründet das Zusammengehörigkeitsgefühl der europäischen Völker in gemeinsamen geschichtlichen Erfahrungen und in einer gemeinsamen Erziehung und ‚Seelen-Bildung’ christlicher Prägung. Das erste Kapitel des AT stellt bereits den unendlichen Wert des Einzelnen heraus. Im Schöpfungsbericht heißt es, Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde. Schon Adam, der erste Mensch, ist Gott so viel wert wie die ganze Menschheit. Eben daraus leitet sich die Würde jedes einzelnen Menschen ab. Die Bibel ist „ein Weltkulturerbe ersten Ranges und wesentliches Element, der europäischen Kultur; denn oft stand die Adaption der Bibel am Anfang der Kulturentwicklung der europäischen Länder und Völker. Die Bibel war Grundlage der Inkulturation. Aus ihren Übersetzungen bildeten sich spezifische und doch durch die gemeinsame Basis ähnliche Traditionen in unterschiedlichen Variationen heraus. Es gab immer wieder Rückgriffe auf die griechische und römische Antike. Europas Muttersprache jedoch ist das Christentum (Papst Johannes Paul II)“ (ZdK, Schrift: “Europas Identität“). Die europäische Zuversicht, dass weltweit die „Menschen-Würde“ Grundlage menschlicher Entwicklung wie gesellschaftlichen Zusammenlebens ist, bleibt somit eine Hoffnung. Die globale Verankerung der Menschheits-Familie in der Menschenwürde, ist weiterhin ein Bekenntnis zu gleichen, zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten, als einer Grundlage, durch die jede menschliche Gemeinschaft, der Frieden und die Gerechtigkeit in der Welt möglich sind.

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‚’Pater noster’, Fridolin Leiber (1853-1912), Quelle: www.commons.wikimedia.org

50 Vater unser

„Das Pater noster, das Gebet Jesu um ein Leben in Würde, wurde vor 60 Jahre erhört!“, so Franz Eisend in seiner provokanten Deutung und Wertung anlässlich der 60-Jahrfeier des Grundgesetzes 2009 in der Bundesrepublik Deutschland. Oder mit Blick in den Katechismus der Katholischen Kirche (1993) heißt es: „Das Gebet des Herrn ist die Zusammenfassung des ganzen Evangeliums“. Beide ‚Zeit-Deutungen’ des Vater-Unser-Gebet’s als zeitgeschichtliche Erfüllung wie als heilsgeschichtlicher Auftrag lassen die Spannbreite dieser Gebetshaltung zwischen Mensch und Gott, zwischen Vater und Sohn erahnen. Für Franz Eisend erfasst das Beten des Vaterunsers „auf unvergleichliche prägnante und ganzheitliche Weise, was für die Wahrung der Würde des Menschen erforderlich ist“. Die entsprechenden Verhaltensregel eines gerechten Friedens und eines würdevollen Umgangs miteinander sind ihm der ‚goldene Schlüssel’ zum seit alters her verheißenen Reich Gottes. Beim Miteinanderleben ist die ‚Würde des Menschen’ das wertvollste Gut, auf das jeder einzelne Mensch immerzu achten muss. Diese Würde ist aus gutem Grunde unantastbar, denn auch die allgemeinen Menschenrechte gründen letzten Endes auf der Unantastbarkeit menschlicher Würde. Jeder Mann und jede Frau muss sich daher stetes der Achtung vor sich selbst und um den Respekt voreinander bemühen. „Die Ausbildung und Gestaltung dieses zentralen moralischen Vermögens, in Würde einander zu begegnen und zu leben, sollte gesellschaftlich bei jedem Menschen von Kindheit an gefördert werden. Erziehung und Bildung haben sich von daher grundsätzlich auf die Würde des Menschen hin auszurichten. Dem ganzheitlichen Menschen gemäß sind davon folgende Bildungsziele abzuleiten: Körperbildung, Charakterbildung, Willenbildung und Gewissensbildung. Diese pädagogischen Ziele bedürfen der konsequenten Entfaltung und Förderung urmenschlichen Vermögens, die da sind: robuste Wahrnehmung, sicheres Urteil, phanasievoll-kreatives Denken und glaubwürdiges Reden und Handeln.“

Vor bald mehr als 2000 Jahren lehrte Jesus die Menschen das Vaterunser zu beten. In der Nachfolge wurde für Christen so Jesu Gebet zum täglichen Ritual. Immer wieder aufs Neue wird es gebetet und das jeden Tag, vielleicht auch mehrfach. Es kann den Menschen ergreifen in den Extremsituationen von Geburt und Tod, genauso wie in Hochsituationen menschlichen Lebens von Glück und Dankbarkeit, oder im menschlichem Vernichtungskampf, wie Krieg und Vertreibung oder bei natürlichen Katastrophen, wie Erdbeben und Überschwemmung. Jesus hatte es einst seinen Jüngern gelehrt, nicht magischen Kräften zu vertrauen, sondern mit ganzem Herz und allen Sinnen dabei zu sein, d.h. in diese Beziehungs-Gegenwart mit Gott bewusst einzutreten: „Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen. Macht es nicht wie sie – denn euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet“ (Mt 6,7). „Durch diese von Jesus neu initiierte Qualität des vernünftigen Gesprächs mit dem nahen und gegenwärtigen Gott, nahm etwas in den Menschen seinen Anfang, das in der Folge die ganze Welt, bis in unsere Tage hinein grundlegend verändert: Im ganzheitlichen Sinne begannen so Christen in einem ganz neuen Bewusstsein damit, in ihrer Glaubensgemeinschaft die Würde des Menschen kunstvoll zu pflegen. Diese umfassende Pflege der menschlichen Würde hat in der Tat ihren Ursprung in diesem rituellen Gespräch mit Gott, so wie es einst Jesus im Vaterunser die Menschen lehrte.“

Dieses Vermögen, das allen Lebenslagen menschlichen Daseins zu entsprechen hat, hat Jesus im ‚Vaterunser’ gelehrt und ist stets neu zu erlernen durch Aktualisierung im Deuten und Handeln. Denn das alltägliche Miteinander in Würde bedarf in seiner menschlichen Grundhaltung weit mehr, als es die ‚Goldene Regel’ oder die ‚Zehn Gebote’, die eine moralische Ausdifferenzierung der ‚Goldenen Regel’ sind, vermögen. Um der Menschheit ein Leben in Würde zu ermöglichen, bedarf es eines Friedens, der von Gott kommt. In ihm und durch diese ‚Gabe’ wird das Leben in Würde für alle Menschen möglich. „Die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes ist die Grundlage für den wahren Frieden. Und den ‚Frieden Gottes’ zu verkünden ist seit jeher der Auftrag der Kirchen“. (siehe: Eisend Franz, Vaterunser und Menschenwürde, in: www.eisend.net/html/vaterunser.html)

Damit lässt sich ein Gedankenkreis schließen, der Eingangs dieses Referats den ‚Glauben an den Auferstandenen’ und die ‚Frohbotschaft vom Reich Gottes’ als tragende Stützen wie Zielpunkte unseres christlichen Glaubens hervorhob. Zum auferstandenen Christus steht jeder Christ in Beziehung und weiß um sein Reich, das nicht von dieser Welt, aber für diese Welt ist.

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Quelle: www.eine-welt-shop.de/silver.econtent/catalog/mvg/misereor/hungertuch_2009_gottes_sch_pfung_bewahren

51 Hungertuch 2009 mit dem Künstler Tony Nwachukwu aus Nigeria, lässt im Widerschein des

Osterlichts die Gesichter von Gottes-Kindern aus allen Erdteilen dieser Welt erkennen, sowie zeichenhaft Ergebnisse durch die Umweltbelastung in Gottes Schöpfung. Auf die erforderliche Nachhaltigkeit unseres Denkens und Handelns weist dieser Künstler hin. Jeder ist selbst Teil von Gottes Schöpfung und soll im Osterlicht des Auferstandenen ein glaubwürdiger Zeuge von Gottes Gegenwart sein. Wenn Christen ihren Auftrag zur Bewahrung und Gestaltung der Schöpfung ernst nehmen, kann sich dies im ökologischen Bereich beim Einsatz für Klimaschutz, im Umgang mit Gentechnologie wie Atomenergie dieses verantwortliche Handeln genauso zeigen, wie im sozial-gesellschaftlichen Bereich mit den erforderlichen Optionen für Arme, Schwache, Benachteiligte und Nichtbeteiligte. Deshalb ergreift die Kirche solidarisch Partei für Gottes Schöpfung und die Opfer des Klimawandels, ebenso wie für Gottes Gerechtigkeit wider Ausbeutung und Ungerechtigkeit bei Armen, Alten, Kranken, Kindern, Ungeborenen und ist verantwortlich für die kommenden Generationen.

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Quelle: www.hsp-tierhilfe.de + Christoph Göpferich, privat

52 Regenbogen

Christ-Sein bedeutet selbst- und eigenverantwortlich zwischen Himmel und Erde mit Gott in Beziehung stehen und in dieser Welt mitverantwortlich einher gehen: „Du hast meine Füße auf weiten Raum gestellt“ (Ps 31,9). In der Weite eines Regenbogens, dieses Bundes-Bogen des Glaubens spiegelt sich das persönliche Bundes-Zeichen zwischen Gott und Mensch wieder, genauso wie dieser Bund in der Taufe mit Wasser Gott vergegenwärtigt.

Das Eingetauchtsein im Wasser der Taufe schenkt uns den Geist des Neuen Bundes; und so ist Tauf-Wasser mehr als nur Wasser, und die Taufe weist hin auf den Lebens-Baum, der an strömendem Wasser Früchte trägt (nach Ps 1,3). Gleichwie Wasser von Nutzen ist, auch wenn wir es nicht sehen, und es im Sprachgebrauch von Fachleuten als „virtuelles Wasser“ zur Herstellung von Industrie-Produkten und Nahrungs-Mittel verbraucht wird, so lässt sich dieses Bild auf unser menschliches Leben übertragen, und es ist unschwer anzunehmen, dass es auch ein „virtuelles Leben“ gibt und es nur eine Frage der Zeit ist, bis der Mensch im Wort vom ‚Licht der Auferstehung’ mehr sieht und annehmen darf, als dass Licht nur durch Energieverbrauch entsteht und der „Regenbogen“ zwischen Himmel und Erde mehr veranschaulicht als nur Wassertropfen vom Sonnenlicht durchstrahlt.

abgeschlossen 10.6.09/bearbeitet 1.1.12

Literatur

Ammann Rudolf, Gottes Bund steht, Patris Verlag 1992

Adam Konrad, Die Alten Griechen, Rowohlt TB 62174, 2008

Boman Thorleif, Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen, Vandenhoeck&Ruprecht, 1968

Bucher Rainer/Klinger Elmar, Mich hat an der Theologie immer das Extreme interessiert, Echter Verlag 2009

Coenen Lothar u.a. (Hg), Theologisches Begriffslexikon zum NT Bd I+II, Theol.Verlag Brockhaus, 1977

Deissler Alfons, Biblisch glauben, Herder TB 994, 1982

Demel Sabine, Zur Verantwortung berufen, Herder Quaestiones 280, Herder Verlag, 2009

Gartz Joachim, Die Grossen der Philosophie, Compact Verlag, 2008

Hintz Andreas, Zeit als Bildungsaufgabe in theologischer Perspektive, Bd.6, Lit-Verlag 2003

Klausnitzer Wolfgang, Kirche, Kirchen und Ökumene, Pustet-Verlag 2010

Konzelmann Gerhard, Aufbruch der Hebräer, Rowohlt TB 7175, 1976

Linke Detlef B., Religion als Risiko –Geist, Glaube und Gehirn, Rowohlt TB 61488, 2003

Lohfink Norbert, Unsere großen Wörter, Herder Verlag, 1977

Nack/Wägner, Das antike Griechenland – Land und Volk, Tosa-Verlag, 1975

Rifkin Jeremy, Die empathische Zivilisation, Campus-Verlag, 2010

Saltzwedel Johannes (Hg), Götter Helden Denker, Deutsche Verlags-Anstalt, 2008

Snell Bruno, Die Entdeckung des Geistes, Goverts Verlag Hamburg 1948

Sommer Norbert/Thomas Seiterich (Hg), Rolle rückwärts mit Benedikt, Publik-forum-Verlag 2009

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