Widerspruch

die Wirklichkeit sehen und die Welt anders verstehen

… manche halten es für „ver-rückt“, vom Widerspruch* her zu denken und meinen, das könne man nicht. Doch wir alle wissen darum, dass wir inmitten von Widersprüchen leben, sich unser Alltag stetig darin und damit auflädt und ‚Explosionen’ gleichsam unser menschliches Dasein und Zusammensein erschüttern können. Was hält uns also davon ab, direkt in den Widerspruch hineinzudenken, ihn als Axiom für menschliches Dasein zu setzen und damit umzugehen lernen. Denn Materie und Beziehung sind die Fundamente des Widerspruchs. Menschlichem Denken mag dies zunächst „ver-rückt“ anmuten, doch theoretisch ist diese axiomatische Annahme: ‚Widerspruch’ hilfreich, um dann philosophisch-naturwissenschaftlich auf Materie und biblisch-theologisch auf Beziehung hin weiter zu denken. Der Mensch erkennt sich dann, philosophisch gesprochen, im Sein und Nicht-Sein, was dem Widerspruch genauso zueigen ist, wie theologisch, menschliches Dasein in der Einheit von Gott-Sein und Mensch-Sein zu deuten und zu ‚glauben’. Gleich man im Verlauf der Neuzeit erkannte, die Erde dreht sich um sich selbst, (Foucault), wird künftig menschlichem Bewusstsein selbstverständlich sein, der Mensch dreht sich um sich selbst, und mittels Glauben und Wissen vermag er sich in dieser Drehung voll ‚Widerspruch’ zu orten und zu ordnen. Im ‚gleichzeitigen’ Blickwinkel beider Wirklichkeits-Sichten wird er durch Unterscheidung und Trennung differenzieren, und bei Bedarf einen und beide verbinden und komplementär miteinander ergänzen. Widerspruch ist somit ein Phänomen.

Phänomen Widerspruch

Dieses ‚Phänomen’ ist (nach Wikipedia) in der Erkenntnistheorie eine mit den Sinnen wahrnehmbare, abgrenzbare Einheit des Erlebens. Es kann sich beispielsweise um ein Ereignis, einen empirischen Gegenstand oder eine Naturerscheinung handeln. Mitunter wird auch eine konkrete sinnliche Wahrnehmung selbst als Phänomen bezeichnet, d.h. deutsch: ‚Erscheinung’. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden vor allem Ausnahme-Erscheinungen als Phänomene bezeichnet, was beim vorgegebenen Umgang mit ‚Widerspruch’ nicht gemeint ist. Sieben Thesen seien für ein besseres Verstehen behilflich. Dabei wird grundsätzlich beim Mensch-Sein selbst angesetzt, d.h. vor einer Wirklichkeits-Deutung durch Glauben bzw. Wissen. Denn das Axiom „Widerspruch“ besagt:

1. Jeder Mensch birgt und verkörpert den Widerspruch d.h. ist per se widersprüchlich, paradox* 2. Des Menschen Wirklichkeit ist daher gegensätzlich und widersprüchlich.

3. Des Menschen Bewusstseins kann bzw. muss seine Wirklichkeit orten und ordnen

durch Unterscheiden und Differenzieren genauso wie durch Sammeln und Bündeln.

4. Dies ist mittels der beiden ‚logischen‘ Ordnungssysteme von Wissen und Glauben möglich.

5. Dialektisch sind diesem Bewusstsein und Denken somit Differenzierung als Unterscheidung und Trennung wie auch Verbindung und Komplementaritätals Ergänzung zueigen.

6. Der Mensch ’sollte‘ um seiner inneren Ruhe und seines Stehvermögens wegen d.h. um persönlich eine subjektive Lebens-Gewissheit zu finden und zu haben, im Lauf seiner Lebens-Geschichte für seinen Lebens-Sinn eine Entscheidung treffen > entweder für ein materialistisch ausgerichtetes ‚Wissen‘, > für einen transzendental orientierten Glauben (bis hin zur Gottes-Beziehung) oder > er bleibt dazwischen hängen bzw. unentschieden stehen. Durch diese Entscheidung gewinnt er Sicherheit, um mit dem Phänomen ‚Widerspruch‘ in seinem Leben umgehen und mit ihm zurechtkommen zu können. Sozio-kulturell ‚kultivieren‘ (Herkunft, Erziehung, Studium, Begegnungen und Beziehungen u.a.) ihn dafür sein ‚Wissen‘ und sein ‚Glauben‘.

7. Christ-Sein bedingt, dass der Christ heute, in der Nachfolge Jesus Christi wie dieser einst selbst im Widerspruch von GottesSohnSein und MenschenSohnSein lebte, in diesem Bewusstsein ‚zwischen Himmel und Erde’ lebt und sich zu bewähren hat mittels eines entsprechenden Bewusstseins von Glauben und Wissen.

Des Menschen Wirklichkeit ist eine Angelegenheit mit zwei Seiten. Die wissenschaftlichen Kenntnisse des heutigen Menschen über Kosmos, Natur und Mensch ist eine Sichtweise und Erkenntnis von Wirklichkeit, eine andere entstammt dem Glauben. Dieses Verstehen menschlicher Wirklichkeit geht von der Beziehung zu Gott, seiner Schöpfung und mir als Geschöpf aus und vermag den mythologischen Schöpfungsgeschichten von einst ihre Relativität zugestehen und weiß um entsprechenden gleich-berechtigten Stellenwert. Wie im antiken und mittelalterlichen Weltbild Makrokosmos und Mikrokosmos auf einander bezogen sind, hat die moderne Astrophysik, dem nicht den Boden entzogen, sondern ‚nur’ eine andere, gleichwertige Betrachtungsweise und Weltsicht hat diese relativ gemacht, bis auch diese im Laufe menschlicher Entwicklung und Forschung vielleicht wieder überholt sein mag – dies alles ist eine dem Widerspruchs-Prinzip entsprechende Wirklichkeits-Sichtweise. Nach Karl Jaspers bewegen wir uns im „Bewusstsein der Achsenzeit“, „Geburtsstunde des systematischen und begrifflichen Denkens“, deren erste er um 500 vor Christus annimmt. Gegenwärtig bewegen wir uns „im Kommen einer zweiten Achsenzeit mit ihren vorrationalen, rationalen und transrationalen Elementen“, zu deren Kennzeichen -meiner Meinung nach- auch Widerspruch und Widersprüche gehören. Dem entspringt der Schnittpunkt von Wissen und Glauben genauso, wie das Fakten-Wissen der wissenschaftlichen Avantgarde bei Erforschung der kleinsten Bestandteile von Mensch und Natur wie auch die Sinn-Frage, die menschlicher Beziehung zu … entspringt. Für Richard Rohr gab es vor 2500 Jahren „am Treffpunkt von Ost und West eine dramatische Erfahrung der intimen Vereinigung mit und der kollektiven Teilhabe an Gott, und zwar in dem Volk, das sich Israel nannte“. Heute leben wir „in einer wunderbaren, gesegneten Zeit, wenn sie diese zweite Achsenzeit annehmen und genießen können, die uns in vielerlei Weise bevorsteht“. Im Blickwinkel des christlichen Glaubens ist für Rohr die Auferstehung Kernpunkt dieser Zuversicht, die den „universellen Menschen“ in eine „universelle Zukunft“ führt. „Im menschlichen Geist Christi erkennt sich jeder Teil der Schöpfung als (1) göttlich gezeugt, (2) von Gott geliebt, (3) gekreuzigt und (4) am Ende wiedergeboren.“(R. Rohr) Über das Menschliche hinaus wäre dies mit den Worten von Papst Franziskus (Enzyklika: „Laudato si“) „Das Göttliche und das Menschliche begegnen einander in den kleinsten Details, sogar im winzigsten Staubkorn unseres Planeten“. Demgemäß wollen vorliegende Überlegungen mit Blick auf und im Blick des Phänomens ‚Widerspruch’, ob menschliches Geschöpf, aufgeklärter Zeitgenosse, agnostischer Mensch von Heute, oder … ein hoffnungsfroher Impulsgeber sein.

„Im Widerspruch“ die Wirklichkeit sehen und die Welt anders verstehen

I Wie vor 500 Jahren …

II … so auch heute

III Heute, ein Leben im Paradox und mit Widerspruch

IV Im ‚Paradox’, d.h. im Widerspruch leben und denken

V Jesus Christus ist ‚lebendiger Widerspruch’ von Glauben und Wissen

VI Die Welt des 21.Jahrhunderts braucht das biblische Zeit-Verständnis

VII Der „Widerspruch“ braucht ‚Beheimatung’ in Raum und Zeit

In einem hochgewölbten, engen gotischen Zimmer spricht Faustus, ein Zeitgenosse Luthers, bei „Nacht“ (in Goethes Faust I) eine menschliche Sehnsucht aus: „Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält!“ Zuvor, beim Spaziergang am Ostermorgen hat er seinem Fabulus Wagner gegenüber bereits seine menschliche Befindlichkeit „Zwei Seelen, ach in meiner Brust“ hinausgeschrien! Ist es der „Widerspruch“, kann gefragt werden, der dem Menschen tagein, tagaus innewohnt und ihn in Gedanken, Worten und Werken begleitet. Hält der „Widerspruch“ gleichsam „die Welt im Innersten zusammen“?! Denn, es ist der Mensch selbst, der oftmals in sich zerrissen, ambivalent und widersprüchlich, bisweilen ein Leben lang „zwischen Himmel und Erde“ den Alltag zu meistern versucht. Muss der Mensch also erst erkennen, dass er „im Widerspruch“ sein irdisches Zuhause hat, und der Weltwirklichkeit im und mit „Widerspruch“ bewusst in Wort und Tat zu begegnen hat?

I Wie vor 500 Jahren … > Sich der Zeitzeugen von Renaissance, dieses Epochen-Wechsel vom Mittelalter in die Neuzeit zu erinnern, die damals bisweilen ‚in sich zerrissen’ lebten, lohnt sich. Ein Heinrich Stromer, Medikus und Begründer von „AuerbachsKeller“ zu Leipzig (1525), wo bekanntlich Dr.Faustus mit seinem weltliterarisch bekannten ‚Oster-Bekenntnis’ „Zwei Seelen, ach, in meiner Brust“ verkehrte, oder Humanisten wie Erasmus von Rotterdam sowie die Reformatoren zeugen davon. Humanistisches Gedankengut von Menschlichkeit und antikem Geist prägten das 15. und 16.Jh., und manche der Christgläubigen erfasste tatkräftig im Glauben ein reformatorischer Wille wider der verweltlichten Papst-Kirche. Martin Luther, Johannes Calvin oder Huldrych Zwingli zeugen von dieser geistigen Haltung. Andrerseits standen berühmte Meister der Kunst wie ein Michelangelo oder Raffael im Dienst der Päpste bei ihren grandiosen Kunstbauten und –werken. Dieser Zeit drückten ebenso weltliche Werke in der Malkunst wie von einem Albrecht Dürer oder Lukas Cranach in Deutschland, oder in Italien von einem Leonardo da Vinci ihren Stempel auf. Er war einer der berühmtesten Universalgelehrten als Maler, Bildhauer, Architekt, Anatom, Mechaniker, Ingenieur und Naturphilosoph. Er sah Menschen und Erde als eine Einheit aus vier Elementen zusammengesetzt, nämlich aus Erde, Wasser, Luft und Feuer. Mit ausgebreiteten Armen und Beinen hat er ihn in den Kreis des Kosmos eingezeichnet, wovon sein berühmtes Bild vom Menschen heute noch Zeugnis ablegt. Ein neues Denken erhielt damals Auftrieb, das heute mehr denn je unseren Alltag in Wissen und Bewusstsein bestimmt. Diese Zeugen von einst lebten ihre Gegenwart und ihren Zeitgeist oftmals im geistigen und geistlichen Zwiespalt, gezeichnet von Ambivalenzen und Widersprüchen zwischen einstigem Glauben und einem neuen Denken, der neuzeitlicher Gewissheit im Wissen. Beispielhaft wird dieses Hin und Her existentieller Suche nach Sicherheit und Gewissheit in vielen Gelehrten dieser Epoche sichtbar. Heinrich Stromers Person sei beispielhaft für solch ein „Leben im Zwiespalt“ genannt, „in den die Zeitereignisse den einzelnen führten.“ (F.Schnelbögel). Auch Luthers und Erasmus Lebenslinie ist von solch einem ‚Leben im Zwiespalt’ bestimmt. Was ist für die Zukunft förderlich zur Welt-Erkenntnis und bei der Lebens-Sinn-Suche? Das herkömmliche ‚Glauben’ oder eher ein neues ‚Wissen, das sich im Geist von Vernunft und Aufklärung anbahnte und durchsetzte. So beherrschte die Humanisten ein Streben nach antiker Weisheit und anerzogener christlicher Ethik. Es begleitete Martin Luther bei seiner Suche nach Glaubens-Gewissheit durch biblische Schrift-Zeugnisse, und ein Jahrhundert später führte es mit René Descartes (1596-1650) zu einer Selbstvergewisserung des Menschen im Prozess künftiger Wissens-Aneignung und -Erkenntnis.

II … so auch heute In der gegenwärtigen ‚Schwellen-Zeit’ zeigen sich Parallelen zur Epochen-Wende des 15.Jahrhunderts. Wissen und Natur-Wissenschaft bestimmen heute Alltag und Denken, gleich wie einst Glauben und Religion maßgebend waren. Im Schnelltempo verdoppelt sich die dem Menschen zugängliche Wissensmenge innerhalb weniger Jahre. Wissen und Wissenschaften üben auf das menschliche Selbstverständnis, auf seine politische und gesellschaftliche Entscheidung gewichtigen und bestimmenden Einfluss aus. Der Glauben hingegen, dessen Blickrichtung eine andere ist und ein anderes Denken aufweist, scheint bedeutungslos geworden zu sein. Seit einem halben Jahrtausend haben Aufklärung und Säkularisierung Vernunft und Wissen zur Vorherrschaft verholfen. „In ihren Grundannahmen“ sind aber die unterschiedlichen Menschen-Bilder der heutigen Geistes- und Naturwissenschaft nahezu unverändert geblieben. Neurowissenschaftlich wird zwar nachgewiesen, die materiellen Nervenzellen und ihre Verbindungen sind untereinander materiell verknüpft, doch dem steht weiterhin die lebensweltliche Erfahrung entgegen bzw. bleibt beantwortungs-offen, dass der Mensch sich selbst übersteigen und denkend über sich hinauswachsen kann. Dies lässt wiederum Geisteswissenschaftler fragen, ob eine rein irdisch-materielle Wirklichkeit schon alles gewesen sein kann? Was ist der Mensch selbst? – bleibt somit auch heute eine stetig beunruhigende Frage menschlicher Existenz, die nach geistiger und geistlicher Deutung und Antwort ruft. Einst ganz dem Glauben, heute ganz dem Wissen verbündet, wagen ‚Gläubige’ bisweilen nur bedingt, sich dem Wissen und dem Glauben zugleich auszusetzen. Denn beide scheinen zueinander im ‚Widerspruch’ zu stehen, dem man sich mit all ihren Spannungen und Problemen normaler- bzw. ‚logischer’-weise nicht aussetzen kann und will. Ob aber beider Miteinander gerade die Chance für ein dialogisches, dialektisches und komplementäres Zusammenwirken in Zukunft beinhalten könnte, bedarf einer anderen, ungewohnten Sicht- und Denkweise!

III Heute, ein Leben im Paradox und mit Widerspruch Einstein hat das Paradox in seinem Weltbild mit Materie und Welle poetisch beschrieben, was auch den ‚religiösen Atheisten’ und Philosophen Ronald Dworkin bei seinen Überlegungen davon ausgehen lässt: „Am Anfang steht das Paradox“. (siehe Spiegel 24/2014, S.62f). Seit alters sind zwar Paradox und Widerspruch im praktischen Alltag von Bedeutung, doch Verstehen und Umgang damit scheinen problematisch zu sein: So ist der Widerspruch der antiken Philosophie genauso zueigen wie dem biblischen Denken, so z.B. im Neuen Testament mit seinen paradoxen Zügen und in Jesu dialektischen Gleichnisreden. Seit dem griechischen Philosophen Aristoteles darf vernünftiges Denken aber nur ‚einfach’ logisch sein und keinen Widerspruch ergeben: „Es ist unmöglich, dass dasselbe demselben in derselben Beziehung zugleich zukomme und nicht zukomme. […] Wir haben eben angenommen, es sei unmöglich, dass etwas zugleich sei und nicht sei.“ Doch dieser Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch bedingt und besagt, zwei einander widersprechende Aussagen können nicht zugleich zutreffen. Mit diesem Grundprinzip der klassischen Logik beginnt und endet aber letztlich abendländisches, vernünftiges Denken.Mit Blick auf gegenwärtige, globale Situationen, die ‚oberflächlich’ bisweilen wie verrückt und widersprüchlich anmuten, erleben wir heutzutage eine Zunahme stetig paradoxer Momente, Situationen und Strukturen. Es sind Vorkommnisse, in denen sich unterschiedliche Momente oder Ebenen richtig verlaufender logischer Handlungs- systeme schneiden und verrückte Situationen hervorrufen. „Auf der Bühne des großen Vielleicht“ (so im Herbst 2013 eine Berliner Veranstaltung in der Reihe „Vorhof der Völker“) wird demgemäß „die richtige Erkenntnis inmitten zahlreicher Paradoxien, Absurditäten und Brüche menschlicher Vorstellungskraft und Logik als viel spannender wie das rechte Handeln“ angesehen. Der Schritt von der bisherigen einfachen Logik (einst im Glauben, heute im Wissen) hin zu einer Art „Doppel-Logik“, die Wissen und Glauben einschließt, ermöglicht dies. Diese Wirklichkeits-Erfassung trägt dann paradox-komplementäre Züge und vermag in der Anwendung (situationsbedingt) ‚zugleich’ gedanklich zu trennen wie zu verbinden um einer notwendigen menschen-würdigen Entscheidung willen. Die Verantwortlichkeit zum Trennen bzw. Ergänzen –wenn sich das Sachproblem als Widerspruch offenbart-, ergibt sich aus dem Bemühen und Erarbeiten eines Kompromisses sowie aus dem praktikablen Zusammenspiel komplementärer Lösungsweg(e). Diese Methode kann bei entsprechenden verwirrenden und paradoxen Situationen und Vorgaben hilfreich sein oder maßgebend werden.

IV Im ‚Paradox’, d.h. im Widerspruch leben und denken

Im ‚Widerspruch’ scheint –so die Hypothese- der Schlüssel für einen Weg in und für die Zukunft des Menschen zu liegen. Das Leben ist und offenbart sich nämlich oftmals ‚auch’ im Paradox. Der Mensch selbst scheint in sich Widerspruch zu sein und verkörpert insbesondere der Christ als ein ‚anthropozentrischen Widerspruch’. Ihm sind Differenzieren und Spalten um der Wahrheit willen genauso zueigen, wie Verbinden und Einen. Grundsätzlich wird angenommen, des Menschen Umgang mit dem ‚Widerspruch’ und sein beständiges Bemühen diesen bewusst oder nicht im Alltag zu bewältigen, lässt sich vernünftig mittels Dialektik und beim Handlungsverlauf mittels eines pragmatischen Paradigmenwechsel nachzeichnen. Demgemäß bedingt der gesellschaftliche Komplementär-Faktor zum Wissen den Glauben (siehe V a+b) und der kirchliche zum Glauben ist die Liebe (siehe V c+d). Ist diese Annahme richtig, hat der denkende wie handelnde Mensch diesem ‚Phänomen’ durch Bewusstsein und Verantwortung gerecht zu werden. Glauben und Wissen scheinen ihm dabei als je eigenständige ‚Phänomene’ von Wirklichkeits-Erfassung dienstbar sein zu können. Beide können, zwar voneinander getrennt, dennoch miteinander verknüpft und ‚komplementär’ gedacht werden. Per se ist Glauben genauso wie Wissen eigen-logisch strukturiert, stehen aber a priori zueinander im Widerspruch. Denn, jede Denkweise beansprucht mit ihrem Absolutheitsanspruch rational und logisch den Menschen stets für sich ganzheitlich. Doch ‚bisweilen’ scheint der christliche Glauben anders zu sein, grenzüberschreitend auf die andere Denkweise zu verweisen, und ‚irgendwie’ beide vereinen zu wollen, wie es der Doppel-Wirklichkeit Jesu Christi wesentlich ist. So weist der Philosoph, Theologe und Physiker Hans-Dieter Mutschler im Grenzgebiet zwischen naturwissenschaftlichem und christlichem Menschenbild darauf hin, dass mit einer Absolutsetzung der Naturwissenschaften und dem Einhergehen eines weltanschaulichen Materialismus zunehmend unsere Lebenswelt in all seinen Dimensionen weniger zu verstehen ist, und sich letztlich aufzulösen scheint. „Der Materialismus blendet nämlich weite Teile der Realität aus, die durch materielle Prozesse allein nicht in unserer Lebenswelt erklärbar sind. Denn „Geist und Materie kommen immer nur in Verschränkung vor“. „Wir erfahren uns als substantielle Einheit mit zwei Aspekten, einem geistigen und einem materiellen. Das ist die Urerfahrung, die wir beständig machen.“ (Halbierte Wirklichkeit, S.266, 2014) Unterschiedlich bestimmen somit beide Blickrichtungen auch unser Bewusstsein: „Für den Naturwissenschaftler ist das Allgemeine das Wahre, für den religiösen Menschen das Besondere, im Grenzfall Einzelne, Unwiederholbare, Nichtvertauschbare.“(S.320) Kann daraus geschlossen werden, dass man Geist und Materie stetig zusammen bedenken sollte. Würde dies auf die Phänomene von Wissen und Glauben übertragen auch eine Doppel-Logik bedeuten? a, Dies würde dann heißen: Beim ‚doppel-logischen Bewusstsein’ hat der Mensch in sich ‚unbewusst’ beides beheimatet, und er ist -situationsbedingt vielleicht im ‚Zwiespalt’- bestrebt, beide Blickrichtungen zu integrieren oder zu trennen, wobei deren existentieller Ausgangspunkt und Kern letztlich der ‚Widerspruch’ von Glauben und Wissen zu sein scheint. Gedanklich mag er diese noch getrennt haben, im Alltag aber geht er damit aber ‚irgendwie’ verbunden pragmatisch um. Die Spannungen, Ambivalenzen und Widersprüche, die dabei bestehen, muss er allein und persönlich aushalten. Um bei solch einer Spannung eine zeitweilige Zerrissenheit abzubauen, ist man bestrebt, sich mit beiden zu arrangieren und ihnen irgendwie gerecht zu werden. b,Diese gemeinhin feststellbare Erfahrung lässt annehmen, der Mensch ist per se „Paradoxon“ d.h. Widerspruch in sich selbst. Ist des Menschen Bewusstsein letztlich aber paradox und widersprüchlich, ergibt sich daraus besagtes ‚doppel-logisches Bewusstsein’ zur Situationsbewältigung und zum Finden einer Lösung. Solch ein Denken weist logische Züge auf bzw. müsste diese aufweisen, da menschliches Leben eine lineare zeitliche Dimension hat und Logik verhilft den Verlauf einer Zeitdimension zu erfassen. Sind im Paradox beide d.h. im Widerspruch Naturwissenschaft und Religion, Wissen und Glauben vereint, könnte dies besagter geschichtsträchtiger „Geist-Materie-Verschränkung“ nach Mutschler entsprechen. Es wäre ein Beleg dafür, dass im Widerspruch selbst Glauben und Wissen axiomatisch verankert und letztlich beide Denkweisen zur Wirklichkeits-Erfassung und –Deutung vonnöten sind! Doppel-logisches Bewusstsein und Denken wäre dann eine Art kognitive Wirklichkeits-Erfassung menschlicher Lebens-Wirklichkeit, die sich menschheitsgeschichtlich im Abendland als Glauben und Wissen zusammengefügt und entwickelt hat mit ihren jeweiligen Wirklichkeits-Sicht und Denk-Weise. Einzig durch bewusstes Denken beider kann sich der Mensch dessen ‚bemächtigen’, seine Lebens-Wirklichkeit –zeitlich gesehen- in Gegenwart genauso wie in Vergangenheit und Zukunft erfassen. Erfahrung und Erkenntnis, Deutung und Erklärung sowie die Verbindung von wissenschaftlicher Forschung und glaubensbegründeter Zuversicht ermöglichen ihm darin und damit Sicherheit zu finden. Der Schlüssel für abendländisches Denken ‚im Widerspruch’ ruht somit in den beiden kultur-geschichtlichen Begriffen: Wissen und Glauben, die ihren Ursprung im philosophischen Denken der Griechen und im Beziehungs-Denken der Hebräer haben. (siehe dazu: Eisend, Chaos-Logik) Stehen in der Antike für das Wissen gleichsam die Griechen mit ihrer Philosophie, ihrem Naturverständnis und ihrem Menschenbild Pate, ist dies beim Glauben insbesondere das Beziehungs-Geschehen und die Bundes-Geschichte der Hebräer mit ihrem Gott Jahwe. Durch ihren Transzendenz-Bezug wusste Israel sich als Volk kollektiv dieser Beziehung eingebunden und trug darin seine Mit-Verantwortung. Im Jahwe-Bund erlebte das Volk Israel Gottes Nähe und Ferne, Heil und Strafe, Verheißung und Erfüllung‚ Biblisch vermochte es seine zeitliche und geschichtlich gemachte Erfahrung mit Gott Jahwe als Heils-Geschichte zu deuten. c, Rational und logisch bedingten also beide Denkweisen beim abendländischen Menschen ein ‚ganzheitliches’ Be-Denken von Lebens-Welt und Lebens–Wirklichkeit. Geschichtlich freilich ist kein doppel-logisches Denken, sondern ein einfaches logisches Denken maßgebend gewesen aufgrund des „ausgeschlossenen Widerspruch“ gemäß Aristoteles. Es bestimmte die abendländische Geistes-Geschichte. Zunächst übernahm zunächst ‚Glauben’ mittels Theologie über Antike und Mittelalter hinaus die Federführung, dann aber bestimmte zunehmend das ‚Wissen’ ebenfalls mittels besagter ‚widerspruchsfreier Ausklammerung’ das neuzeitliche Bewusstsein philosophisch und naturwissenschaftlich.

Der Wissenschaftshistoriker und Philosoph Harald Walach geht mit Blick auf Roger Bacon (1214-1292) davon aus, die Wiege der europäischen Wissenschaft fällt bereits in die Zeit des Mittelalters und der Hochscholastik, da Bacon einen ganzheitlichen Begriff der Erfahrung aus der Tradition des Aristoteles aufgreift. Zum ersten Mal in der westlichen Geistesgeschichte formuliert er den „Vorrang der Erfahrungswissenschaft vor der apriorisch-philosphisch vorgehenden Wissenschaft“. In seinem Werk „opus majus“ geht Bacon von zwei Formen der Erfahrungswissenschaft aus, einer durch die inneren Sinne –ihr ist der theologische Bereich zuordbar- und einer durch die äußeren Sinne, was Himmel und Erde zu erkennen vermag mittels philosophisch-naturwissenschaftlicher Überlegungen. „An der Wiege der abend-ländischen Wissenschaft“ stand also „ein einheitlicher, noch undifferenzierter Erfahrungsbegriff. Dieser umschloss die äußere Erfahrung der Welt durch die Sinne und die innere Erfahrung der Welt durch einen Innensinn“(Harald Walach); beide lassen sich, meiner Ansicht nach, mit Wissen und Glauben bezeichnen und erfassen.

V Jesus Christus ist der ‚lebendige Widerspruch’ von Glauben und Wissen

Jesus Christus ist Gottes-Sohn, dieses Glaubens-Dogma der Christen wurde letztlich zum Trennungsdogma zwischen Judentum und Christentum. In und an ihm kreuzten und verschmolzen jüdische Glaubenskultur (mit ‚Glauben’) und hellenistische Weltkultur (mit ‚Wissen’ bezeichnet). Jesu Beziehung zum „Abba Vater“ ist dem genauso zueigen wie sein Menschen-Sohn-Sein und die Einbindung in die Menschheit. Als Religionsstifter kann Jesus somit dem Glaubens-Verständnis der Hebräer und der griechischen Sichtweise vom Mensch-Sein zugeordnet werden. Christliches Glauben und Leben in der Nachfolge Jesu Christi beinhaltet daher auch dessen Gott-Sein und Mensch-Sein. Diesem existentiellen „anthropozentrischen Widerspruch“ entspricht das Doppel-Bewusstsein von ‚Glauben’ und ‚Wissen’ jedes Christen. Ist Jesus Christus nämlich der „Erstgeborene“ (Kol 1,15–20), dann gilt dieses „Zugleich“ von GottesSohnschaft und MenschSein für jeden Christen. Was dies dem Christen in seiner Weltverantwortung heute als Sohn bzw. Tochter Gottes (vgl. Röm 8,19) bedeutet, was seinem Heilsdienst in der kirchlichen Glaubensgemeinschaft, was in der eschatologischen Zielvorstellung von Reich Gottes (vgl. Mk 1,15), ist seit Jesus zur immerwährenden, grundsätzlichen Frage christlicher Existenz geworden, insbesondere in der Moderne. Wie einst gilt auch heute, dass gleich Jesus Christus der Christ stetig in „zwei Wirklichkeiten“ lebt: Er lebt in dieser Welt und ist zugleich nicht von dieser Welt! (Joh 17,11.16) Für den Christen hat somit neben dem (griechischen) menschlich-räumlichen Dasein, auch seine (biblische) göttlich-zeitliche Dimension in Gottes Gegenwart maßgebend zu sein.

In der Person Jesus Christus erfolgte einst die Axiomsetzung des Widerspruchs (Gott-Mensch > Gottes-Sohn und Menschen-Sohn), der den Christen in seiner Nachfolge komplementär in ‚Gottes Gegenwart’ und des ‚Menschen Dasein’ einbindet und ausrichtet. ‚Christliches Bewusstsein im Widerspruch’ ist demgemäß beim Menschen dialektisch beim Denken eine logische Ergänzung der Gegensätze bzw. des Widerspruchs von Glauben und Wissen, genauso wie beim Handeln diakonisch, in einer um des Menschen willen logischen Ergänzung von Glauben und Liebe verankert. Für die Nachfolge ist gemäß dem Widerspruch Gott-Mensch der christliche Glaube eine Verschränkung von Wissen (Tod) und Glauben (Auferstehung) und genauso maßgebend, wie die Gleichzeitigkeit von irdischer und nicht-irdischer/göttlicher Wirklichkeit im Leben. Gott und Auferstehung bedingen also beim Christen als Glauben als eine ‚irdische’ Tatsachen-Annahme von Weiter-Leben, und jedes Christ-Sein samt Sendungs-Auftrag gehen vom Widerspruch: Tod und Auferstehung aus.

Mag dies auch den einen als Gegensatz erscheinen, beim Christen vertieft es sich existentiell zum ‚Widerspruch’. Beidem ist er lebenslang im persönlichen Denken in Form von Kritikfähigkeit und Distanzhaltung genauso ausgesetzt wie ihm auch der Gegenzug von Sehnsucht nach Einheit und Harmonie zueigen ist; einzig in der Situation zeigt sich was relevant ist bzw. wäre durch Entscheidung. Grund dieses Gegensatzes/Widerspruchs kann die abendländische Entwicklung mit ihrem Differenzierungs-Vermögen im geistes-geschichtlichen Kontext wie auch in ihren Spaltungs-Vorgängen im sozio-gesellschaftlichen Leben, gedeutet, erkannt und verstanden werden, sei es bei Gruppen, seien es Herrschafts-Bereiche u.a. Grund dieses Blickfelds lassen sich die Anfangsformen bei der Ur-Gemeinde auf Personen hin genauso erklären wie nachfolgende Kirchenspaltungen, insbesondere zwischen der weltlichen und östlichen Kirche 1054, oder dann zur Reformationszeit mit ihren Spaltungs- und Trennungsvorgänge in konfessionelle Kirchen und Gemeinschaften.

a, In der Nachfolge Jesu Christi mit seinen „zwei Wirklichkeiten“ ist der Christ heute wie einst berufen zu einem Sendungs-Auftrag in Welt und Kirche, der den Widerspruch zu bewältigen und zu integrieren vermag. Als Gläubiger hat er die Welt-Wirklichkeit und als Wissender die Glaubens-Wirklichkeit anzufragen, und darin in Liebe zu leben, zu handeln und damit umzugehen d.h. eventuell durch Paradigmenwechsel zuversichtlich in die Zukunft weiter voranzugehen. Salopp in unsere heutige, technologiegeprägte Kultur hinein gesprochen, verantwortet Jesus Christus als Widerspruch gleichsam die Software in der abendländischen Entwicklung der Menschheit mit all ihren Vertiefungen durch Differenzierung sowie Gemeinschaftsleben, bisweilen durch Spaltung; Raum und Zeit verkörpern/stehen dabei für die Hardware irdischer Wirklichkeit. Deshalb ist heute der Christ und sein Christ-Sein mehr denn je gefragt und angefragt im Umgang und bei Bewältigung von Widersprüchen im alltäglichen Leben wie bei den globalen Problemen, wenn er seinem Sendungsauftrag nachkommen und an Kirche und Welt den Heilsdienst ausüben will. b, ‚Christliche Existenz’ im Glauben und Wissen bedacht, ist oftmals einer Doppel-Wirklichkeit d.h. Deutung ausgesetzt. Seit Anbeginn seines Mensch-Seins bzw. seiner Erschaffung steht der Christ in der Verantwortung, die Welt zu nutzen und zu gestalten (philosophisch bedacht) und zugleich als Geschöpf die Schöpfung von Erde (biblisch gesehen) zu pflegen und zu bewahren. In Gott weiß sich der Christ der zeitlich-linearen Verheißung anvertraut, ein Leben auf Erden „in Fülle“ und „im Frieden“ zu erstreben bzw. zu haben. Daraus lässt sich heute für den einzelnen Christen wie die kirchliche Glaubens-Gemeinschaft die Frage ableiten: Was und Wie sind im 21. Jahrhundert christliches Bewusstsein und Handeln zu verantworten, um einer „Menschwerdung“ von Kirche und Welt in der Nachfolge Jesu zu dienen? c, Im Laufe von Theologie- und Kirchen-Geschichte wurde der christlichen „Glaubens-Vernunft“ die Liebe zu bzw. untergeordnet, obzwar seit Anbeginn der Beziehungs-Logik zwischen Jahwe und seinem Volk Israel die ‚Liebe’ gegenüber dem Glauben im biblischen Zeugnis gleichwertig war. ‚Glauben’ wurde so als Beziehungs-Faktum (nicht als Beziehungs-Geschehen von Liebe) zwischen Mensch und Gott so auch bei Jesus Christus maßgebend, samt seiner theologischen Selbst-Widersprüche wie beim Paradox: Mensch-Gott, Tod-Auferstehung. Die Liebe war dabei zwar stets eingebunden, sekundär aber in ihrer (sozialen) Gewichtung und strukturellen Auswirkung. Daher ist die Frage angebracht, ob christlicher- und kirchlicherseits künftig Glaube und Liebe nicht grundsätzlich gleichwertig einzustufen und ‚komplementär’ anzuwenden sind. Man bedient sich dann situationsbedingt bei einem Widerspruch der Möglichkeit ‚Liebe’ als komplementäre Ergänzung zu sehen, wie dies auch bei der ‚säkularen’ Lebens-Welt mit ‚Wissen’ und ‚Glauben’ geschehen sollte? Damit könnte besagte komplementäre, doppel-logische Denkweise der beiden Logik-Systeme Glauben und Wissen, -kirchlicherseits- genauso als Glaube und Liebe in unserem Bewusstsein erfasst und beheimatet werden. Damit umzugehen, würde dann zum christlichen Denken, Entscheiden und Handeln genauso dazu gehören, wie künftig dies für eine christliche Lebens-Welt im bzw. mit ‚säkularem’ Bewusstsein selbstverständlich wäre. d, Papst Franziskus weist in seinem apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ (Die Freude des Evangeliums, 2013) beim Erfassen und Bedenken von Wirklichkeit auf den Widerspruch „Jesus Christus“ hin, der dieses „Paradox“ von Glaube und Liebe verkörpert. Dieses Paradox ist kirchlicher Nachfolge Jesu Christi zueigen, und hat christlichem Denken und Handeln zu entsprechen. Mit Verweis auf Benedikts Enzyklika „Deus Caritas est“ schreibt er „Auf verschiedene Weise schöpfen die Freuden aus der Quelle der stets größeren Liebe Gottes, die sich in Jesus Christus kundgetan hat. Ich werde nicht müde, jene Worte Benedikts XVI zu wiederholen, die uns zum Zentrum des Evangeliums führen: Am Anfang des Christseins steht … die Begegnung mit dem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt.’“(7) Christ-Sein hat also im Denken und Handeln ein Bewusstsein zueigen, das sämtliche Paradoxien, Absurditäten und Brüche zu integrieren vermag; eine Liebe, die gleichsam komplementär neben dem Glauben steht. Liebe hat demgemäß Vorrang vor einer rein dogmatischen Glaubens-Logik. Der Vorgang „in Liebe“ kann und will –global und gesellschaftspolitisch bedacht- die konziliaren Prinzipien „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ (wie im ökumenischen konziliaren Prozess grundgelegt und seit 1989 vermittelt) als Handlungs-Ziele allen Christen und ihren Kirchen dienen. Brüche wie Paradoxien sind christlichem Bewusstsein zueigen und kirchlichem Handeln eingebunden bzw. sind entsprechend zu berücksichtigen und einzubinden in der komplementären Polarität von Dogma und Pastoral. Dies könnte katholischerseits bei der Wiederverheiratet-GeschiedenenFrage bedeuten, dem Ehe-Sakrament dank priesterlicher Stellvertretung gleichwertig das Heilungs- und Versöhnungs-Sakrament der Umkehr/Buße in Liebe dabei zu berücksichtigen. Ökumenisch könnte dies des weiteren besagen, bei den Gemeinschaftsfeiern von Eucharistie/Abendmahl/Brotbrechen ist den Christ-Gläubigen dank Gastfreundschaft in ‚Liebe’ ein Vorzug zu gewähren, -zudem fehlende Einheit christlicher Glaubens-Gemeinschaft schwerlich als Zeugnis für Gottes Gegenwart stehen kann. Dialektisch und komplementär sind also in der christlichen Lebens-Welt Glauben und Liebe geistig wie geistlich enger miteinander zu verbinden! Bewusst muss dabei aber bleiben, der jeweils ‚einfachen’ Glaubens-Logik mit ihrer Unvereinbarkeit und der Trennung wegen, ist in Liebe stetig der Brückenbau anzustreben und anzugehen. „Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind, da bin ich mitten unter ihnen“(Mt 18,20), will und kann situationsbedingt auf der Handlungsebene Heil und Hoffnung schenken. Das Mehr in ‚Liebe’ ergänzt um der Einheit willen somit komplementär einfaches logisches Glaubens-Denken. Dies erfordert im christlichen und kirchlichen Bewusstsein auf der Handlungsebene für eine glaubwürdige Praxis gewiss Metanoia, ein Umdenken auf ‚doppel-logische’ Art und Weise und das Aushalten solch ‚christlicher Spannung’ im Widerspruch.

VI Die Welt des 21.Jahrhunderts braucht das biblische Zeit-Verständnis

Historisch wurden Zeit und Raum als unabhängige Begriffe verstanden und sind unabhängige Begriffe der Wirklichkeit. Seit der griechischen Antike beruht die Raum-Vorstellung auf der Geometrie (Höhe-Länge-Breite), die durch Euklid (270 v.Ch.) formalisiert wurde. Ihr wurde bis zum Mittelalter das Zeit-Verständnis der Griechen, das üblicherweise zyklisch verstanden wurde genauso zugeordnet wie das der Hebräer, das der schöpfungsbedingten Natur- Beobachtungen gemäß zyklisch war, aber dem menschlichen Geschöpf gemäß linear gedeutet wurde. Das Volk Israel stand mit dem treuen Bundes-Gott Jahwe in einer geschichtlichen Beziehung und als seinem Schöpfer-Gott zugleich in steter Gegenwart. Das auserwählte Volk lebte genauso in Jahwes Gegenwart wie später Jesus seine Lebens-Zeit als Gottes-Sohn mit dem Abba-Vater. Diese zeit-geschichtliche Begleitung im ‚Glauben’ war im Einklang mit dem biblischen Schöpfungs-Verständnis und bis in die Neuzeit hinein dem maßgebenden Zeit-Verständnis der euklidischen Raumvorstellung eingebunden.

Zur ‚räumlichen’ Sackgasse kam es im Zeit-Verständnis durch Einsteins neuzeitliche Relativitätstheorie (ab 1905). Dank vorausgegangener Erkenntnisse anderer naturwissenschaftlicher Bereiche baute sie nämlich auf nicht-euklidischen Geometrien auf, und veränderte die Vorstellung vom Raum im 20.Jh. vollständig. Den drei Raumdimensionen wurde als vierte Dimension die Zeit (t) hinzugefügt, und die räumlichen und zeitlichen Koordinaten konnten sich bei Transformationen in andere Bezugssysteme miteinander vermischen. Doch damit wurde die Zeit als vierte Dimension physikalisch mit Uhren-Zeit gleichgesetzt und verdrängte die menschliche Lebens-Zeit, wofür insbesondere der biblische Glaube bisher Garant war. Denn alle Verbindungen zwischen Uhrenzeit und Raum resultieren direkt aus der Definition der Uhren-Zeit. Sie ist per Definition nichts anderes als Raum oder Bewegung im Raum. Die Zeit als physikalische Größe beschreibt dabei eine Abfolge von Ereignissen und hat eine eindeutige, unumkehrbare Richtung. „Zeit“ beinhaltet bei dieser „Gesamtsituation“ den „Zusammenhang aller in der Vergangenheit passierten, jetzt gerade in diesem Augenblick passierenden, sowie zukünftig passierender Ereignisse“.(Einstein) Die Uhren-Zeit ist nach Ivo Muri „ein „kreisrundes geeichtes Metermass zur Regulierung zwischenmenschlicher Beziehungen im Raum“. Daher ist die Zeit der Uhren die Zeit der Physiker, nicht aber die Zeit des Lebens. Seitdem stehen sich Lebens-Zeit und Uhren-Zeit konträr bzw. komplementär gegenüber – einzig der Blickwinkel ist maßgebend.

Diese Entwicklung erfährt nach Einstein eine Zuspitzung in der Auflösung von Zeit. Ein Blick auf den Zusammenhang zwischen dem alten Zeitproblem und der modernen Physik offenbart nämlich, dass sich die Zeit gleichsam auflöst. (siehe Claus Kiefer, Der Quantenkosmos) Im Blickfeld der Quantenkosmologie wird das Universum, der Kosmos als eine einzige zeitlose und überaus komplexe Wellenfunktion aufgefasst. Die Zeit wird beseitigt, entlang der sich die Wellenfunktionen in der „Viele-Welten-Interpretation“ ins Unendliche verzweigen. Physikalisch und naturwissenschaftlich ist heute nur mehr der ‚Raum’ maßgebend. Menschliche Existenz als Lebens-Zeit scheint quantenkosmologisch bedeutungslos geworden zu sein.

Wie einst bei den Griechen besitzt der Raum auch heute primäre Gültigkeit. Zwar kannten sie noch verschiedene Zeiten: den Zeitpunkt – den Kairos, und den Zeitverlauf – den Chronos, der zyklisch war. Doch mythologisch entbehrt bei den Griechen die Gegenwart bereits ihrer ‚lebendigen’ Eigenständigkeit, da der Vater Kronos seine Kinder, die Kronoiden fraß. Im Zyklischen Denken kann dies analog gedeutet werden: Jeder Zeit-Punkt ‚Kairos’ ist im Chronos eine räumliche Größe, doch letztlich unbestimmbar, da Gegenwart als ‚Kairos’ zwischen Vergangenheit und Zukunft ist uns sich stetig auflöst. Gegenwart hat demgemäß bei den Griechen keine sozio-kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung. Sie haben Chronos als Kreislauf auf der räumlichen Handlungsebene des Menschen angesiedelt, und den Kairos als ‚augenblickliches’ Lebens-Ereignis letztlich unfassbar und geheimnisvoll bedacht. So ist auch die Uhren-Zeit per Definition „nichts anderes als eine Wegstrecke (Chronos) – eine Distanz zwischen zwei Zeitpunkten (Kairos) – eine geographische Distanz – eine Abbildung von Punkten auf der rotierenden Erdkugel“. (Ivo Muri). Dieser räumlich-linearen Sichtweise bindet Einstein bei seinem Zeit-Verständnis als einer physikalischen Größe die Gegenwart ein. Für ihn handelt es sich nur um eine Abfolge von Ereignissen und einer eindeutigen, unumkehrbaren Richtung. „Zeit“ beinhaltet bei dieser „Gesamtsituation“ den „Zusammenhang aller in der Vergangenheit passierten, jetzt gerade in diesem Augenblick passierenden, sowie zukünftig passierender Ereignisse“. Doch gerade darin offenbart sich die Notwendigkeit eines anderen Zeit-Verständnisses, dem auch die menschliche Lebens-Zeit zueigen ist. „Wenn wir die Gegenwart wahrnehmen, uns an die Vergangenheit erinnern oder die Zukunft planen, arbeiten wir gleichsam mit den drei Raumdimensionen. Will man Zeit als vierte Dimension verstehen, wie dies bei Lebenszeit der Fall ist, muss sie außerhalb des Raumes sein d.h. außerhalb der anderen drei Dimensionen, welche wir als Materie mit unseren Augen, Nasen und Ohren wahrnehmen.“ (Ivo Muri, Die Uhr, S.83)

Klammert das physikalische Zeit-Verständnis und diese Wirklichkeitssicht das letztlich Leben aus, dann ist zu fragen, was neben Wissen und Wissenschaft noch zum Leben gehört? Ist es der Glauben, dem menschliche Lebens-Zeit als Beziehungs-Zeit wesentlich ist. Dient das „kreisrunde Metermass zwischenmenschlicher Beziehungen im Raum“ der Uhren-Zeit des Wissens, dann beinhaltet der Glauben die Regulierung zwischenmenschlicher wie transzendenter Beziehungen, was die Lebens-Zeit des Menschen wie der Menschheit einschließt. Seelenlose Raum-Zeit des Wissens und beseelte Lebens-Zeit des Glaubens würden sich dabei komplementär ergänzen.

Die Zeit könnte dann als vierte Dimension zugleich ein Zeit-Punkt, ewig und unveränderlich wie Mensch-Sein oder Gott-Sein und zugleich bewegt und dynamisch wie ein Zeit-Pfeil als Beziehungs-Geschehen voller Leben sein. Dem zyklischen Zeitmaß einer Uhr gleich kann der Zeit-Punkt von Gottes Gegenwart mit Kairos gleichgesetzt werden, und der Zeit-Pfeil der Menschheits-Geschichte in Immanenz und Transzendenz. Hilfreich dabei ist das biblische Zeitverständnis, das für den Menschen von Anbeginn das Beziehungs-Geflecht bzw. den ‚Bund’ zwischen Gott und Mensch in Gottes Schöpfung beinhaltet. Damit bewegen wir uns im logischen Ordnungsgefüge des ‚Glaubens’ und nicht mehr des ‚Wissens’. Im christlichen Glauben ‚weiß’ der Mensch um die Beziehung Gott-Mensch und hat über das Kollektiv-Bewusstsein des Volkes Israel, sodann der Individual-Beziehung Jesu Christie bis hin zur kirchlichen Gemeinschaft unserer Tage dieses Bewusstsein entwickelt und kultiviert. Im Glauben ist alles menschliche Geschehen d.h. Lebens-Zeit kollektiv wie individuell (von der Geburt bis zum Tod) in den Ablauf der Zeit gestellt und prägt menschliches Verhalten gegenüber der Wirklichkeit. Sehen wir heute die Zeit aber nur mehr physikalisch, und weisen der biblischen Sichtweise, die im Laufe der Neuzeit bedeutungslos geworden ist, nur einen ‚Vergangenheits-Wert’ zu, dann werden wir dem menschlichen Dasein mit seiner Lebens-Zeit nicht gerecht. Denn der Mensch ist mehr als nur ein physikalisches berechenbares Gebilde bei seiner mit dem gesamten Weltall vergleichbaren Komplexität. Vom Widerspruchsprinzip her ist daher ein Paradigmenwechsel analoger Art zu vollziehen! Nur physikalisches Denken ist zu verlassen, und die Zeit erhält durch menschliche Lebens-Zeit ihre komplementäre Ergänzung. Diese Annahme lässt sich auch mit Einstein belegen. In seiner speziellen Relativitätstheorie vertritt er die These, dass gleichmäßig gegen einander bewegte Systeme nicht voneinander unterscheidbar sind. Werden ‚Wissen’ und ‚Glauben’ als komplementäre Größen angesehen, beinhalten beide in sich geschlossene Wirklichkeits-Systeme, die sich gegeneinander im ‚Widerspruch’ bewegen. Dies gilt dann für das physikalische, raumbedingte Zeit-Verständnis des ‚Wissens’ genauso wie für einen biblisch-geschichtlichen Zeit-Pfeil des ‚Glaubens’.

Für menschliche Zukunft ist ein Paradigmenwechsel vonnöten, so die These, gleichsam vom t d.h. vom physikalischen ‚tempus’ zum b d.h. Beziehungs-Geflecht zwischen Mensch-Sein und Gott-Sein, wie in der ‚biblischen’ Mensch-Gott-Beziehung grundgelegt. Die biblische Sichtweise und ‚transzendente Begleitung’ menschlicher Existenz ist gefragt! und muss die eindimensionale physikalische ‚Zeit-Sicht’ ergänzen bzw. kann diese durch das biblische Fakt: Gott-Mensch-Beziehung ersetzen. Diese biblische „Beziehung“ beinhaltet die Vorstellung einer eindeutigen, gerichteten Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft unter Gottes Gegenwart und Begleitung –siehe Volk Israel, Jesus Christus, jeder Christ, Kirche, …-, die für die abendländische Entwicklung des Menschen seit Anbeginn des ‚Glaubens’ bis in die Neuzeit hinein maßgebend und von Bedeutung war und ist. Auch wenn ‚Glauben’, in der Moderne bedeutungslos geworden zu sein scheint, bedingen Einsteins Relativitätstheorie sowie Quantenkosmologie die Berechtigung und Notwendigkeit des ‚Glaubens’ in bzw. für Raum und Zeit.

Beim ‚Widerspruchs-Prinzip’ sind gleichsam der geschichtliche drei-teilige Zeit-Ablauf (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) des ‚Glaubens’ und die drei-dimensionale Raum-Ausdehnung (Höhe-Länge-Breite) des ‚Wissens’ die beiden komplementären Größen. Menschlichem Dasein ist diese Wirklichkeits-Sicht zugeschrieben, und muss um des Menschen willen über ein rein physikalisches Verständnis hinaus ‚transzendierend’ mitbedacht werden. Ein physikalischer Raum ohne ‚Zeit’ schafft weder die ‚Lebens-Zeit’ des Menschen mit Freud und Leiden aus der Welt, noch sollte der Mensch physikalisch materialisiert werden. Also bedarf menschliches Bewusstsein und Denken wieder, was ehemals selbstverständlich, die ‚biblisch-lineare Zeit’, die -theoretisch wie praktisch- durch „Glauben“ gefüllt ist. Dem Widerspruch-Prinzip entsprechend müsste solch einer Annahme –theoretisch, nach Ronald Dworkin- auch bei a-theistischer Grundhaltung zugestimmt werden können.

Zeitereignisse und Lebensumstände in ihrer zunehmenden Komplexität und Verdichtung bestimmen unsere Gegenwart regional wie global. Vielseitige Probleme von Zerrissenheit und ambivalente Positionen bedingen dabei persönliche wie kollektive Spannungen, die ihrer Widersprüchlichkeit wegen, ohne Lösungswege zu sein scheinen, und führen dann zu terroristischen, mörderischen und kriegerischen Auseinander-setzungen der ‚Ent-spannung’ wegen. Nur bedingt bewirken Vereinbarungen Rechts-Frieden – wie dies bereits vor 500 Jahren der Fall war. Damals wurden ‚Zeit-Probleme’ ebenfalls meist gewaltsam durch Trennung und Spaltung oder vereinzelt durch Verbindung und Friedens-Vereinbarungen (siehe: Augsburger Reichs- und Religionsfrieden 1555, zunächst religiös hilfreich; der primär weltliche ‚Westfälischer Friede’ 1648 zur Beendigung des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland und zugleich des achtzigjährigen Unabhängigkeitskriegs der Niederlande) ‚gelöst’.

Die damaligen Zeit-Umstände und Widersprüche geistlich-reformatorischer, weltlich-revolutionärer Art bedingten entweder gegenseitige Kämpfe und Kriege, mit menschliches Leiden und Vernichtung von Natur, Kultur und Mensch, oder das Bemühen um geistige ‚Konflikt-Lösung’. Menschlicher Geist mit neuen Ideen und Idealen, Abschied und Trennung von althergebrachten Überzeugung und Tradition führte Menschen zusammen, die durch Begegnung und Austausch Lösungswege friedlicher Möglichkeiten erwogen und friedensstiftende Kompromisse bewirkten. Der Mensch in seinem Menschsein wurde zusehends mit seiner ‚Vernunft’ gesehen und gefordert, verstand sich als mündig und eigenverantwortlich. Eine entschieden andere Denkweise, die später als ‚Wissen’ erkannt und anerkannt wurde, segelte gleichsam „den Ufern der Neuzeit“ entgegen, und gab zusehends auch der ‚Zeit’ eine neutrale, glaubens- und gott-freie Gewichtung.

Die Geburt Europas im Mittelalter“, beschreibt der französische Historiker Jacques Le Goff im gleichnamigen Buch. Es ist auch eine Entwicklung vom Glauben zum Wissen, was mit der Beschleunigung von Zeit einherging. Denn beim Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit (Renaissance, Humanismus, Reformation) revolutionierte sich Europas Entwicklungs-Geschichte im Umgang mit der Zeit. (siehe S.262ff) Man band sich dem linearen Zeitfluss von Entwicklung und Fortschritt ein. Zugunsten von Vernunft-Wissen begann der Glauben den Rückzug und sein Schwinden in der sich zusehends selbst aufklärenden und säkularisierenden Gesellschaft. War das Mittelalter noch eine Periode, die unter der Herrschaft des Christentums und der Kirche stand, folgte dem im Rückgriff auf Antike und Humanismus zwar zunächst noch ein Denken im Gleichgewicht von Glauben und Vernunft. Doch Glauben und Kirche differenzierten sich theologisch und spalteten sich konfessionell in katholisch und evangelisch, und die christliche Glaubens-Gemeinschaft einstiger Einheit im Westen erhielt den Grundzug von Differenzierung und Spaltung mit all ihren Ambivalenzen. Auch die mittelalterliche Machteinteilung in weltliche und geistliche, die mit Luthers „Zwei-Reiche-Lehre“ eine neue geistige Qualität erhielt, bewirkte eine Vielfalt neuer geistlicher Herrschaftsbereiche in der ‚Obhut’ oder im Zusammenwirken mit weltlicher Macht. Inhaltlich und strukturell begann sich die Gesellschaft in Staat und Kirche bzw. kirchliche Gemeinschaften aufzuteilen – sofern nicht eine ‚gott-freie’ weltliche Macht ihren Machtanspruch auch wider den ‚Glauben’ durchsetzte. War in der Zeit des Mittelalters noch „alles vom Religiösen überzogen“ und die ganze Zivilisation, vor allem die materielle Kultur „im Religiösen eingebettet“ (Karl Polanyi), stiegen nun „die Werte vom Himmel auf die Erde herab“ und verwandelten „die religiöse Hülle für den (weltlichen) Fortschritt in ein Sprungbrett“: „Fortunas Spiel mit der Vorsehung wurde immer weniger dem in einer zirkulären Zeit sich drehenden Rad überlassen, sondern mehr den individuellen und kollektiven Anstrengungen der Europäer in die Hand gegeben. In keinem Bereich hat die Kreativität der mittelalterlichen Europäer solche Fortschritte erzielt wie im Umgang mit der Zeit.“ Der Mensch der Neuzeit nahm die Zeit selbst in die Hand, und setzte sich zugleich der Eigendynamik von Zeit und Fortschritt aus bis hin zum heutigen Zeit-Gebrauch und –Nutzen. Hatte sich das mittelalterlichre Europa, um weiter und besser voranzukommen, noch der Hilfe biblischer Begründung mittels Altem Testament und Judentum, sowie eines Wochen-Rhythmus und jährlicher christlichen Festtage bedient, ist für den heutigen Menschen dieser Glaubens-Horizont gesellschaftlich bedeutungslos. Zu Beginn der Neuzeit wurde die Bibel zur „Beherrschung des Zeitmaßes“ als einem „Werkzeug des Fortschritts“ noch genutzt, was inzwischen geschwunden, der Zeit kulturell und existentiell nur mehr einen materialisierten Wert zugesteht –siehe Raum-Zeit- mit ökonomischem Nutz-Wert: Zeit ist Geld. ‚Gesellschaftliche Produktions-Zeit’ und ‚individuelle Seelen-Zeit’ scheinen einander ‚im Widerspruch’ zu sein, und verstärken eine rein geistige ‚Zeit-Materialisierung’.

Dem gilt es heute gemäß dem „Widerspruch-Prinzip“ entgegenzusteuern. Menschliches Handeln muss wieder in Einklang mit natürlicher Lebenszeit wie auch kollektivem Mensch-Sein gebracht werden, regional wie global. Ein natur-wissenschaftliches ‚materialisiertes’ Raum-Zeit-Verständnis bedarf der Ergänzung durch den ‚Glauben’ – jedenfalls theoretisch, wie bereits angeführt. Menschlicher Existenz ist ‚Wissen’ und ‚Glauben’ konstitutiv und selbstverständlich. Im Paradigmenwechsel ist die Zeitdimension mit ihrem Faktor t(tempus) durch b(biblisch) zu ersetzen. Die bisherige rein ‚physikalische Zeit’ braucht inhaltlich den ‚Glauben’ in seiner drei-teiligen biblischen und christlichen Beziehung-Geschichte von Gott und Mensch, und ist demnach als komplementäre Ergänzung zum wissens-relevanten ‚Raum’ zu verstehen. Biblisches ‚Glauben’ ist von Nutzen, hat einen Sinn und erhält für ‚Gläubige’ aller Religionen einen Neubeginn bei deren globaler Mit-Verantwortung. Versteht und erfasst der Mensch -um seiner selbst willen- sein ‚Erden-Dasein’ in Raum und Zeit vom ‚Paradox’ her (siehe Albert Einstein, Ronald Dworkin), kann er seines ‚linearen’ Lebens bzw. Überlebens wegen, die „Zeit“ (im Synonym für Transzendenz-„Beziehung“) wieder in seiner Zukunfts-Planung durch ‚Wissen’ und Zukunfts-Gabe durch ‚Glauben’ gestalten und meistern. Den Gottes-Glauben kann dabei der Christ in menschlich-christlicher Deutungs-Verantwortung als ein menschliches Beziehungs-Geschehen und göttliches Beziehungs-Geschenk erfahren.

VII Der „Widerspruch“ braucht ‚Beheimatung’ in Zeit und Raum, denn

„das Gleiche lässt uns in Ruhe, aber der Widerspruch ist es, der uns produktiv macht“, schrieb einst Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832). Im Gespräch gilt es daher die produktive Kraft von Wissen und Glauben zu ergründen und einander auszutauschen. Gemeinsam kann man in der Ergänzung beim Gespräch kreativ und produktiv werden, wird man stark und gewinnt Zuversicht auch bei Schwierigkeiten bis hin zu Widersprüchen, im Miteinander einen Lösungsweg zu finden.

Vor 500 Jahren hatten wir gewiss auch solche Situationen, wofür symbolhaft „Auerbachs Keller“ stehen mag. Unterschiedliche theologische und humanistische Meinungen und Ansichten, gleichsam ‚Geister im Zwiespalt’ von Renaissance, Humanismus und Reformation, suchten damals Christen die Wahrheit im Glauben, und fällten trotz ihrer bisweilen zerrissenen, ambivalenten und lebensgeschichtlich widersprüchlichen Umstände Entscheidungen für oder wider kirchlicher Glaubens-Lehre und Papst-Kirche. Für manche bedeutete dies zunächst auch, sich vom Glauben zu entfernen, und als Mensch in die Neuzeit sich ganz und gar der Vernunft zu bedienen, sich ‚aufgeklärt und mündig’ einzig dem ‚Wissen’ zuzuwenden, der Philosophie und Naturwissenschaft. Heute befinden wir uns global in einer entsprechenden Ausgangslage, wobei sich die einfachen ‚Logik-Systeme’ von Glauben (bis zum Mittelalter) und Wissen (ab Neuzeit) dem Ende zuzuneigen scheinen. Das Paradox, der Widerspruch menschlicher Existenz selbst scheint uns heute mit Geist und Herz ganz allgemein und alltäglich zu beschäftigen, so wie einst die vier Studenten in „Auerbachs Keller“ durch Mephistopheles und Faustus als den Vertretern von Magie und Wissen umgetrieben wurden. Doch bevor Goethes Faust „Auerbachs Keller“ als studentische Spelunke und Ort diabolischer Mächte weltberühmt machte, war dieser „Keller“ ein Treffpunkt für Studenten wie Dozenten, eine Herberge für weitgereiste Händler und welterfahrene Besucher. Diesem ‚Keller’ waren die Geheimnisse dieser Zeit genauso eingeschrieben wie der Geist von Humanismus und Reformation. Begegnungen führten zu Beziehungen zwischen Menschen mit Geist und Würde, zum Austausch und Dialog zwischen Glaubenden und Wissenden inmitten einer Zeit von Zerrissenheit und Widersprüche. Dessen gilt es sich heute bei „Auerbachs Keller“ zu erinnern, ihn vielleicht als Begegnungs-Ort zum Austausch von Glauben und Wissen inmitten unserer „Gegenwart im Widerspruch“ zu sehen. Denn Gespräch und Austausch sind in einer Welt vonnöten, in der sich der Einzelne bisweilen in Welten und Parallelwelten wiederfindet. Entsprechend gilt es „Gesprächs-Inseln“ für Gespräche, Austausch und Kommunikation zu schaffen, mobil zu sein und sich vernetzen, wo Verstehen und Angehen eines gemeinsamen Weges anstehen. „Doppeltes Bewusstsein“ aus der Welt des Glaubens und der Welt des Wissens kann dabei Orientierung geben und zur Problembewältigung helfen.Zustimmen kann ich den Worten eines Bekannten, der meinte: „Die Wirklichkeit ist für mich eine, die im Widerspruch ruht und zugleich sich bewegt. In meinem Bewusstsein gibt es zwei Parallelwelten, eine Welt des Glaubens und eine Welt des Wissens; stetig bedürfen sie des Austausches und der Ergänzung.Hilfreich sind mir dafür die Welt-Sicht der Philosophen mit ihrer Wurzel bei den Griechen und die der Theologen im biblischen Zuhause von Gottes Gegenwart und Begleitung. Beide Wirklichkeiten verheißen Zuversicht, es gibt einen gemeinsamen Weg.“

Persönlich und lebensgeschichtlich ist heute in der Moderne von jedem/jeder in Freiheit eine Entscheidung zu treffen für die eine oder andere der beiden Lebens-Deutungen > Leben mit Gott oder ohne Gott, des Glauben oder des Wissen samt ihrem jeweiligen Wahrheits- und Absolutheits-Anspruch, oder man verharrt in der Unentschiedenheit, und bleibt beiden ausgesetzt. Im Widerspruch gilt es letztlich eine abwägende Entscheidung zu treffen, um inmitten der Paradoxien dieser Welt einen ‚roten Lebensfaden’ mit Geist und Herz zu behalten! Weltanschaulich ermöglicht diese Lebens-Entscheidung ‚im Paradox’ für den ‚Glauben’ oder das ‚Wissen’ eine existentielle Sicherheit, und man baut dann seine persönliche Lebens-Sicherheit gleichsam auf den Fels des Wissens oder des Glaubens. Mit Vernunft werden dank der ‚Doppel-Logik’ beide verstanden, und letztlich kann jeweils die andere alternative, widersprechende Überzeugung komplementär weiterführen, und man muss sie weder verneinen, geschweige denn bekämpfen. Glauben und Wissen beweisen sich mittels „existentieller Dialektik“ im doppel-logischen Bewusstsein als „geordneter Widerspruch“ mit Zukunft.

(ej, 22.4.2014; 1.9.2015)

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Wohin ich seh’ und geh’ … wie hier in Warschau / Polen,

wie einst, von Dr. Faustus erlebt, im „Auerbachs Keller“ oder heute sonst wo,

wir stecken, ob wir wollen oder nicht, im WIDERSPRUCH fest oder frei

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* nach Wikipedia > Ein Paradox(on) (auch Paradoxie, Plural Paradoxien oder Paradoxa, von altgriechisch παράδοξον aus παρά para ‚neben‘, ‚außer‘, ‚daran vorbei‘ und δόξα doxa ‚Meinung‘, ‚Ansicht‘) ist eine Aussage, die scheinbar einen unauflösbaren Widerspruch enthält. Es existieren verschiedene spezielle Formen des Paradoxons. Davon sind diese beiden nach Meinung des Autors von Bedeutung: a, logische Paradoxa – Widersprüchlichkeit als Folge der Negation von Selbstbezüglichkeit d.h. eine auf sich selbst anwendbare Aussage wird durch eine andere Annahme negiert z.B. des Glaubens gegenüber dem Wissen bzw. des Wissens gegenüber dem Glauben; b, metaphysische Paradoxa –Phänomene, die mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht begreifbar sind oder sich der Begreifbarkeit prinzipiell entziehen. Hierzu gehört die Frage nach der Endlichkeit beziehungsweise der Unendlichkeit von Raum und Zeit. Ein unendliches Universum scheint dem gesunden Menschenverstand ebenso zu widersprechen wie beispielsweise ein endliches – „Alles muss doch zu irgendeinem Zeitpunkt angefangen haben.“ – „Aber was war dann davor?“. Gemeinsam ist allen Paradoxa der Widerspruch zwischen dem Behaupteten einerseits und den Erwartungen und Beurteilungen andererseits, die sich aus vertrauten Denkheuristiken, Vorurteilen, Gemeinplätzen, Mehrdeutigkeiten oder begrenzten Perspektiven als alltägliche Meinung (doxa) ergeben. Auch scheinbare Widersprüche, die sich durch genauere Analyse vollständig auflösen lassen, wirken daher im ersten Moment paradox oder galten im Laufe der Geistesgeschichte als unlösbare Paradoxa oder Aporien, siehe z.B. Aristoteles: Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch